Bernhard Schlink im Interview zu Sterbehilfe - „ Bei Suizid quält uns immer die Warum-Frage “

Die Anerkennung des Grundrechts auf Selbsttötung fordert der Jurist und Autor Bernhard Schlink schon lange. Nun hat das Bundesverfassungsgericht ihm Recht gegeben, und der Bundestag muss die Sterbehilfe neu regeln. Schlink kritisiert, wie restriktiv die Vorschläge der Abgeordneten sind. Denn wer sich in Freiheit zum Tod entscheidet, darf sich töten, und er darf sich dabei auch helfen lassen. Auch wenn uns sein Tod noch so traurig zurücklässt.

Bernhard Schlink tritt für einen liberaleren Umgang mit der Sterbehilfe ein / Foto Maurice Weiss
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Autoreninfo

Volker Resing leitet das Ressort Berliner Republik bei Cicero. Er ist Spezialist für Kirchenfragen und für die Unionsparteien. Von ihm erschien im Herder-Verlag „Die Kanzlermaschine – Wie die CDU funktioniert“.

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Bernhard Schlink ist emeritierter Professor für Öffentliches Recht und Rechtsphilosophie an der Berliner Humboldt-Universität. International bekannt wurde er mit seinem Bestseller „Der Vorleser“. Zuletzt erschien von ihm der Roman „Die Enkelin“.

Herr Schlink, in einer Ihrer neuen Erzählungen wird die Trauer eines Mannes über den Tod seines Bruders beschrieben, der sich selbst das Leben genommen hat. Was ist anders an der Trauer nach einem Suizid als an der Trauer nach einem natürlichen Tod?

Bernhard Schlink: Es stellt sich die Frage nach dem Warum. Stirbt jemand in hohem Alter oder nach langer Krankheit, stellt sie sich nicht. Man hat die Krankheit oder das Alter miterlebt, hat den Tod kommen sehen, und der Tod hat in gewissem Sinn seine Richtigkeit. Bei einem Suizid fragt man sich: Warum hat der Mensch das gemacht, was hat ihn dazu gebracht? Und was habe ich beigetragen, was habe ich versäumt? Die Trauer hat ein schmerzhaftes Moment des Inquisitorischen. 

Das Thema Suizid und Sterbehilfe beschäftigt nicht nur den Schriftsteller Bernhard Schlink, sondern auch den Juristen. Woher kommt Ihr Interesse?

Vielleicht beschäftigt es den Schriftsteller und den Juristen auch, weil sich die Schwester und der Bruder meiner Mutter, Schweizer wie sie, in hohem Alter mit dem Sterbehilfeverein Exit das Leben genommen haben. Die Schwester konnte nicht mehr alleine leben, hätte in ein Heim ziehen müssen und wollte diesen neuen Lebensabschnitt mit Anfang 90 nicht mehr beginnen. Der Bruder, auch er Anfang 90, hatte drei leichte Schlaganfälle und wollte, weil nach einem Schlaganfall der nächste richtig schlimme Folgen zu haben droht, sich dem vierten und dessen Folgen nicht aussetzen. Die Entscheidungen wurden in Freiheit getroffen und in Würde vollzogen. 

Hatten Sie den Impuls, Ihre Tante oder Ihren Onkel umstimmen zu wollen?

Zu meiner Tante hatte ich eine besonders vertraute, besonders liebevolle Beziehung. Sie fragte mich, ob ich sie durch ihre letzten Stunden begleiten würde. Ich habe ihr gesagt, wie stark sie doch sei, was das Leben ihr noch alles biete, wie lieb ich und die Familie sie hätten. Ich habe gesagt, was zu jemandem, der sich das Leben nehmen will, zu sagen nicht falsch ist, aber was ihr nicht gerecht wurde. Ich war zu jung, hinter der gängigen Perhorreszierung des Suizids ihre Situation zu sehen. So habe ich sie nicht begleitet, sondern ihr Bruder. Mir tut das bis heute leid. 

Das ist Ihre persönliche Motivation für das Thema, was interessiert den Juristen? 

Wenn mein Münsteraner Kollege Bodo Pieroth und ich an einer Neuauflage unseres Lehrbuchs zu den Grundrechten gearbeitet haben, hat uns immer wieder die damals kontrovers diskutierte Frage beschäftigt, ob es ein Recht gibt, sich das Leben zu nehmen. Wir haben das Recht in Artikel 2 Absatz 2 Satz 1 Grundgesetz, im Recht auf Leben, verankert gesehen. Bei den Grundrechten schließt die positive Freiheit die negative Freiheit ein; mit der Freiheit, eine Meinung zu äußern, ist man auch frei, keine Meinung zu äußern, mit der Freiheit, einen Beruf zu wählen, auch frei, keinen Beruf zu wählen. So haben wir mit dem Recht auf Leben auch das Recht gewährleistet gesehen, sich das Leben zu nehmen. 

Ein spektakuläres Grundsatzurteil des Bundesverfassungsgerichts von vor zwei Jahren macht jetzt eine gesetzliche Neuregelung notwendig. Was hat sich aus Ihrer Sicht mit dem Urteil geändert?

Das Bundesverfassungsgericht fand die Diskussion um das Recht auf Selbsttötung vor und hat geklärt, dass das Recht im Grundgesetz verbürgt ist. Es hat diesem Recht sogar noch ein tieferes Fundament gegeben, als Bodo Pieroth und ich es in Artikel 2 gefunden hatten; es sieht als Fundament Artikel 1 Absatz 1 Satz 1, die Unantastbarkeit der Würde des Menschen

Das Gericht hat das Verbot der geschäftsmäßigen Sterbehilfe aufgehoben, warum?

Es hat es aufgehoben, weil die geschäftsmäßige Sterbehilfe die einzige realistische Möglichkeit war, Sterbehilfe zu bekommen. Das Verbot hatte also das in der Würde des Menschen grundgelegte Recht, sich das Leben zu nehmen, das auch das Recht einschließt, sich dabei helfen zu lassen, um die Möglichkeit seiner Verwirklichung gebracht. Das Bundesverfassungsgericht hat es aber bei der Aufhebung des Verbots nicht bewenden lassen. 

Warum sieht das Gericht überhaupt eine Notwendigkeit einer Regelung? 

Weil der Staat Verantwortung für das Leben hat, muss er dafür sorgen, dass die Entscheidung, sich das Leben zu nehmen, in Freiheit getroffen wird, selbstbestimmt, autonom. Und es hat Vorgaben für die Regelung gemacht, die auf Achtung des Sterbewunschs, ärztliche Kompetenz, umfassende Information und Beratung setzen – Vorgaben, die die Verantwortung der beteiligten Ärzte und anderen Beratenden anerkennen und ein offenes Verfahren erlauben, in dem die verschiedenen Verantwortungen zusammenspielen und einander ergänzen. 

Sie bemängeln alle derzeit im Bundestag diskutierten Vorschläge. Was ist der Kern Ihrer Kritik? 

Die Vorschläge, die im Bundestag diskutiert werden, sind unnötig und unangemessen restriktiv, setzen auf Behörden, detaillierte Regelungen durch Rechtsverordnungen, strafrechtliche Verbote. Es macht den Eindruck, als reagiere der Bundestag verärgert und trotzig darauf, dass das Bundesverfassungsgericht ihm das wenige Jahre davor beschlossene strafbewehrte Verbot der geschäftsmäßigen Sterbehilfe genommen hat. Der Vorschlag von Lars Castellucci hält am strafbewehrten Verbot der geschäftsmäßigen Sterbehilfe so verbissen fest, dass er nicht sieht, dass das Bundesverfassungsgericht nicht nur die geschäftsmäßige, sondern jede Sterbehilfe zu regeln gefordert hat. 

Was sollte denn Ihrer Meinung nach passieren?

Die Vorgaben des Bundesverfassungsgerichts sind klar. Der Staat muss gewährleisten, dass Zugang zu einem Medikament zur Selbsttötung nur bekommt, wer seinen Entschluss zur Selbsttötung in Freiheit trifft, nicht unter dem Einfluss einer akuten psychischen Störung, nicht unter dem Druck seines familialen oder sozialen Umfelds, in Kenntnis von Alternativen zum Suizid, sei es eine Veränderung der Lebenssituation, eine medizinische Behandlung oder eine palliativmedizinische Betreuung, und auch in Kenntnis des Ablaufs des Suizids; dafür bedarf es der Beratung, die sich auch vergewissert, dass am Entschluss über eine gewisse Dauer festgehalten und dadurch dessen Ernsthaftigkeit und Festigkeit bewiesen wird. Das sind die Vorgaben, nicht weniger, aber auch nicht mehr.

Das bedeutet aber schon, dass es eine Art Kontrolle und Begrenzung gibt. Wie sieht genau Ihr Vorschlag aus?

Der Vorschlag, an dessen Erarbeitung im Berliner Institut für Religion und Politik ich beteiligt war, geht dahin, dass wer sich selbst töten will, sich als Erstes an den Arzt seines Vertrauens wendet und sich von ihm beraten lässt. Beratung verspricht nur einen Ertrag, wenn sie in einer Atmosphäre des Vertrauens stattfindet, und der Arzt des Vertrauens ist der natürliche erste Ansprechpartner für den Sterbewilligen. Er mag frei praktizierender Arzt, Arzt in einem Krankenhaus, einer Einrichtung der freien Wohlfahrtspflege oder einer staatlichen Einrichtung sein. Zu einem zweiten Beratungstermin zieht der Arzt des Vertrauens einen oder auch mehrere weitere Beratende hinzu, je nach Befinden und Situation des Sterbewilligen einen Psychiater, einen Psychotherapeuten, einen Palliativmediziner, einen Sozialpädagogen, einen Pfarrer oder wen auch immer. Er mag mit diesen weiteren Beratenden ad hoc oder regelmäßig oder, weil in derselben Einrichtung beschäftigt, ständig zusammenarbeiten. 

Was passiert nach der Beratung?

Die Beratungen werden protokolliert. Bestätigt das Protokoll die Freiheit des Entschlusses zur Selbsttötung, kann ein weiterer Arzt gegen seine Vorlage das Rezept für das Mittel zur Selbsttötung ausstellen, wenn seit der zweiten Beratung mindestens vier Wochen vergangen sind und sich das Befinden oder die Situation des Suizidwilligen nicht geändert hat. Der Arzt vermerkt die Ausstellung des Rezepts auf dem Protokoll und hinterlegt es bei der Ärztekammer. Diesen Arzt mögen die Suizidwilligen selbst oder über den Arzt ihres Vertrauens finden. Krankenhäuser, Einrichtungen der freien Wohlfahrtspflege, staatliche Einrichtungen und auch Sterbehilfevereine können dem Suizidwilligen Angebote für eine Begleitung der Schritte auf dem Weg von der ersten Beratung bis zum Erhalt des Rezepts machen.

Aber was ist das Ziel der Gespräche?

In den Beratungen gilt es herauszufinden, ob der Sterbewillige sich in der Freiheit entscheidet, die das Bundesverfassungsgericht für die Entscheidung, sich das Leben zu nehmen, fordert und die es in seinen Vorgaben beschreibt, also nicht unter dem Einfluss einer akuten psychischen Krise, nicht unter Druck, nicht in Unkenntnis wichtiger Faktoren – wir sprachen gerade darüber. Dabei hat die Beratung von der Selbsttötung nicht ab-, zu ihr aber auch nicht zuzuraten, sie hat die Motive des Sterbewilligen nicht zu kritisieren. 

Sie kritisieren an den anderen Vorschlägen, dass diese zu restriktiv seien. Wieso?

Zu restriktiv sind sie, indem sie Anträge bei einer Behörde, schriftliche Erläuterungen des Selbsttötungsentschlusses gegenüber der Behörde, Belehrungen durch die Behörde, schriftliche Bestätigungen des Selbsttötungsentschlusses gegenüber der Behörde, mehrere Beratungen durch behördlich überprüfte, anerkannte und zugelassene Beratungsstellen oder durch nach Maßgabe einer zu erlassenden Rechtsverordnung besonders qualifizierte oder auch durch Strafe bedrohte Ärzte verlangen. Das hat mit den Vorgaben des Bundesverfassungsgerichts nichts mehr zu tun und kann nur als Versuch verstanden werden, von der Selbsttötung abzuhalten, nicht aber als Verfahren, das in der Beratung den Entschluss zur Selbsttötung achtet und lediglich beurteilt, ob er in Freiheit getroffen wird. Dafür braucht es eine vertrauensvolle Beratung, und für diese ist der Arzt des Vertrauens der erste und geeignetste Ansprechpartner.

Suizid ist in Deutschland ja nicht strafbar. Es geht also um die Sterbehilfe. Wieso soll der Staat, der das Leben schützen muss, jetzt die Selbsttötung organisieren?

Der Staat ist verpflichtet, sowohl das Leben als auch das in der Würde des Menschen grundgelegte Recht, sich das Leben zu nehmen, zu schützen. Er tut beides zugleich, indem er dafür sorgt, dass der Mensch sich das Leben nur in Freiheit nimmt. Das geht nicht ohne Verfahrens-, ohne organisatorische Vorkehrungen, deren Zentrum das Bundesverfassungsgericht in der Beratung sieht. Es versteht sich, dass es eine Beratung sein muss, bei der Aussicht darauf besteht, dass der Sterbewillige sich öffnet und sein Befinden und seine Situation umfassend darlegt. Die Aussicht besteht nur dann, wenn die Beratung in einer Atmosphäre des Vertrauens stattfinden kann, wie sie bei einem Gespräch mit dem Arzt des Vertrauens besteht – nicht bei einer staatlich verordneten Beratungsstelle.

Aber der Staat muss für die Beurteilung geradestehen. Was ist, wenn der Arzt sich in seiner Einschätzung geirrt hat? Bei der Selbsttötung liegt die Irreversibilität in der Natur der Sache. Fehler gibt es immer. Wie viel Irrtum, wie viele falsche Einschätzungen des freien Willens muss der Staat ertragen, um die Freiheit zu schützen? 

Bei welchem menschlichen Handeln wären Fehler schlechterdings vermeidbar? Es kann hier doch nur darum gehen, wem eine richtige Einschätzung von Befinden, Situation und Freiheit des Sterbewilligen eher zuzutrauen ist, dem Bediensteten einer Behörde oder dem Arzt des Vertrauens, der, ich erinnere daran, nicht alleine, sondern zusammen mit anderen Beratenden entscheidet. Und was noch die Gefahr des Missbrauchs angeht: Bei dem Vorschlag, an dem ich beteiligt war, stellt die Hinterlegung des Protokolls bei der Ärztekammer sicher, dass die beteiligten Ärzte bei Anhaltspunkten für Missbrauch zur Rechenschaft gezogen werden können.

Kommen wir da nicht zwingend in den Bereich des Strafrechts, wenn ein freier Wille falsch festgestellt wurde und jemand tatsächlich unter Druck zur Selbsttötung gebracht wurde?

Das Strafrecht ist, wie das Bundesverfassungsgericht wiederholt festgestellt hat und in der Verfassungsrechtswissenschaft anerkannt ist, Ultima Ratio des Rechtsgüterschutzes. Ob sein Einsatz gegen die geschäftsmäßige Sterbehilfe geboten ist, musste das Bundesverfassungsgericht nicht prüfen, es äußerte aber ausdrücklich seine Zweifel. Dass eine Regelung der Sterbehilfe des Strafrechts nicht bedarf und dass dessen Einsatz unverhältnismäßig wäre, zeigt sich schon daran, dass zwei der drei im Bundestag diskutierten Vorschläge darauf verzichten.

Es gibt Erfahrungen mit der Sterbehilfe aus den Niederlanden. Wir haben dort steigende Zahlen, weil die gesellschaftliche Akzeptanz des Suizids steigt, und die Akzeptanz gegenüber Personen, die stark pflegebedürftig sind, zu sinken scheint. Verstehen Sie die Sorge vor solch einer gesellschaftlichen Entwicklung?

Ich verstehe sie, das Bundesverfassungsgericht versteht sie, mein Eindruck ist, dass sie überall, wo die Sterbehilfe Thema ist, ernst genommen wird. Deshalb ist die Beratung so wichtig, in der geklärt wird, ob es Druck der Familie oder des sozialen Umfelds gibt, sich das Leben zu nehmen. Deshalb ist eine Regelung so wichtig, die die Beratung starkmacht. 

Durch eine neue Regelung wird das Thema Suizid weiter enttabuisiert. Und so wird es zunehmend akzeptiert, sich das Leben zu nehmen? 

Dass sich das Verhältnis zum Sterben, zur Selbsttötung und zur Sterbehilfe wandelt, sehen wir in den meisten Ländern, die unserem Land vergleichbar sind. Die Regelungen reagieren auf diese Wandlung. Sie erzeugen sie nicht – so gesellschaftlich wirkmächtig sind Regelungen nicht.

Dennoch gab und gibt es den gesellschaftlichen Impuls, Suizide durch Präventionsarbeit verhindern zu wollen. Ist das richtig?

Ja. Niemand soll sich in einer akuten psychischen Krise oder unter Druck oder weil er keinen Ausweg sieht, wo es doch Auswege gibt, oder weil er keinen Zugang zu medizinischer oder palliativmedizinischer Hilfe hat, selbst töten. Der gesellschaftliche Impuls, dies zu verhindern, ist richtig, und an ihm wird sich auch nichts ändern. Aber es gibt auch Situationen, in denen der Entschluss, sich das Leben zu nehmen, um der Würde des Menschen willen zu achten ist. Und Achtung heißt, dem zur Selbsttötung Entschlossenen die Verwirklichung des Entschlusses auch zu ermöglichen, auf würdige, schmerzfreie Art, in selbst gewählter Umgebung. 

In früheren Zeiten war doch der Suizid tabuisiert, etwa auch religiös.

Zugleich war es in früheren Zeiten einfacher, sich selbst zu töten. Man hatte eine Pistole oder ein Gewehr zu Hause, man kam leichter an Opium, an Schlafmittel, an Gifte aller Art. Dass die Mittel des Suizids so reduziert sind, ist eine moderne Entwicklung.

Die Caritas-Präsidentin Eva Maria Welskop-Deffaa warnt davor, dass wir uns an den Suizid als eine normale Sterbeform gewöhnen. Widerspruch? 

Ich verstehe nicht recht, was die Caritas-­Präsidentin sagen will. Was Teil unserer Wirklichkeit ist, müssen wir als Teil unserer Wirklichkeit zur Kenntnis nehmen – was denn sonst? Wir müssen zur Kenntnis nehmen, dass Suizide passieren, dass sich in der Gesellschaft ein neues Verhältnis zum Sterben, zum Suizid und zur Sterbehilfe entwickelt hat, dass das Recht, sich das Leben zu nehmen, als in der Würde des Menschen grundgelegt erkannt wurde. Damit müssen wir umgehen, und den Gefahren, die sich dabei bieten, müssen wir durch eine Regelung zu begegnen versuchen. 

In Ihrem Vorschlag gestehen Sie den Kirchen zu, den Lebensschutz zu predigen, aber Sie appellieren zugleich an die Pflicht zur Seelsorge. Können Sie denn das christliche Festhalten an der unbedingten Lebensbejahung um den Preis der Freiheitseinschränkung nachvollziehen? 

Ich verstehe es – wie lange hat die katholische Kirche gebraucht, die Freiheiten, die zur Demokratie gehören, als legitim anzuerkennen! Ich verstehe auch, wenn Christen sich nicht berechtigt sehen, sich das Leben, das Gott ihnen geschenkt hat, zu nehmen. Und es ist gewiss Aufgabe der Kirchen, für den Wert und den Schutz jedes Lebens und dafür einzutreten, dass Menschen nicht nach ihrem Nutzen bewertet werden. Aber ich sehe nicht, warum dies die Kirchen davon abhalten sollte, sich an den Beratungen Suizidwilliger zu beteiligen. Ich halte es vielmehr für ihre seelsorgerliche Pflicht.

Wie bewerten Sie selber diese Vorstellung als evangelischer Christ, nach der das Leben ein Geschenk Gottes ist, über das ich nicht selber verfügen darf. 

Ich verstehe, dass Christen das so sehen. Ich sehe es auch als Christ nicht so. 

Ist eine Einschränkung von Freiheit etwas, was die Folge eines christlichen Glaubens sein kann? 

Der Christ, aber nicht nur der Christ, sondern jeder, der seiner moralischen Verantwortung genügen will, versagt sich Freiheiten, die ihm die Grundrechte zugestehen. Lüge, Betrug, Verrat sind unmoralisch, auch wo sie nicht strafbar sind. Der Christ, der seine Ehe auch vor Gott führen will, versagt sich Seitensprünge, zu denen er rechtlich die Freiheit hat. Aber darüber, dass nicht alles, was Menschen sich um ihres christlichen Glaubens oder ihrer moralischen Überzeugung willen versagen, vom Staat verboten werden kann, müssen wir doch wohl nicht reden, grundsätzlich nicht und auch nicht, wenn es um Sterbehilfe geht.

Dann ist die Einschränkung von Freiheit juristisch falsch, aber sie kann zu einem glücklicheren Leben führen?

Autonomie heißt, unter Gesetzen zu leben, die wir uns selbst geben. Wir leben nicht nur unter den Gesetzen des Staates, sondern auch unter Gesetzen, die wir uns selbst geben – das ist Freiheit, und wir wissen es spätestens seit Immanuel Kant. 

Sie haben neulich darauf hingewiesen, dass der Gottesbezug in der Verfassung daran erinnere, „dass Verantwortung vor den Menschen immer wieder zu kurz greift“. Braucht es nicht auch eine politische Demut gegenüber dem Leben, eine Demut der menschlichen Freiheit gegenüber, deren Grenzen sich letztlich nicht bestimmen und regeln lassen?

Dass die Verantwortung vor den Menschen, den Menschen des Hier und Jetzt, immer wieder zu kurz gegriffen hat und immer wieder zu kurz greift, sehen wir am Klimawandel überdeutlich. Dass wir es sehen, kann uns der Verantwortung vor den Menschen nicht entbinden, es kann uns nur vor der Überschätzung unseres Wissens und Könnens warnen und Behutsamkeit beim Umgang mit dem, was uns verfügbar ist, lehren – die Behutsamkeit im Umgang mit Natur und Umwelt haben wir zum Beispiel viel zu spät gelernt. Beim Umgang mit der Sterbehilfe, die sowohl dem Lebensschutz als auch dem Freiheitsschutz verpflichtet ist, weiß ich nichts Bescheideneres und Behutsameres als das Setzen auf Beratung. 

Überfordert es nicht eine menschliche Gemeinschaft im Kern, wenn sie Tötungen organisieren soll?

Mit der Regelung der Sterbehilfe organisiert unsere Gesellschaft doch nicht Tötungen! Sie versucht lediglich, dafür zu sorgen, dass nur der sich beim Suizid helfen lassen kann, der sich in Freiheit zum Suizid entschlossen hat. Was hier organisiert wird, ist Beratung – Beratung zum Handeln in Freiheit in einer Situation auf Leben und Tod. 

Zurück zu Ihrer Erzählung: Die Hauptfigur beklagt, dass seine Traurigkeit „sich nicht in einen Strom aus Tränen“ entladen kann. Aber ist das nicht die Folge einer Legalisierung der Sterbehilfe, dass wir unfähig gemacht würden, über den Tod dieser Menschen zu weinen, weil wir ihn ja ermöglicht haben? 

Sie sprechen von Legalisierung der Sterbehilfe – darum geht es nicht. Selbstbestimmtes Sterben, sich dabei helfen zu lassen und anderen dabei zu helfen, ist legal. Es geht nur darum, durch eine Regelung zu gewährleisten, dass das selbstbestimmte Sterben in Freiheit geschieht. Warum sollten wir, wenn es geschieht, unfähig zur Trauer sein? Wir sprachen eingangs darüber, dass bei jedem Suizid zur Trauer die Warum-Frage kommt. Mit dem Suizid uns naher Menschen kommen wir nicht leichter, sondern schwerer zurecht als mit ihrem natürlichen Tod. Er schmerzt nicht weniger, wir trauern nicht weniger, und wir quälen uns überdies mit der Frage nach dem Warum.

Das Gespräch führte Volker Resing.

Dieser Text stammt aus der Juni-Ausgabe des Cicero, die Sie jetzt am Kiosk oder direkt bei uns kaufen.

 

 

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