Flucht aus der DDR: 60 Jahre „Tunnel 29“ - „Tag und Nacht haben wir teilweise mit bloßen Händen gebuddelt“

Im September 1962 gelang DDR-Bürgern eine spektakuläre Flucht durch einen selbst gegrabenen Tunnel in den Westen, der heute, wegen der Anzahl der Flüchtenden, als „Tunnel 29“ bekannt ist. Um die Flucht zu finanzieren, hatten die Planer die Filmrechte dem US-Fernsehsender NBC für 50.000 D-Mark verkauft. Es war der Beginn der kommerziellen Fluchthilfe in der DDR.

Einer der Zugänge eines ehemaligen Fluchttunnels zwischen West- und Ostberlin. Rund 70 solcher Tunnel soll es gegeben haben / dpa
Anzeige

Autoreninfo

Hier finden Sie Beiträge von Gastautoren sowie in Kooperation mit anderen Medien und Organisationen. 

So erreichen Sie Cicero-Gastautor:

Anzeige

Vor dieser spektakulären Flucht im Herbst 1962 hatten viereinhalb Monate lang bis zu 30 Freiwillige – meist Ostdeutsche, die im Westteil der Stadt studierten – einen etwa 135 Meter langen Stollen gegraben. Ein riskantes Unterfangen, neben Einsturzgefahr und Überflutung drohten bei Entdeckung lange Haftstrafen wegen „Beihilfe zur Republikflucht“ – oder gar die sofortige Erschießung durch DDR-Grenzsoldaten.

„Ich hatte gar keine Zeit, um über Angst nachzudenken“, erinnert sich Hasso Herschel. Gemeinsam mit den beiden Italienern Domenico Sesta und Luigi Spina plante der inzwischen 87-Jährige ab Frühsommer 1962 den Tunnelbau. Herschel selbst war im Jahr zuvor mit einem gefälschten Schweizer Pass aus der DDR geflohen, nachdem er vier Jahre im Gefängnis gewesen war.

Sein „Verbrechen“: Er hatte dem „imperialistischen Klassenfeind im Kollektiv gefertigtes Volkseigentum“ zukommen lassen (einfacher gesagt: Ostware im Westen verkauft). „Tag und Nacht haben wir gebückt und teilweise mit bloßen Händen gebuddelt. An manchen Tagen ging es in diesem Untergrund aus Lehm mit Steinen nur 30 Zentimeter vorwärts“, sagt der Tunnelgräber, „ich wollte, dass meine Schwester mit ihrer Familie auch rauskommt.“

30.000 Liter mit der Handpumpe abgepumpt

Der „Tunnel 29“, benannt nach der Anzahl der Menschen, die schließlich durch ihn entkamen, führte vom Keller eines Fabrikgebäudes in der Bernauer Straße 78 im französischen Sektor unter der Mauer hindurch zu dem Haus in der Schönholzer Straße 7 in Ost-Berlin. Durch die aufgebrochene Kellerdecke konnten die Flüchtenden in den Westen kriechen. Nach einem Bericht der Bild-Zeitung vom 20. September die erste gelungene „Massenflucht von Ostberlinern und Zonenbewohnern“.

Der Stollen in rund sechs Metern Tiefe war nur rund 80 Zentimeter breit und knapp 120 Zentimeter hoch. In der Gangmitte waren Schienen verlegt und alle paar Meter Lampen aufgehängt. „Wir haben auf dem Rücken gelegen und mit dem Fuß den Spaten in den Lehmboden gerammt“, erzählt Fluchthelfer Herschel, „es war eng, die Luft stickig.“ Den Aushub schaufelten die Männer in Holzkarren, die an Seilen über die Schienen zum Eingang gezogen wurden. Sieben Kellerräume der alten Fabrik füllten sich mit Tonnen abgebauter Erde. Den Tunnelgang stützten Holzbalken, Belüftungsrohre bliesen Frischluft in den Schacht. Während oben auf den Bürgersteigen Vopos patrouillierten, kämpften die Fluchthelfer unter Tage angestrengt mit Rohrbrüchen, Matsch und Wasser. Mit einer Handpumpe mussten 30.000 Liter abgepumpt werden.
 

Das könnte Sie auch interessieren:


„Es waren immer vier bis fünf Leute in einer Schicht. Einer hat vorn gebuddelt, einer hat unten im Schacht gestanden und die Karre mit dem Aushubmaterial zurück- und zwei haben hochgezogen. Das lief in zwei Schichten“, berichtet ein Beteiligter in dem Buch „Die Fluchttunnel von Berlin“ von Dietmar Arnold und Sven Felix Kellerhoff aus dem Jahr 2008. Im Gegensatz zu vielen anderen Stollen kam es beim „Tunnel 29“ zu keinen tödlichen Unfällen, Verletzungen oder Verhaftungen. Doch schon wenige Stunden nach der geglückten Flucht wurde der Schacht nach erneutem Wassereinbruch unpassierbar.

Zur Finanzierung des Tunnels hatten die Planer die Filmrechte dem US-Fernsehsender NBC verkauft, dafür erhielten sie 50.000 D-Mark. Rund die Hälfte der Summe wurde in den Tunnelbau investiert, der Rest zwischen Herschel, Spina und Sesta aufgeteilt. Dieses Finanzierungsmodell stieß trotz erfolgreichen Ausgangs des Unternehmens auf herbe Kritik der übrigen Gruppenmitglieder, 17 ehemalige Helfer distanzierten sich öffentlich von den Planern. Auch die von der NBC organisierte Willkommensparty fiel eher frostig aus, etliche Beteiligte erschienen nicht.

In einem Zeitungsinterview verteidigte Sestas Frau Ellen das Vorgehen (Spina und Sesta waren mittlerweile verstorben). „Wir waren kein kommerzielles Fluchtunternehmen, wir haben den Tunnel nicht für Geld gegraben, sondern weil wir Verwandten und Freunden die Flucht ermöglichen wollten.“ Zwar hätten sich einige Flüchtlinge und Tunnelbauer verkauft gefühlt, als sie beim Rausklettern in die Freiheit von Kameras gefilmt worden waren, „aber ohne das Geld von NBC hätten wir kein Transportfahrzeug für Baumaterial und auch nicht Holz und Schienen kaufen können.“

Geld vom amerikanischen Fernsehsender NBC

Insgesamt existierten in Berlin 70 Fluchttunnel, durch die zwischen 1961 und 1985 mehr als 300 DDR-Bürgerinnen und Bürger in den Westen gelangten. Die meisten Schächte wurden Richtung Osten gegraben, denn das war „deutlich ungefährlicher“. Nur 19 Tunnel-Bohrungen endeten erfolgreich, am häufigsten wurde die Gegend um die Bernauer Straße untergraben, auf einer Strecke von nur 350 Metern gab es sieben Tunnel.

In der DDR galten die „Maulwürfe“ als Staatsfeinde. „Während der Westen in diesen Vorhaben wagemutige Aktionen zur Erlangung persönlicher Freiheit sah, bedeutete es für den Osten die Verletzung einer internationalen Staatsgrenze und damit einen Angriff auf die Souveränität der DDR“, schreiben Dietmar und Ingmar Arnold in ihrem Buch „Dunkle Welten – Bunker, Tunnel und Gewölbe unter Berlin“. Als Vorsitzender des Vereins Berliner Unterwelten erforscht Dietmar Arnold seit Jahren auch die Berliner Fluchttunnel.

Der letzte echte Fluchttunnel

Mit dem „Tunnel 29“ begann für Herschel die Geschichte der kommerziellen Fluchthilfe. Bis 1972 verhalf er nach eigenen Angaben etwa 1000 Menschen beim „Verlassen“ der DDR, pro Flüchtling kassierte er zwischen 6000 und 14.000 D-Mark (bis zu 3600 Euro). Neben den Tunneln nutzte er auch umgebaute Straßenkreuzer und Hubschrauber, ein zweiter von ihm geplanter Tunnel an der Bernauer Straße wurde am 25. Februar 1971 von der Stasi entdeckt. Seit November 2009 erinnert eine Gedenktafel am Haus in der Schönholzer Straße 7 an die „mutigen Männer“, die von West-Berlin aus den Eisernen Vorhang durchbrachen.

Arnold und sein Verein veranstalten zweistündige Touren, um die Schwerpunkte im Fluchttunnelbau an der Bernauer Straße zu beleuchten. Weil hier der Grundwasserspiegel besonders tief liegt, konnten die Tunnel noch weiter ins Erdreich vordringen. Seit November 2019 erhalten Interessierte auch Einblicke in den originalen Fluchttunnel von 1971. Die acht Meter unter der Oberfläche liegenden Gänge werden durch einen rund 30 Meter langen Besuchertunnel erschlossen. Der Berliner Unterwelten-Verein hat ihn in zweijähriger Bauzeit erstellt. Es handelt sich um den einzigen echten Fluchttunnel, der heute noch zu besichtigen ist.

Bereits 1999 hatte Regisseur Marcus Vetter mit „Der Tunnel“ einen Dokumentarfilm über den Fluchttunnel von 1962 gedreht. Dabei bildete das Archivmaterial der NBC den Grundstock des Films, in dem auch Zeitzeugen zu Wort kamen. Zum 60. Jahrestag des Mauerbaus 2021 erstellte Vetter unter dem Titel „Tunnel der Freiheit“ eine zweite Fassung, bei der er Filmausschnitte restaurierte, die Tunnelflucht in internationale Zusammenhänge einordnete und erneut Beteiligte traf. Die Doku zeigt der Bayerische Rundfunk am 28. September um 22.45 Uhr.

In Kooperation mit

Anzeige