Barbara Vinken - Die Opernverführerin

Niemand seziert so schlau Deutschlands Liebe zu Funktionskleidung wie die Romanistin Barbara Vinken. Nun betreibt sie Ehrenrettung für Carmen, Lulu und andere Diven.

Barbara Vinken hat in der Oper einen Ort der Emanzipation gefunden / Verena Brüning
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Andrea Hanna Hünniger, geboren 1984 in Weimar, ist Journalistin und Buchautorin.

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Verlässt man ihre drei Prachtstraßen, sieht die Stadt München im Grunde einfach nur zerbombt aus. Schlecht aufgebaut, letztlich beerdigt. Oder wie man in der Oper sagt, wenn die Hauptdarstellerin nach dem dritten Tod schon wieder aufsteht, um erneut eine Arie zu trällern: „Wann stirbt die denn endlich?“ So bäumt sich auch München im Frühling gegen das Nichts. Kaum zu glauben, dass die Mietpreise durch die Decke schießen. Wie in der Oper zahlt man hier viel, um das Schlimmste zu erleben. 

Und jetzt stellt man sich Barbara Vinken vor. Wie sie diese überteuerte, sich immer wieder gegen den ästhetischen Tod stemmende Stadt durchschreitet. So gut gelaunt. Extrem charmant. Jeder Satz ein Lächeln. Mit einem scharfen, eisblauen schlauen Blick unter einer übertrieben großen Fellmütze.

Beobachterin der Deutschen

Vinken, bekannt geworden mit „Die deutsche Mutter. Der lange Schatten eines Mythos“ und „Angezogen“, einem Buch über die Sprengkraft der Mode, ruft deutsche Sehnsüchte auf und deutsche Schrecken. Niemand seziert so schlau Deutschlands ungebrochene Liebe für Funktionskleidung. Keine benennt so präzise die deutsche Vorliebe für das Sinnvolle – und den fehlenden Sinn für Sinnlichkeit, für feine Stoffe, kunstvolle Nähte, exquisite Schneiderkunst.

Ihre Ausgangsthese ist immer ein Fragezeichen. Zum Beispiel in ihrem ersten Bestseller „Die deutsche Mutter“: Warum ist es hier anders als sonst in der Welt? Lachend erzählt sie, wie sie im französischen Mittelmeer mit einer Freundin schwamm, die ihr erzählte, dass sie wieder schwanger sei. „In Frankreich fängt für Frauen die Karriere da an, wo sie in Deutschland aufhört.“ Mit dem Kinderkriegen. 

Manchmal scheint es, als baute Barbara Vinken, ältestes von fünf Kindern und Besitzerin einer Handyhülle von Louis Vuitton, aus ihren ganz privaten Vorlieben ein feministisches Bollwerk. Aber sie ergänzt sofort (Professor Vinken erhebt den Finger): „Es sind meine privaten Vorlieben, weil sie eine andere Form von Geschlechterpolitik verfolgen.“

Ein Ort der Emanzipation

Ihre ansteckende Euphorie hat sie nun einer weiteren Vorliebe gewidmet: der Oper. In „Diva – die etwas andere Opernverführerin“ schreibt sie, dass die Oper seit jeher bis ins 19. Jahrhundert alles andere sei als ein Korsett für Geschlechterrollen. Dass sie progressiv sei, Geschlechtergrenzen stets verwische und die Gleichung von Rolle und Geschlecht aufhebe. Sie sagt: „Die Oper ist Entnaturalisierung.“

Sie geht noch weiter: Auch das Frauenopfer in der Oper sei nicht etwa die künstlerische Überhöhung der Unterdrückung, sondern vielmehr eine Form der Emanzipation – auch wenn eine Bühne, auf der die Gilda in Giuseppe Verdis „Rigoletto“ erstochen und Norma im gleichnamigen Stück von Vincenzo Bellini verbrannt wird, in der allgemeinen Wahrnehmung eher als patriarchale Gewaltstätte gilt. Vinken argumentiert dagegen: „Die Männer mögen mit dem Leben davonkommen – aber nicht mit viel mehr. Ihr Ruf ist jedenfalls ruiniert. Fast kann man sagen, dass ‚Männlichkeit‘ in der Oper ein Schimpfwort ist.“

 

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Sie gibt ein Beispiel: Georges Bizets „Carmen“. Sie liest die Oper nicht als Feier eines Mordes aus Eifersucht, sondern als Anspielung auf die mythischen Opferrituale um die Große Mutter, in der sich Priester ihr zu Ehren selbst entmannt haben sollen. So ereigne sich in dieser spanischen Arena der Temperamente – entgegen den oberflächlichen Interpretationen – die Dekonstruktion maskuliner Allmacht. Oder Alban Bergs „Lulu“: „Mit Lulu zeigt die Oper eine Frau, die zu begehren heißt: im Blut zu schwimmen. Zu begehren heißt: kastriert – oder infiziert, gemordet zu werden.“

Im Kern Narzissmus

Auch in Mozarts „Zauberflöte“ brechen, so Vinken, „die Mann-Frau Tamino, das Mann-Tier Papageno, die Mann-Tier-Königin der Nacht und der Frau-Mann Pamina“ die Polarisierungen auf der Ebene von Geschlecht, Stand oder Spezies auf. „Die ,Zauberflöte‘ muss man also gegen den Strich ihrer Oberflächenideologie bürsten.“

Aber muss man als Frau wirklich sterben, um als Heldin zu gelten? Hat Edgar Allan Poe recht mit dem Satz, es gebe nichts Poetischeres als eine tote Frau? „Es geht nicht darum, dass wir in der Oper Vorbilder sehen sollten, die man nachmachen soll.“ Und wieder lacht sie.

Selbstermächtigung, sagt Vinken, liege nicht darin, aufzugeben, sondern Freiheit und Zwänge zu erkennen. Permanentes Abklopfen eigener Bedürfnisse sei nur die Überschätzung der Machbarkeit des Individuums. „Das Leben ist dann ein narzisstischer Trip.“ Zieht ihre pasternaksche Fellmütze etwas tiefer ins Gesicht und rauscht in eine trostlose Welt. Und geht, als hätte sie gerade einen frisch geangelten Fisch wieder ins Wasser geworfen.

 

Dieser Text stammt aus der Mai-Ausgabe des Cicero, die Sie jetzt am Kiosk oder direkt bei uns kaufen können.

 

 

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