Angst, Regression und Infantilisierung als politisches Programm - Angst zu(m) Ersticken - Teil 2

Statt auf den mündigen Bürger setzte die Corona-Politik auf Angsterzeugung. Ein Novum oder die Fortsetzung und Vertiefung einer längeren Entwicklung? Die Mobilisierung von Angst verstärkt die soziale Kontrolle - und macht das Regieren leichter.

Angst untergräbt Vertrauen in den, der sie nicht teilt: „Der Nachtmahr verlässt das Lager zweier schlafender Mädchen“ (1793) von Johann Heinrich Füssli / dpa
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Autoreninfo

Professor Dr. med. Matthias Schrappe ist Internist und war Vorstandvorsitzender der Universitäts-Klinik Marburg, Dekan und wiss. Geschäftsführer der Univ. Witten/Herdecke, Generalbevollmächtigter der Frankfurter Universitäts-Klinik, Dir. Institut Patientensicherheit Universität Bonn (in den Jahren 2002 bis 2011).

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Im ersten Teil ging es um die Frage, wie und warum das Angst-Framing im Kontext der Corona-Krise an Dynamik gewann.

Der große Erfolg, wenn man es anhand der Umsetzungsbreite so formulieren möchte, des Angst-Konzeptes bei Corona verlangt allerdings nach zusätzlichen Erklärungsansätzen. Besonders die Digitalisierung hält mannigfaltige Instrumente der sozialen Kontrolle bereit: „Gefährden Sie nicht Ihren Sozialkredit“, heißt es in China, wenn man bei Rot über die Ampel geht (noch ein Punkteabzug, dann erhält man keine Zugkarte mehr). Eine Folge dieser Thematik besteht in einer umfassenden Infantilisierung, denn um es einfach auszudrücken: Wie anders soll ein selbständig denkender Mensch dies ertragen? Wir erleben diese Verkindlichung täglich, wenn wir in der Öffentlichkeit die Rücken der über ihre Smartphones Gebeugten betrachten, die sich unaufhörlich TikTok-Videos zuschicken. Diese „Endgeräte“ (Sibylle Berg) üben ihre Anziehungskraft (Neugier, Spieltrieb, haptische Eigenschaften) bei weitem nicht nur auf Kinder aus, sondern sind auch im Erwachsenenleben hervorragend geeignet, eine identitäre Blasenbildung zu fördern, die Gruppenzugehörigkeit zu verfestigen und letztlich die soziale Kontrolle zu vertiefen. 

Sobald an diesem Punkt noch sprachliche Faktoren hinzutreten, kann das angsterfüllte Individuum kaum noch entkommen. Ein Handy kann man beiseitelegen, aber ohne Sprache, ohne das Sprechen ist eine Existenz kaum möglich. Und es ist offensichtlich einfacher, Personen mit der Aufgabe des regelkonformen Genderns zu beschäftigen, als sie über politische Probleme mit gruppenüberschreitendem Potential diskutieren zu lassen. Durch das geforderte Sprachverhalten kann Gruppenzugehörigkeit ohne jeglichen Aufwand kenntlich gemacht werden: Schon ein gegenderter Begriff signalisiert Zugehörigkeit zu den woken Kreisen, ein nicht gegendertes Wort die Nicht-Zugehörigkeit. 

Angst und double think

Damit jedoch nicht genug, in Ergänzung werden Begriffe verwendet, bei denen Ungenauigkeiten und Widersprüche in Definition und Auffassung bestehen. Jeder weiß ja, dass die berichteten Corona-Todeszahlen in einem hohen Maße Personen umfassen, bei denen die Tatsache der Corona-Infektion überhaupt keine Rolle spielt (der junge Motorradfahrer). Aber es wird trotzdem immer weiter damit argumentiert, bis die Leute müde werden und sich mit der Diskrepanz abfinden. 

Diese Inszenierung von unauflösbaren Widersprüchen, von Orwell in „1984“ als „double think“ meisterhaft dargestellt, zwingt das Individuum in eine täglich eingeübte kognitive Dissonanz ohne die Möglichkeit, diesen Widersprüchen zu entkommen. Das berühmte „Gemeinsam mit Abstand“ kommt zwar als scheinbar harmloses Paradoxon daher, zwingt den Menschen jedoch in ein schmerzhaftes Dilemma, das sich in einer Situation tiefgreifender Isolation (Lockdown) nicht auflösen lässt. Der Beispiele sind Legion: Wenn Impfnebenwirkungen auftreten, sind immer die Vorerkrankungen der Patienten schuld, wenn man aber Krankenhausaufnahmen untersucht, dann sind nie die Vor- und Begleiterkrankungen die Ursache für die Aufnahme, sondern es sind allesamt Covid-19-Erkrankungen. Wenn es zu einem Abfall der Melderaten („Inzidenzen“) über die Feiertage kommt, dann liegt es an der geringeren Testung, wenn aber ein Anstieg zu beobachten ist, dann wird nie über die gestiegene Testfrequenz korrigiert. Orwell’s Doppelsprech „Krieg ist Frieden; Freiheit ist Sklaverei; Unwissenheit ist Stärke“ ist das bekannte literarische Destillat. 

Es ist also nicht allein das Identitäts-„Tetrapack“ Angst, Hypermoralismus, Konformismus und Szientismus, um den Einsatz von Angst als Ersatz für ein adäquates Krisenmanagement zu erklären. Es reicht auch nicht aus, zusätzlich Infantilisierung und andere Strategien der sozialen Kontrolle heranzuziehen. Sondern der Schlussstein dieser Strategie besteht im Ausgesetztsein gegenüber unauflösbaren sprachlichen und kognitiven Widerspruchssituationen, denen der Mensch unaufhörlich ausgesetzt ist, denen er nicht entkommen kann. Alle diese Faktoren zusammen führen zu einer Vertiefung der Regression, die an den Zustand der Hypnose erinnert, in dem Widersprüche nicht mehr als solche erkannt werden. Die gegensätzliche Aufforderung wie „Dein Arm ist so schwer, dass du ihn nicht mehr anheben kannst / Du befolgst alles, was ich dir auftrage: also heb den Arm“ verliert jeglichen beunruhigenden Aspekt. Die Hypnose ist perfekt. 

Vereinsamung und sozialer Kontext

Die „Psychologisierung der sozialen Realität“ (Richard Sennett) darf jedoch nicht davon ablenken, dass auch manifeste soziale Störungen zur Empfänglichkeit für Angst beitragen. Er führte bereits im Jahr 1977 in „Verfall und Ende des öffentlichen Lebens – Die Tyrannei der Intimität“ aus, dass in einer Zeit, in der sich Privatheit zum „Selbstzweck“ entwickelt und das Individuum in das Private gedrängt wird, die Psyche in ihrer Abgeschiedenheit an Widerstandskraft verliert, da keine Auseinandersetzung im Öffentlichen mehr stattfindet. Der Mensch verlernt das „Spielen“ und konzentriert sich auf seine einzige Authentizität, allerdings um den Preis, dass er wehrlos wird gegenüber regressiven Einflüssen wie von außen induzierter Angst. 

In erster Linie ist der soziale Faktor Einsamkeit zu berücksichtigen, jüngst vom NRW-Ministerpräsidenten Wüst zur Chefsache erhoben. Allerdings nicht in einem statischen Sinne, sondern flankiert von anderen Entwicklungen – der Mensch ist nicht nur allein, sondern auch immer weniger in der Lage zu interagieren. Das sogenannte Sozialkapital als die Summe der sozialen Bindungen und Kompetenzen sinkt stetig, obwohl eigentlich das Gegenteil der Fall sein müsste, denn die Umwelt wird immer unübersichtlicher. Das feindliche Außen (z.B. das Virus), so der Politologe Richard Münch unter Berufung auf Georg Simmel, erzwingt Konformität im Inneren, die wiederum zur Ausgrenzung Andersdenkender führt, wodurch ein Teufelskreis in Gang gesetzt wird, der immer größeren inneren Druck gegenüber einer immer stärkeren Außenmacht erzeugt. 

Regieren durch Angst?

Es werden durch längerdauernde Angstzustände nicht nur einzelne Personen in einen Zustand der Regression verbracht, sondern es wird eine ganze Bevölkerung in einen regressiven Zustand versetzt. Der Berliner Politologe Wolfgang Merkel prägte den Begriff „Regieren durch Angst“ für diesen Umbruch, der das Idealbild des informierten, handlungsautonomen Bürgers und der auf Diskurs basierenden „deliberativen Gesellschaft“ durch eine angstbasierte Krisengemeinschaft ablöst. Im August 2021 hat sich die Thesenpapier-Autorengruppe mit der Fragestellung beschäftigt, wie ein solcher Umbruch, der nur durch eine gleichsinnige Ausrichtung zahlreicher gesellschaftlicher Subsysteme denkbar ist, zustandekommen konnte. Woher kam die gesellschaftliche Energie? Die psychologische Erklärung durch Angst samt Begleitphänomenen ist sicherlich nur ein Argumentationsstrang, andere Erklärungen wären primär soziologischer, aber auch ökonomischer und politikwissenschaftlicher Art. 

Natürlich steht hier das politische System im Licht, denn die Demokratie verliert an Zustimmung, ihre Regelungskompetenz wird bestritten, internationale Kompetenzen und ökonomische sowie rechtliche Einschränkungen beschneiden die Handlungsfähigkeit – da kommt eine Krise gerade recht, eine Krise ist ja die berühmte Stunde der Exekutive. Konstatiert man eine „singuläre Krise“ (Klaus Krämer), dann erscheint es fast verständlich, dass man zur Koordination auf die Methode „Angst“ setzte, gerade wenn man Präventionspläne nicht weiterverfolgt und notwendige Materialien nicht bevorratet hatte. Auch darf nicht verkannt werden, dass Politiker selbst Angst haben, sehr individuell auf empfundene oder reale Gefahren reagieren und insofern Opfer ihrer eigenen Strategien werden. 

 

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Trotzdem bleibt die Tatsache, dass in einem hohen Maße mit Angsterzeugung gearbeitet wurde, irritierend. Angesichts der gesellschaftlichen Kompetenzen, die in den vorangehenden Jahrzehnten aufgebaut worden waren (z.B. Autonomie des Bürgers, Netzwerkstrukturen in der Mesoebene der Gesellschaft), kann man das Vorgehen sogar als schädlich und zerstörend bezeichnen. Selbstverständlich blieben auch andere Subsysteme unter ihren Fähigkeiten, auch wenn das nichts entschuldigt. So erklärte sich die Medienlandschaft, ächzend unter Auflagenrückgang und Digitalisierung, zum Sprachrohr der Angstpolitik und fühlte sich noch ein einziges Mal als unverzichtbar, wenngleich sie sich durch die Aufgabe der kritischen Distanz und somit ihrer Kerndisziplin selbst in Gefahr brachte – diese Aufgabe wird künftig von den Internetmedien wahrgenommen. 

Und die Wissenschaft? Wissenschaftler werden zu Aktivisten, Experten nehmen politische Funktionen wahr, Fachentscheidungen werden politisch und nicht mehr fachlich bewertet – eine klare Suboptimierung, aber das Vorgehen generierte nun mal öffentliche Sichtbarkeit und war offensichtlich für Einzelpersonen attraktiv genug (zum Szientismus-Paradox).

Wahrscheinlich muss man sich in der zukünftigen Analyse noch mehr mit der historischen Perspektive auseinandersetzen, also inwieweit präexistente, vor Corona bestehende Entwicklungen mitgewirkt haben und verstärkt wurden. Die Geschichte lehrt, dass Epidemien (z.B. die Pest) anstehende gesellschaftliche Entwicklungen beschleunigen können (z.B. Weiterentwicklung der Wirtschaftsform), die im Kern schon vorher „in der Luft lagen“. So war Angst vor 40 Jahren bereits bei der HIV-Epidemie ein großes Thema, auch damals standen gesellschaftliche Umwälzungen und drakonische Maßnahmen zur Diskussion, und die damaligen Überschriften in der Presse könnten auf Corona im 1:1-Maßstab übernommen werden: „Die Epidemie der Angst“. Auch kurz vor der Corona-Epidemie gab es eine Diskussion um „Angst essen Politik auf“. Der Zeit-Redakteur Jens Jessen beschrieb die Problematik mit skeptischen Worten: „Über Angst kann man nicht abstimmen. Angst ist nicht verhandlungsfähig, Angst untergräbt jedes Vertrauen in den, der sie nicht teilt, und ermächtigt jeden, der sich auf sie beruft, zu diktatorischen Maßnahmen.“ 

Wenn man die zukünftige Entwicklung einschätzen wollte: In einer Situation, in der die transzendente Macht der Religion ausfällt, um die Konflikte zwischen Wahlvolk und Staat zu befrieden und der Komplexität des Weltgeschehens zu begegnen, bleiben nur wenige Alternativen: die „unsichtbare Hand“ des Marktes, die verabsolutierte Wissenschaft, die Natur mit ihren Imperativen (Klimakrise) oder eben eine Perpetuierung des Krisenmanagements, denn Krise kennt kein Gebot. An den Begriff der Poly-Krise haben wir uns ja schon gewöhnt, so erscheint ein politisches Programm aus „Angst, Regression und Infantilisierung“ weiterhin als mögliche Option. Allerdings könnte dann, zumindest aus politischer Perspektive, aus der „Angst zu Ersticken“ eine „Angst ZUM Ersticken“ geworden sein. Denn für Aufklärung, Universalismus, Gerechtigkeit, Fortschritt und Zweifel (nochmal Susan Neiman) bliebe wenig Raum.

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