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(picture alliance) "Was wirklich zählt, sind das Leiden und der Tod der Menschen, von denen dieses Buch handelt."

Timothy Snyder - „Jedes Menschenleben zählt“

„Bloodlands“, das neue Buch des Yale-Historikers Timothy Snyder, sorgt gerade weltweit für Aufregung. Es erscheint in 20 Sprachen und wird mit großer Wahrscheinlichkeit unseren Blick auf die Geschichte von Holocaust und Stalinismus grundlegend verändern.

Herr Snyder, in Ihrem Buch „Bloodlands“ beschreiben Sie die Massenmorde Hitlers und Stalins auf dem Gebiet der heutigen Ukraine, Weißrusslands, Polens, des Westen Russlands und des Baltikums – von der durch Stalin geplanten Hungersnot in der sowjetischen Ukraine bis hin zum Holocaust. Insgesamt 14 Millionen Menschen kamen in den „Bloodlands“ um, und Sie beschreiben diese Ereignisse auf eine Weise, die den Leser bis ins Mark erschüttert. Nach der Lektüre muss man am europäischen Vermächtnis ebenso zweifeln wie an der Menschlichkeit unserer Groß- oder Urgroßeltern. Wie verarbeitet man solche Ereignisse als Autor, wie kann man schlafen, wenn man ein solches Buch schreibt?
Verzeihen Sie mir, wenn ich diese Frage nicht direkt beantworte. Ich fürchte, dass, sobald ich über mich selbst spreche, die Aufmerksamkeit von dem gelenkt wird, was wirklich zählt. Was wirklich zählt, sind das Leiden und der Tod der Menschen, von denen dieses Buch handelt. Ich kann nicht sagen, dass es angenehm war, dieses Buch zu schreiben. Aber jeden Morgen gegen fünf, als ich aufstand, um daran zu arbeiten, hatte ich das Gefühl, dass ich etwas tat, was wichtig ist. Und, um auf Ihre Frage zurückzukommen: Ich wusste, dass „Bloodlands“ ein Buch war, das geschrieben werden musste. Aber in gewisser Hinsicht wäre ich froh gewesen, wenn es jemand anderes geschrieben hätte.

„Bloodlands“ liest sich wie ein historisches Grundlagenwerk. Nach vielen Jahrzehnten der Holocaustforschung gelingt es Ihnen, einen völlig neuen Blick auf die Ereignisse zu werfen. Das beginnt damit, dass Sie die Verbrechen des NS-Regimes in einen Zusammenhang mit denen der Sowjetunion stellen und zeigen, wie sehr diese einander ergänzten. Besonders aus deutscher Perspektive, wo auch 25 Jahre nach dem Historikerstreit immer noch das Primat vorherrscht, dass der Holocaust unvergleichbar, dass er singulär ist, schockiert diese Sichtweise …
Wissen Sie, „Bloodlands“ ist für jeden Leser, egal woher er stammt, ein unbehagliches Buch. Ganz gleich, wo man mit der Geschichtsschreibung jener Jahre beginnt, ob es nun in Deutschland, Russland oder in Polen, in der Ukraine oder in Weißrussland ist, überall gibt es eine spezifische Sichtweise auf die Ereignisse von damals. Und diese nationale Sicht betont bestimmte Aspekte, während sie andere außen vor lässt. Ein Teil der Arbeit des Historikers ist es, all diese Aspekte zusammenzubringen. Zudem gibt es Ereignisse, die in keine nationale Geschichtsschreibung passen und deshalb kaum berücksichtigt wurden. Die Deutschen etwa haben drei Millionen sowjetische Kriegsgefangene verhungern lassen – ein grausames Verbrechen. Aber fast niemand hat sich bisher wirklich dafür interessiert. Dass „Bloodlands“ für so viele ein unbehagliches Buch ist, verstehe ich auch als ein Zeichen für seinen Erfolg. Denn Geschichte ist eben keine behagliche Angelegenheit.

Deswegen ist es auch so wichtig, den Holocaust nicht als ein quasi metaphysisches Ereignis außerhalb der Geschichte aufzufassen, sondern als ein Ereignis, das wir mithilfe zahlreicher historischer Quellen tatsächlich beschreiben und verstehen können. Mich beunruhigen Versuche, den Holocaust aus der Geschichte herauszuheben, ihn zu einer Sache von Denkmälern und Gedenkveranstaltungen oder gar zu etwas Heiligem werden zu lassen. Das sind temporäre Dinge, Dinge, die schnell von der Politik instrumentalisiert werden können. Geschichtsschreibung hingegen, das mag sehr konventionell klingen, hat das Potenzial, Ereignisse zu verorten, sie zu verankern. Genau das wollte ich auch mit diesem Buch erreichen: den Holocaust in der europäischen Geschichte zu verankern.

Aber bedeutet das nicht auch, das Bild vom Holocaust, das in unserer Kultur vorherrscht, zurechtzurücken?
Ja, ich denke, dass unser Bild vom Holocaust bisher nicht genügend auf den historischen Fakten beruhte. Ich glaube auch, dass es ein sehr ästhetisiertes Bild ist. Wir denken vor allem an Opfer, mit denen wir uns einfach identifizieren können, vor allem an bürgerliche, west- und mitteleuropäische Juden, die allerdings eine vergleichsweise kleine Opfergruppe darstellten. Unser Holocaustbild lässt auch einen Großteil des menschlichen Kontakts, der bei der Ermordung dieser Menschen stattfand, außer Acht. Es evoziert Kategorien wie Modernität, die es uns erlauben, uns von den Ereignissen zu distanzieren. In „Bloodlands“ versuche ich, den Holocaust in der Geschichte zu verorten, genauso wie und wo er stattfand, und ich versuche, ihn zu konkretisieren. Unsere bisherigen Versuche, den Ereignissen Bedeutung zu verleihen, lassen den Holocaust erträglicher erscheinen als er tatsächlich war.

In gewisser Hinsicht greifen Sie in „Bloodlands“ auch die Dominanz des Symbols von Auschwitz an. Sie legen dar, dass die Mehrzahl der Morde während des Holocausts nicht in Konzentrationslagern stattfand, sondern bei Massakern wie Babi Jar und in Todesfabriken wie Treblinka. Ich weiß, dass das eine Frage ist, die seltsam auf einen Historiker wirken muss. Aber brauchen wir als Kultur nicht das Symbol von Auschwitz?
Ich glaube, der Historiker hat vor allem zwei Pflichten. Geschichtsschreibung wäre ohne sie nicht möglich. Die erste Pflicht ist die Quellentreue. Und die zweite ist die Treue zur Sprache, in der er schreibt und in der er gelesen wird. Mit Sprache meine ich natürlich auch die Konzepte und die Ideen, die die Leser beim Lesen mitbringen. In dieser Hinsicht bewegt sich der Historiker immer auch zuerst in seiner eigenen Zeit. Aber man darf diese Treue zur Sprache nicht zu weit treiben und versuchen, bestimmte Symbole zu verstärken oder sie zu zerstören.
Das Symbol Auschwitz wollte ich nie angreifen. Trotzdem denke ich, dass die Geschichte des Holocausts auf eine Weise geschrieben werden muss, die die tatsächlichen Ereignisse widerspiegelt. Wenn wir einfach an Symbolen festhalten, laufen wir Gefahr, Dinge zu verfälschen oder zu ignorieren. Ich fände nichts Falsches daran, wenn Treblinka oder Babi Jar zu Symbolen des Holocausts werden, die Auschwitz ergänzen. Auschwitz kann die Last des Holocausts nicht alleine schultern. Ein Sechstel der Juden wurde dort ermordet. Aber in vieler Hinsicht war es ein untypisches Lager. Seine Opfer entstammten nicht den Hauptopfergruppen, den polnischen und sowjetischen Juden. Es wurde relativ spät in Betrieb genommen, und es war sowohl ein Konzentrations- als auch ein Tötungslager, was sehr verwirrend für uns ist und den Blick dafür verstellt, wie wichtig die reinen Todesfabriken waren. Das Symbol Auschwitz hat vor allem während des Kalten Krieges Sinn für uns ergeben. Aber wenn ich zwischen einem akzeptierten Symbol und der Wahrheit des historischen Horrors wählen muss, dann optiere ich für die Wahrheit des historischen Horrors.

In Ihrem Buch sprechen Sie sich auch dezidiert gegen die „Übertheoretisierung“ des Holocausts aus. Sind Sie gegen historische Theorie?
Nein, überhaupt nicht. Ich denke nur, dass, aus historisch bedingten Gründen, das Theoretisieren des Holocausts den empirischen Beschreibungen zuvorgekommen ist. Jemand wie Hannah Ahrendt, die ich übrigens ungemein bewundere, hat Europa zu einem bestimmten Zeitpunkt verlassen. Ihr Vergleich zwischen Deutschland und der Sowjetunion funktioniert besser für die Jahre, bevor sie Europa verließ. Ein Großteil der Theoretiker des Holocausts ist deutsch-jüdischer Herkunft und hat die dreißiger Jahre in Deutschland erlebt. Treblinka ist weniger real für sie als die Reichskristallnacht. Ein anderer historischer Zufall, der die uns vorliegenden Theorien des Holocausts verzerrt, ist der Kalte Krieg. Er rechtfertigte bestimmte Vergleiche und führte gleichzeitig dazu, bestimmte Umstände außer Acht zu lassen. Ich versuche, eine robuste und vertretbare Beschreibung der Ereignisse dieser Zeit zu liefern. Nicht, weil ich denke, niemand sollte darüber theoretisieren, sondern weil ich denke, dass wir unsere Theorie auf der Basis dessen entwickeln sollten, was historisch korrekt ist. Wir alle sind der Meinung, dass das die bedeutsamsten Ereignisse des vergangenen Jahrhunderts waren. Deshalb sollten wir uns bemühen, sie richtig zu beschreiben, bevor wir Theorien darüber entwickeln.

Einer der auffälligsten Aspekte Ihres Buches ist die globale Perspektive, die Sie darin einnehmen. Sie arbeiten mit unzähligen Quellen in zahlreichen Sprachen. Wie viele Sprachen lesen Sie?
Ich habe elf Sprachen gelernt, einige davon speziell für dieses Buch. Neben Englisch lese ich Spanisch, Französisch, Deutsch, Russisch, Jiddisch, Tschechisch, Slowakisch, Polnisch, Ukrainisch und Weißrussisch. In der Geschichtswissenschaft haben wir das Problem, dass wir alle sagen, wir wären so kosmopolitisch, und unsere Arbeit wäre schon lange über das Paradigma des Nationalstaats hinausgewachsen. Aber da machen wir uns in der Tat etwas vor. Es ist interessant, dass der Großteil der Holocaustgeschichte nur auf deutschen Quellen beruht. Würde man die Geschichte des Britischen Kolonialreichs schreiben und nur englische Quellen benutzen, würden die Kollegen sofort eingreifen und sagen, dass das ohne mindestens eine der Sprachen der kolonialisierten Völker nicht möglich ist. Ich habe den Eindruck, dass wir genau dort, wo wir in dieser Hinsicht keine Ausnahme machen sollten, beim Holocaust, eine Ausnahme gemacht haben. Würden wir die Opfer des Holocausts, von denen nur die wenigsten Deutsch sprachen, wirklich wichtig nehmen, würden wir den Geschichtswissenschaftlern, die sich damit beschäftigen, sagen: Lernen Sie Jiddisch, lernen Sie Polnisch, lernen Sie Russisch!

Nach dem Fall des Eisernen Vorhangs sind auch für Historiker aus dem Westen viele neue Archive zugänglich geworden. Hätten Sie das Buch ohne diesen Zugang schrei­ben können?
Nein. Als Osteuropa-Historiker befindet man sich heutzutage regelrecht in einem neuen Universum. Ein halbes Jahrhundert lang wussten wir vom Terror in der Sowjetunion. Wir wussten auch, dass es eine Hungersnot in der sowjetischen Ukraine gab. Heute können wir diese Ereignisse tatsächlich nachvollziehen, und das mit großer Genauigkeit. Die Sowjets führten besser Akten als die Deutschen. Alle denken, dass das umgekehrt war. Aber tatsächlich haben die Deutschen bei ihrer Aktenführung mehr improvisiert, und sie waren sich auch nicht immer so sicher, dass sie gewinnen würden. Die Sowjets hingegen glaubten, dass die Geschichte auf ihrer Seite sei, und sie hatten unter anderem deshalb einen sehr genauen bürokratischen Apparat. Das ist ein mächtiger Glaube, mit dem wir uns nur schwer identifizieren können. Schon Lenin hat damit angefangen. Wenn er eine Anordnung für ein schreckliches Verbrechen verfasste, schrieb er auch immer „ins Archiv“ auf den unteren Rand des Dokuments. Während wir alle sagen würden, nun, das ist ein Dokument, das ich nie wieder sehen möchte, dachten die Sowjets, dass sie das Richtige taten und dass die Geschichte ihnen recht geben würde.

Zum anderen sind uns durch den Fall des Eisernen Vorhangs Quellen aus Gebieten zugänglich geworden, in denen die ermordeten Juden tatsächlich gelebt haben, aus der jüdischen Heimat. Mehr als drei Millionen Juden lebten in Polen, fast genauso viele in der Sowjetunion. Das Jüdisch-Historische Institut in Warschau zum Beispiel hat die weltweit beste Sammlung von Zeugnissen jüdischer Überlebender überhaupt. Die Befragungen fanden zwischen 1945 und 1947 statt, nach einem Standardfragebogen. Historiker beginnen erst jetzt, solche Quellen in vollem Umfang zu würdigen.

„Bloodlands“ ist unter anderem deshalb so ein packendes Buch, weil Sie beides liefern: ein groß angelegtes historisches Bild jener Epoche des Mordens und eine genaue, ja intime Rekonstruktion einzelner menschlicher Schicksale. Dieses fast schon literarisch zu nennende Verfahren ist ungewöhnlich für die Geschichtswissenschaft. Warum haben Sie diesen Weg eingeschlagen?
Ich glaube, dass sich vieles von dem, was wir intuitiv über die Zeit der Massenmorde verstehen, auf einer Ebene von Nationen, Völkern und sozialen Gruppen bewegt. Das ist nicht falsch. Es ist wichtig, dass wir verstehen, dass Menschen ermordet wurden, weil sie Juden, weil sie Polen oder weil sie Ukrainer waren. Aber das ist nicht der einzige Umstand, der zählt. Deshalb versuche ich in dem Buch, grob gesagt, sowohl eine abstraktere als auch eine konkretere Ebene aufzuarbeiten. Die abstrakte Ebene, das sind Weltgeschichte, europäische Geschichte, politische Ökonomie, die Weltkriege, die Zerstörung von Staaten und die Visionen der Modernisierung. Diese Dinge nehmen ganz direkt Einfluss auf das historische Geschehen.

Sie nehmen aber auch Einfluss auf die kleinste Einheit der Geschichtsschreibung, das individuelle Menschenleben. Die Menschen, die damals ums Leben kamen, sind der Grund, warum ich dieses Buch geschrieben habe. Selbst wenn meine geschichtswissenschaftlichen Interpretationen und meine Argumente nicht jeden überzeugen, jeder soll nach der Lektüre dieses Buches wirklich verstehen, welch unglaubliche Zerstörung menschlichen Lebens in dieser Zeit stattfand. Und dabei will ich vor allem darlegen, dass jedes einzelne Menschenleben zählt. Nicht nur, weil dieser Mensch Teil einer Gruppe war, weil er Jude oder Ukrainer war, sondern, weil er ein Mensch war. Wenn wir fünfeinhalb Millionen ermordete Juden aufzählen und drei Millionen ermordete Ukrainer, dann sprechen wir nicht nur über eine jüdische und eine ukrainische Tragödie. Wir sprechen auch über individuelle Menschenleben. Ich wollte sichergehen, und daran habe ich hart gearbeitet, dass wir angesichts dieser unvorstellbaren Zahlen nicht abstumpfen. Unsere Abstumpfung angesichts dieser Zahlen stellt in gewisser Hinsicht immer noch ein Erbe Hitlers und Stalins dar. Ihre Regime haben uns diese Zahlen hinterlassen und so unser Denken strukturiert. Wir müssen aus diesen Zahlen wieder Menschen machen.

In gewisser Hinsicht kommt „Bloodlands“ genau zum richtigen Zeitpunkt, es ist ein Buch, das aufgrund der Quellenlage nicht vor zehn Jahren hätte geschrieben werden können. Aber ist es nicht vielleicht auch ein Buch, das in seiner intimen Nähe zu den Ereignissen das letzte seiner Art ist?
Es ist interessant, dass Sie das sagen. Wenn ich heute Leute über das Buch sprechen höre, habe ich den Eindruck, dass ich in das Ende eines historischen Moments geraten bin. Für viele Menschen sind die Ereignisse immer noch real, sie verstehen die Referenzen. In New York, in Berlin, in Berkeley oder in Kiew haben die Menschen immer noch einen Bezug zu Auschwitz und dem stalinistischen Terror. Sie mögen sich an jeweils andere Aspekte erinnern, aber die Bezüge sind immer noch intakt. Sie werden schwächer und brechen langsam weg, aber sie sind immer noch da. Aber ich frage mich, wie lange noch. Ein Freund von mir meinte kürzlich, „Bloodlands“ sei das letzte Buch in einer bestimmten Art von Diskussion. Ich selbst würde das nicht behaupten, ich weiß nicht, ob das zutrifft, und Historiker sollten nie behaupten, dass etwas zum letzten Mal passiert sei. Aber ich fürchte, dass in zehn oder zwanzig Jahren die Bezüge zu den Massenmorden des vergangenen Jahrhunderts zu schwach sein werden, um die Lektüre eines solchen Buches zu ermöglichen.

Das Gespräch führte Daniel Schreiber

„Bloodlands. Europa zwischen Hitler und Stalin“ ist im Verlag C.H. Beck erschienen und kostet 29,95 Euro

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