80 Jahre Wannseekonferenz - Töten als Verfahrensangelegenheit

Am 20. Januar 1942 kamen in einer Villa am Berliner Wannsee Repräsentanten von staatlichen Institutionen und Nazi-Organisationen zusammen, um über die Ermordung der europäischen Juden zu beratschlagen. Ein Gedenkprojekt des Historikers Julien Reitzenstein findet eine zeitgemäße Form des Erinnerns.

Gedenkort Haus der Wannseekonferenz / dpa
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Autoreninfo

Johann Michael Möller, Jahrgang 1955, war von 2006 bis 2016 Hörfunkdirektor beim Mitteldeutschen Rundfunk. Er ist Herausgeber des Rotary Magazins. Im Verlag zu Klampen erschien 2019 sein Buch „Der Osten“.

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Heute vor achtzig Jahren fand in einer der schönsten Villen Berlins am Ufer des großen Wannsees jene Konferenz statt, die sich in unser Gedächtnis als der Schlüsselmoment eingegraben hat, an dem das systematische Völkermorden der Nazis begann. Gedenktage sind Erinnerungsorte, wie die Historiker heute sagen; und Erinnerungsorte ziehen das historische Geschehen im kollektiven Gedächtnis der Nachgeborenen gleichsam symbolisch zusammen. Denn als die Repräsentanten der verschiedenen staatlichen Institutionen und Nazi-Organisationen, die mit der sogenannten „Endlösung der Judenfrage“ befasst waren, am 20. Januar 1942 zu einem Arbeitsfrühstück zusammentraten, hatte das wilde Morden in den eroberten Ostgebieten längst schon begonnen; und die Historiker haben sich früh schon die Frage gestellt, warum es diese Konferenz überhaupt gab. 

Der berüchtigte Adolf Eichmann, der sich hernach vor Gericht als reiner Befehlsempfänger darbieten wollte, hat damals das Protokoll geschrieben. Es ist zum Schlüsseldokument für die Schreckensgeschichte der Schoa geworden, und seit dem Auftauchen einer der Durchschlagskopien im Wilhelmstraßenprozess diskutieren die Historiker über die eigentliche Funktion dieser Zusammenkunft von Beamten, Bürokraten und Funktionären, allesamt Schreibtischtäter von der banalen Sorte. 

Auffallend viele Juristen waren darunter, die einen eher belanglosen Werdegang vorzuweisen hatten und sich wohl aus opportunistischen Gründen der Nazi-Bewegung und dem neuen Regime angeschlossen hatten; man kann es an den späten Eintrittsdaten in die Partei unschwer erkennen. Ein paar gescheiterte Existenzen waren darunter, die im neuen Machtapparat ihre Chance erkannten; und natürlich die Überzeugungstäter, die sich über bekannte Stationen wie die Freikorps früh schon entsprechend radikalisiert hatten. Lauter Namen, die heute kaum einer mehr kennt. 

Über die „Beseitigung“ von elf Millionen Menschen debattiert

Sie alle kamen bei einem Arbeitsfrühstück zusammen, zu dem der Leiter des Reichssicherheitshauptamts, Reinhard Heydrich, geladen hatte, und debattierten darüber, was wohl die geeignete Methode wäre, elf Millionen Menschen jüdischer Herkunft aus dem Reichsgebiet und den besetzten Ländern Europas zu beseitigen, was nichts anderes bedeutete, als sie auf eine möglichst effiziente Weise zu liquidieren. Dabei sollte der erhoffte neue Lebensraum der Nazis im Osten zugleich zur finalen Todeszone ihrer Opfer werden – was eine ungeheuerliche Verschränkung der Motive darstellt. 

„In großen Arbeitskolonnen, unter Trennung der Geschlechter“, so weist es das Protokoll der Wannseekonferenz aus, sollten die „arbeitsfähigen Juden straßenbauend in diese Gebiete geführt werden“, wobei, so die zynische Erwartung, „zweifellos ein Großteil durch natürliche Verminderung ausfallen“ werde. Zu dem verstörenden Vorgang, der da beschrieben wird, kommt eine Sprache hinzu, die in ihrer kalten, menschenverachtenden Diktion noch zusätzlich erschreckt. Man wird beim Studium dieses Protokolls unweigerlich an Hannah Arendts berühmtes Wort von der „Banalität des Bösen“ denken müssen, das ihr angesichts des Eichmannprozesses in den Sinn kam und ihr damals viel Kritik unter den Prozessbeobachtern einbrachte, die offenkundig der Meinung waren, nur wirkliche Monster könnten so handeln.  

Man schwankt bei der weiteren Lektüre dieses Konferenzprotokolls, das zwar Eichmann verfasst hatte, aber natürlich von Heydrich redigiert wurde. Was bedeutet diese merkwürdige Diktion, die von einem „verbleibenden Restbestand“ derer spricht, die diese Tortur überleben würden und als ein „besonders widerstandsfähiger Teil“ der jüdischen Bevölkerung natürlich „entsprechend behandelt“ werden müssten? Wird in solchen Andeutungen noch ein Rest von Scham sichtbar, die drohenden Liquidationen nicht offen aussprechen zu wollen? Oder war die Gleichgültigkeit bei den meisten der Konferenzteilnehmer schon so weit fortgeschritten, dass es gar kein Erschrecken mehr darüber gab, die Tötung zu einer Verfahrensangelegenheit machen zu müssen? 

Mit dem Treffen wurden Mitwisser geschaffen

Für Heydrich selbst, den Violine spielenden Initiator dieses Treffens, ging es wohl in erster Linie um die Sicherung seiner Macht. Er wollte, so der Historiker Eberhard Jäckel, seine zentrale Rolle bei der Endlösung dokumentieren und sich damit als der fähigste Organisator des großen Tötens empfehlen. Denn selbst um solche Kompetenzen gab es unter den Nazifunktionären noch ein wildes Gerangel. Und die Legende vom großen Arkanum der Nazi-Diktatur, vom dem keiner so wirklich gewusst haben wollte, fällt spätestens dann in sich zusammen, wenn man die Wortmeldungen auf der Wannseekonferenz in Eichmanns Protokollierung nachliest. Denn natürlich hat sich Heydrich mit diesem Treffen auch seine Mitwisser geschaffen; oder um es präzise zu sagen: seine Mittäter. Und die Umstandslosigkeit, mit der viele von ihnen nach dem Krieg ihre Roben wechselten, hat schon frühe Ankläger wie Robert Kempner fassungslos gemacht. 

Die Wannseekonferenz war nicht das Momentum, an dem sich der Mord an den europäischen Juden entschied; aber sie markiert doch den entscheidenden Wendepunkt, als das willkürliche Vorgehen systemische Züge bekam. Damals merkte die Führungsebene der obersten Nazis, dass sie etwas tun musste, um die sich verselbständigenden Entwicklungen zu kanalisieren. Und vielleicht hat die Wannseekonferenz auch deshalb ihre nachträgliche Bedeutung erlangt, weil sie auf den tiefsten Grund blicken lässt, wo sich Vernichtung als Verwaltungshandeln offenbart und das Wort vom Zivilisationsbruch seine wahre Bedeutung bekommt. 

Es wird bis heute darüber gestritten, ob dieser Vernichtungswille von schierer Mordlust angetrieben wurde oder doch von einem ideologischen Kalkül; darüber gibt es zwei gegensätzliche Betrachtungsweisen, die hinter dem Völkermord von Anfang an strategische Absicht vermuten, oder einen immer schneller verlaufenden Radikalisierungsprozess.  

Bis zum Untergang am Vorhaben der Judenvernichtung festgehalten

Auch darüber gibt die Wannseekonferenz Auskunft. Sie fand, wenn auch um Wochen verschoben, in einem Moment statt, als die unterschiedlichen Dynamiken, die das Regime entfesselt hatte, in den Ghettos und Auffanglagern im eroberten Osten aufeinanderprallten. Die Deportationen aus dem Reich und den besetzten Ländern im Westen waren bereits angelaufen, die Ghettos in Litauen, Polen, Galizien oder der Ukraine quollen über, und der Sieg über die Sowjetunion war in die Ferne gerückt. So brachen sich die Wellen dieser verschiedenen Entwicklungen just in dem Raum, den Timothy Snyder hernach als die eigentlichen Bloodlands identifiziert hat; wo die Vernichtungslager standen und die Pogrome und Massenerschießungen in das industrielle Töten in den Gaskammern übergingen; eine grauenhafte Verkettung, die mindestens so sehr von den eigenmächtigen Entscheidungen vor Ort erzeugt wurde wie von den bürokratischen Vorgaben aus Berlin. Und man weiß gar nicht, worüber man tiefer erschrocken sein soll: über die Brutalität der Einsatzgruppen, die unter der Zivilbevölkerung wüteten, oder über jene restlose Umwandlung von Leben in Effizienz, die der Leiter des Wirtschafts- und Verwaltungshauptamts der SS, Oswald Pohl, in einem Befehl an die Kommandanten der Konzentrationslager in die Worte fasste: Der Einsatz der Häftlingsarbeiter müsse „im wahren Sinn des Wortes erschöpfend sein, um ein Höchstmaß an Leistung zu erreichen.“  Wobei immer wieder Zweifel aufgekommen sind, ob sich in dieser wahrhaft extremen und menschenverachtenden Form von Zweckrationalität wirklich der wahre Kern dieses Massenmords zeigt. Der Umstand, dass Hitler und seine fanatischen Paladine bis zum bitteren Untergang am Vorhaben der Judenvernichtung festgehalten haben, auch dann, als der totale Krieg alle Kräfte gebraucht hätte, zeigt ein Maß an schierem Vernichtungswillen, das sich rationalen Abwägungen völlig entzieht – was im Übrigen ein Schlüsselargument ist, um die Singularität des Holocaust zu begründen.  

Der Historiker Peter Longerich, einer der genauesten Kenner des Vernichtungsgeschehens, hat von der Vertauschung von Mittel und Zweck gesprochen, nämlich „den Krieg nicht mehr zu führen, um die Voraussetzungen für die ‚Endlösung‘ zu schaffen, sondern die ‚Endlösung‘ in den Dienst der Kriegsführung zu stellen“; und Longerich sieht in dieser Weichenstellung den eigentlichen Sinn jener heute so unwirklich wirkenden Konferenz am Großen Wannsee in Berlin. Aber es bleibt immer auch ein Rest an Unerklärlichkeit zurück, bei allen Bemühungen, diese Zusammenkunft erklären zu wollen. Die unüberschaubare gewordene wissenschaftliche Literatur gibt ein beredtes Zeugnis davon. 

Formen des Erinnerns

Wie aber eines solchen Anlasses gedenken, der sich dem letzten Begreifenkönnen entzieht? In Berlin hat der Historiker und Cicero-Autor Julien Reitzenstein zum Jahrestag ein Erinnerungsprojekt entworfen, das die radikale Reduktion auf das einzelne Leben versucht. Den fünfzehn Tätern, die am 20. Januar vor achtzig Jahren bei einem Arbeitsfrühstück über die Auslöschung von elf Millionen jüdischen Menschen berieten, hat Reitzenstein fünfzehn Überlebende und ihre Enkel und Urenkel gegenübergestellt. Die Täter verblassen, und die Überlebenden werden präsent. „Wir sind hier“, wollen sie sagen, und wir leben in unseren Nachkommen weiter. Doch es gibt keinen Hintergrund, keine räumliche Zuordnung. Es zeigt sich ein leerer Raum ohne Geschichte. Die Menschen leben weiter, aber ihre alte Welt ist dahin. 

Der französische Philosoph, Schriftsteller und Filmregisseur Marc Sagnol hat nach dem Untergang der Sowjetunion mehrfach das alte Galizien und Lodomerien bereist, jener Landstrich, der wie kaum ein anderer in Europa mit jüdischem Leben und jüdischem Denken verbunden war. Er hat darüber ein Buch geschrieben das jetzt – man möchte fast sagen – auf eine rätselhaft intuitive Weise passend zum Gedenkjahr der Wannseekonferenz in Deutschland erschienen ist.

Man sollte das Wannseeprotokoll und diese Reisebeschreibungen tatsächlich nebeneinanderlegen, um vergleichen zu können, wovon in beiden Texten die Rede ist. Hier die Sicht der Vernichtungsstrategen, für die es um möglichst vollständige Auslöschung ging. Dort die untergangene Welt Ostgaliziens und der Bukowina, die ein Herzland jüdischen Lebens und Glaubens war.  

Marc Sagnol ist nicht der erste, der diesen östlichsten Rand des alten Habsburgs wieder entdeckt hat, aber er bringt die Ruinen noch einmal zum Sprechen. Man hört das Leben, wie es geklungen hat in den heute entleerten Gassen, und begegnet den vielen Namen einer verschollenen alten Kultur, wohlwissend, wie bedroht sie von jeher war.  

Fortsetzung der Endlösung durch Nichtstun

Es gibt heute im westlichen Teil der Ukraine ein paar halbherzige Versuche, die alten Orte wieder herzurichten, aber mit den herausgeputzten Fassaden kehrt das frühere Leben nicht mehr zurück. Man könne sich des Eindrucks nicht erwehren, geht es Sagnol durch den Sinn, dass der allmähliche Verfall auch der letzten noch zu rettenden Synagogen, nichts anderes sei als die „stillschweigende Fortsetzung der Endlösung durch Nichtstun“, eine „gewaltsame Schoa der Erinnerung“. Von historischer Tiefenenttrümmerung möchte man sprechen. 

Es gehört zu den Selbstverständlichkeiten unseres heutigen Geschichtsverständnisses, die Dinge in ihrem historischen Zusammenhang verstehen zu wollen. Aber was ist, wenn dieser Zusammenhang fehlt? Wenn nur die Zahlen der Opfer und vielleicht ihre Namen noch übriggeblieben sind, aber die Menschen zu den Landschaften fehlen und ihre Gesichter keiner mehr kennt? Wir erinnern uns heute daran, was vor achtzig Jahren am Großen Wannsee in Berlin in Gang gesetzt wurde. Die Folgen kann man am östlichsten Rand von Europa immer noch sehen. Marc Sagnols Buch über das einstige Galizien und Lodomerien gibt ein ergreifendes Zeugnis davon.  

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