Aufbruch nach der Flutkatastrophe - „Lost Barrels“: Das kleine Wein-Wunder an der Ahr

Mit Entsetzen hat unser Genusskolumnist seinerzeit die Flutkatastrophe an der Ahr verfolgt. Neulich hat er in Berlin zwei stark davon betroffene Winzerinnen getroffen, die mit einer ganz besonderen Aktion die Erinnerung wachhalten und den Ahrwein stärker in die Öffentlichkeit bringen wollen.

Weinberge rund um Bad Neuenahr-Ahrweiler / picture alliance
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Autoreninfo

Rainer Balcerowiak ist Journalist und Autor und wohnt in Berlin. Im Februar 2017 erschien von ihm „Die Heuchelei von der Reform: Wie die Politik Meinungen macht, desinformiert und falsche Hoffnungen weckt (edition berolina). Er betreibt den Blog „Genuss ist Notwehr“.

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Die Nacht vom 14. zum 15. Juli 2021 steht für eine der größten Naturkatastrophen der jüngeren deutschen Geschichte. Nach tagelangen, extrem starken Regenfällen schwoll die Ahr, ein normalerweise beschaulicher Nebenfluss des Rheins, zu einem reißenden Strom an, der eine regelrechte Schneise der Verwüstung durch das malerische Ahrtal zog.

136 Menschen verloren dort in dieser Nacht ihr Leben, mehr als 9000 Gebäude, über 100 Brücken und viele Straßen wurden zerstört oder stark beschädigt, 17.000 Menschen im Tal verloren ihr gesamtes Hab und Gut. Der Tourismus, eine der wichtigsten Säulen der Wirtschaft in dieser Region, kam faktisch zum Erliegen.

Wochenlang beherrschte diese Katastrophe die Schlagzeilen. Es gab eine große Welle der Hilfsbereitschaft, viele Freiwillige kamen ins Ahrtal, um bei den Aufräumarbeiten zu helfen, viele Millionen wurden bei Spendenaktionen für die Betroffenen gesammelt, und auch die Bundes- und die Landesregierung versprachen umfangreiche, schnelle und unbürokratische Hilfe. Ein Versprechen, das nur unzureichend eingelöst wurde, was alsbald auch zu großer Enttäuschung und Wut führte.

Folgen der Flut sind noch lange nicht bewältigt

Aber die Aufmerksamkeitsökonomie funktioniert nach unerbittlichen Gesetzen. Erst allmählich und dann immer deutlicher verschwanden die Katastrophe und ihre Folgen für viele Menschen aus den Schlagzeilen und spielen außerhalb des Bundeslandes Rheinland-Pfalz kaum noch eine Rolle.

Viele sind aus dem Ahrtal seitdem weggezogen, in der Verbandsgemeinde Altenahr waren es rund 1500 von einstmals 11.500 Einwohner, in Dernau sogar 600 von 1800. Für den Wiederaufbau zerstörter Häuser gibt es eine Sperrzone in unmittelbarer Flussnähe, und Bauland in der unmittelbaren Umgebung gibt es kaum. Noch immer ist die Infrastruktur nicht vollständig wiederhergestellt. Das betrifft Straßen, Brücken, Schulen, Kindertagesstätten und vieles andere mehr.

Desaster für die Ahr-Weingüter

Das Ahrtal ist nicht nur eine beliebte touristische Destination, sondern auch ein relativ kleines, aber dennoch sehr bedeutendes Weingebiet. Hier wachsen in den Steillagen entlang des Flusses einige der besten Rotweine Deutschlands. Zwar waren die Weinberge nur in vergleichsweise geringem Umfang von der Katastrophe betroffen, rund zehn Prozent der insgesamt 560 Hektar Weinbaufläche wurden schwer beschädigt, aber nur ein kleiner Teil davon ist auf Dauer für den Weinbau verloren.

 

Zuletzt in „Genuss ist Notwehr“ erschienen:

 

Aber viele Weingüter wurden komplett zerstört oder sehr stark beschädigt. Die Flut riss alles mit sich: Gutshäuser, Kelter- und Abfüllanlagen, Maschinenparks, Flaschenlager, Tanks und Fässer, in denen teilweise noch der Wein aus dem vorherigen Jahrgang ausgebaut wurde. Nicht mal Schläuche, Eimer oder Lesescheren waren noch vorhanden. Betroffen von den Schäden waren 96 Prozent aller Ahr-Winzer.

Aufgeben war „nie eine Option“

Doch ein Winzer kann nicht einfach umziehen und sich woanders eine neue Existenz aufbauen. Denn sein wichtigstes Kapital sind seine Weinberge, und die lassen sich schwerlich irgendwohin mitnehmen. Innerhalb der Branche gab es eine riesige Welle der Solidarität. Aus allen deutschen Weinbaugebieten kamen Kollegen, brachten Maschinen, Fässer und Werkzeuge und halfen auch tatkräftig bei der wenig später beginnenden Lese des aktuellen Jahrgangs und der Verarbeitung der Weine.

Zu den bekanntesten Betrieben der Ahr gehört das Weingut Meyer-Näkel in Dernau, dessen Spätburgunder auch international zur absoluten Spitze gehören. Der 1950 gegründete Familienbetrieb mit insgesamt rund 20 Hektar Rebfläche wird heute in der dritten Generation von Dörte und Meike Näkel geführt. In der Flutnacht wurde das Weingut zerstört, und der Fluss riss auch die 350 Holzfässer mit sich, in denen die Spitzenweine des Jahrgangs 2020 lagerten.

Die beiden Winzerinnen konnten sich nur mit knapper Not aus dem überfluteten Weingut retten. Sie wurden von der Flut erfasst und konnten sich auf einen Baum hangeln, wo sie schließlich nach acht Stunden von Rettungskräften geborgen wurden. „Doch Aufgeben war für uns nie eine Option“, sagt Meike Näkel jetzt. Noch auf dem Baum habe man überlegt, wie man den Neuanfang organisieren könne.

Die „Lost Barrels“ – ein kleines Wunder

Für emotionalen Auftrieb sorgte dann auch ein kleines Wunder. Nach und nach tauchten neun der 350 weggespülten Fässer unversehrt auf und konnten von den Näkels nach entsprechenden Benachrichtigungen der Finder geborgen werden. Teilweise am Ufer der Ahr, teilweise am Rhein und eines sogar im niederländischen Nijmegen – über 200 Kilometer von Dernau entfernt. Und diese „Lost Barrels“ á 228 Liter waren alles, was vom Jahrgang 2020 erhalten blieb. Neun Fässer als Mahnmal einer unfassbaren Katastrophe. Aber auch Symbol für den unbändigen Willen, nicht aufzugeben.

Noch ist vieles provisorisch beim Weingut Meyer-Näkel. Und es wird noch ein wenig dauern, bis das neue Gutsgebäude samt Vinothek an einem flutsicheren Ort fertig errichtet ist. Doch die Infrastruktur für die Lese, Verarbeitung und Lagerung der Weine ist wieder einigermaßen intakt, und die Jahrgänge 2021 und 2022 sind sehr vielversprechend. Aber da sind ja noch die „Lost Barrels“ mit Spätburgunder aus den zertifizierten Spitzenlagen Pfarrwingert, Sonnenberg, Kräuterberg, Trotzenberg, Hardtberg und Daubhaus.

Werbung für die ganze Region

Doch einfach verkauft werden diese Weine nicht. Zunächst gehen Meike und Dörte Näkel ein wenig auf Tour, um die „Lost Barrel“-Weine und deren Geschichte in Kooperation mit Spitzenköchen vor allem Fachjournalisten vorzustellen. Den Anfang machte eine Präsentation bei Tim Raue in Berlin, es folgen noch Events in Bangkok und New York. Und dabei sehen sie sich nicht nur als Botschafter für ihr Weingut, sondern für die gesamte Region und deren einmalige Weinkultur. Ein Weinbau- und Tourismusgebiet, dass sich nach so einer Katastrophe wieder aufrappeln will, braucht solche Flaggschiffe. Gerade weil die Flut und ihre verheerenden Folgen kaum noch mediale Aufmerksamkeit genießen.

Und wer eine der insgesamt 2520 mit einem speziellen Sonderetikett und Informationen über das jeweilige Fass ausgestatteten Flaschen – sozusagen als Zeitdokument mit besonderem Genussfaktor – erwerben will, kann sich im Subskriptionsverfahren als Interessent registrieren und wird im Januar erfahren, ob er zu den Glücklichen gehört. Allen anderen sei empfohlen, sich mal wieder einen guten Spätburgunder von der Ahr zu gönnen, sei es von Meyer-Näkel oder einem der anderen hervorragenden Winzer der Region.

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