Basar der Stillosigkeiten - Warum verstehen die Deutschen nichts von Mode?

Als Inkubator möglicher Modetrends ist Deutschland eine klassische Fehlbesetzung. In keinem anderen Land Europas – vielleicht sogar der Welt – sind die Menschen geschmackloser gekleidet als hierzulande.

Berlin kann es einfach nicht: Eindruck von der „deals.com Fashion Challenge Summer Festival 2014“ / dpa
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Autoreninfo

Dr. phil. Dominik Pietzcker studierte Philosophie, Geschichte und Germanistik. Von 1996 bis 2011 in leitender Funktion in der Kommunikationsbranche tätig, u.a. für die Europäische Kommission, Bundesministerien und das Bundespräsidialamt. Seit 2012 Professur für Kommunikation an der Macromedia University of Applied Sciences, Hamburg. Seit 2015 Lehraufträge an chinesischen Universitäten.

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In der Groteske „Die Hose“ von 1911 schreibt der deutsche Dramatiker Carl Sternheim sarkastisch: „Unmaß, Traum, Phantasien im Leib, nach außen Liederlichkeit und Verwahrlosung.“ Ganz egal, wie sich die Menschen hierzulande kleiden, alltäglich oder festlich, sorgsam oder nachlässig, das Ergebnis aller modischen Bestrebungen ist stets dasselbe. Es ist, in einem Wort, desaströs. Denn die Deutschen können sich einfach nicht anziehen. Sie konnten es noch nie.  

Geld kauft keinen Geschmack 

Zwar wird hierzulande ein Vermögen für Mode ausgegeben, aber – anders als im restlichen Europa – nur sehr wenig pro Bekleidungsstück. In Deutschland trifft die Mentalität des Schnäppchenjägers auf den Habitus der in früher Kindheit verinnerlichten Sparsamkeit. Eine modisch verheerende Mischung aus kapitalistischer Gier und protestantischem Geiz, die wenig geeignet ist, dem eigenen Auftreten ästhetische Souveränität zu verleihen. Hose, Ledergürtel, Hemd, Sakko: Warum sieht das Ergebnis dieser ebenso schlichten wie klassischen Kombination vollkommen anders aus, je nachdem, ob sie in Pöseldorf oder Palermo, Bielefeld oder Bordeaux getragen wird?

Nein, es sind nicht die Figur, das Alter oder die Wahl des Friseurs, die den Unterschied machen, auch nicht das Portemonnaie, sondern die vollkommene Abwesenheit einer unschuldigen Freude am Schönen. Ästhetik als Kraft- und Willensakt, nicht als normative Sinnlichkeit: Die Deutschen hatten noch nie den Ruf, kultivierte Schönheitsjünger zu sein. Aber hatten sie in all den Jahrzehnten ungestörter Wohlstandsmehrung nicht genügend Zeit, Gelegenheit und Muße, dieses Vorurteil, wenn es denn eines ist, zu widerlegen? Es ist ihnen bis heute nicht gelungen.  

Sommer in der großen Stadt 

Sobald die Tage länger werden, fallen die Hüllen. Flipflops, Shorts und Tanktops geben den Blicken preis, was während trüber Wintermonate noch gnädig verborgen geblieben war. Nein, es geht nicht nur um die sprichwörtlichen Socken und haarigen Männerwaden, sondern um das disproportionierte Gesamtbild. Farben, Formen, Schnitte: Nichts sitzt, alles quillt über oder wird, im Gegenteil, unter Stoffmassen begraben. Auch das größte Logo täuscht nicht über den Mangel an ästhetischer Orientierung hinweg.

Die Tatsache, dass ein französischer Luxuskonzern die Marke Birkenstock aufgekauft hat, adelt noch lange nicht die deutsche Sandale. Ugly chic? Selbst Franzosen können manchmal modisch irren. Apropos, wer je ein Foto von Emmanuel Macron gesehen hat, wie er etwa neben einem deutschen Spitzenpolitiker steht, dem geht kulturell ein Licht auf. Eleganz ist primär eine Sache innerer Haltung, Kleidung lediglich ihr äußerliches Attribut. 

Ein deutscher Sonderweg? 

Besondere Erwähnung verdienen an dieser Stelle die wagemutigen Versuche, zugleich deutsch und modisch zu sein. Experimentallabor für diese ungewöhnliche Verbindung ist bekanntlich seit drei Jahrzehnten Berlin. Im Vereinigungshype sind in der deutschen Hauptstadt zwar etliche Modelabels und -messen entstanden, aber die meisten auch wieder, und verdientermaßen, zugrunde gegangen. Global durchgesetzt hat sich keine. Wie denn auch?

 

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Während in Frankreich und Italien jeweils ein Viertel der Wirtschaftsleistung im Mode- und Lifestylesegment erbracht wird, sind es in Deutschland unter zehn Prozent. Deutsche Mode als Trendsetter spielt international bestenfalls eine Nebenrolle. Sie ist, verglichen mit der deutschen Maschinenbau- und Automobilindustrie, ein wirtschaftliches Nischensegment. Zuverlässigkeit, Präzision, Robustheit. Auch das sind Werte, und vielleicht sollte man wieder lernen, sich mit ihnen zu bescheiden.  

Doch selbst in der Mode gibt es mittlerweile andere als bloß ästhetische Akzente. Nachhaltigkeit zum Beispiel, das passt wunderbar zum politischen Mainstream, aber leider so gar nicht in den Kleiderschrank. Moral hat zwar hierzulande immer Hochkonjunktur, aber mit Mode noch weniger zu tun als Berlin mit Mailand. Das Frivole, das Luxuriöse, das Vitale und Lebenslustige verträgt sich nicht mit einer wahlweise schmallippigen oder outrierten Grundmentalität. Die deutsche Hauptstadt ist allenfalls ein Vorort der globalen Fashionindustrie, der berühmt-berüchtigte Berliner Street Style nur ein zynischer Euphemismus ihrer Armut. Was Charles Bukowski in der Literatur, das ist Berlin in der Mode: nicht zur Nachahmung empfohlen. 

Guter Geschmack bleibt Importartikel 

Ein kleines Sprachexperiment zum Abschluss. Bitte versuchen Sie, für die folgenden drei Begriffe Entsprechungen im Deutschen zu finden: Raffinesse, Eleganz, Stil. Vergebliches Unterfangen, es gibt diese Begriffe im deutschen Sprachraum lediglich als Lehnwörter. Modebewusstsein muss noch immer aus anderen Ländern Europas importiert werden, wofür sonst gibt es das Schengener Abkommen? Es ist also mit der deutschen Mode wie mit der deutschen Politik – die Zeitenwende lässt in Wirklichkeit weiter auf sich warten. Bleiben wir geduldig, Kleinkunst, Sozialstaat und Autobahnen sind schließlich auch zivilisatorische Errungenschaften, wenn auch von anderer Art.  

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