100 Jahre „Public Opinion“ von Walter Lippmann - Die Öffentlichkeit ist eine Arena

Als vor 100 Jahren das Buch „Public Opinion“ erschien, hob der Autor Walter Lippmann unsere „Karten von dieser Welt“ hervor. Gemeint ist ein Orientierungswissen, das mal mehr, mal weniger hinterfragt wird, aber als Raster der Umweltwahrnehmung im weitesten Sinne seine Funktion hinreichender Gewissheit über den Lauf der Dinge vermittelt. Damals wie heute gilt: Es gibt Themen, die uns interessieren müssen, und Themen, die uns interessieren. 

Von sich selbst sagen zu können, einigermaßen gut informiert zu sein, war immer auch eine Frage des persönlichen Anspruchs / dpa
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Autoreninfo

Michael Jäckel ist Professor für Soziologie an der Universität Trier. Zu seinen Schwerpunkten gehören die Konsum- und die Mediensoziologie. Er ist Verfasser mehrerer Einführungs- und Lehrbücher. Seit 2011 ist er Präsident der Universität Trier und aktives Mitglied der Hochschulrektorenkonferenz.

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Gegenwärtig wird jeder Tag als Strapaze erlebt. Es fehlt auf allen Ebenen an Entspannung, die Erschwernisse im Alltag wollen nicht weichen, die Gefahren für den Frieden und den Wohlstand lassen das Sorgenbarometer auf hohem Niveau. Eigentlich sollte man meinen, dass die Menschen diesen Herausforderungen begegnen, indem sie enger zusammenrücken. Wenn aber gegenwärtig über die Bedeutung von Integration gesprochen wird, kommen vermehrt auch Hinweise auf die soziale Distanz hinzu. 

Wer zum Beispiel danach fragt, wie gespalten eine Gesellschaft ist, erhält selten beschwichtigende Antworten. Das Bauchgefühl redet mit und dient als „quasi-statistisches Wahrnehmungsorgan“ – ein Begriff, den Elisabeth Noelle-Neumann in ihren demoskopischen Analysen verwandte. Ein differenziertes Bild kann daraus gelegentlich erwachsen, für einen warnenden Hinweis mag es allemal genügen. 

Ein Raster der Umweltwahrnehmung

Als vor 100 Jahren das Buch „Public Opinion“ in den USA erschien, hob der Autor Walter Lippmann unsere „Karten von dieser Welt“ hervor. Er meinte damit ein Orientierungswissen, das mal mehr, mal weniger hinterfragt wird, aber als Raster der Umweltwahrnehmung im weitesten Sinne seine Funktion hinreichender Gewissheit über den Lauf der Dinge vermittelt. Insgesamt war es ein nüchterner Blick auf die öffentliche Meinung, ihre Beobachtung und Wahrnehmung, ohne Zweifel auch beeinflusst von den Erfahrungen des Ersten Weltkriegs. Zahlreiche Beispiele zeigten, wieviel Konstruktion in der Vermittlung von Ereignissen oder Personen liegen kann. Zu dem Bild von der großen Politik hieß es beispielsweise: 

„Sogar zu ihren Lebzeiten werden große Menschen der Öffentlichkeit gewöhnlich nur über das Medium einer fiktiven Persönlichkeit bekannt. Ein Körnchen Wahrheit liegt daher in dem alten Sprichwort, daß niemand vor seinem Diener als Held bestehen kann.“ 

Wir wären zugleich nicht klüger, wenn wir von einem solchen Diener wüssten. Und er wäre wohl zu Verschwiegenheit verpflichtet, wenn neugierige Fragen über das hinausgehen, was die Medienaugen sehen können. Unentwegt sucht die Neugierde nach den Beweggründen im Vordergrund, weil im Hintergrund etwas Geheimnisvolles vermutet wird. 

Die Ränder des Sockels sehen

Die „Helden“-Metapher ist im Feld des Politischen weit von der Einschätzung des früheren amerikanischen Präsidenten Truman entfernt: „Ein Staatsmann ist ein Politiker, der seit fünf oder zehn Jahren tot ist.“ Wer zu einem politischen Helden wird, muss auch die Ränder des Sockels sehen, auf dem er steht. Bereits vor vielen Jahren ist aus der Dauerbeobachtung der politisch Verantwortlichen ein Prozess erwachsen, in dem die permanente Nähe zu den Protagonisten häufig mit einer wachsenden Distanz, gelegentlich auch Verachtung, einhergeht. An eine Zunahme von Kurzzeitverehrungen wird man sich wohl gewöhnen müssen. Die Karten von dieser Welt werden also auch schneller neu gemischt.
 

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Erstaunlich ist zudem, wie schnell bestimmte Persönlichkeiten aus der Wissenschaft und dem öffentlichen Leben zu regelmäßigen Begleitern der täglich wiederkehrenden Frage- und Diskussionsrunden werden. In vielen Belangen des Alltags wird Spontaneität oder die Fähigkeit, sofort zu reagieren (im Englischen spricht man von „immediate reaction“), verlangt. Zugleich wird Zurückhaltung, Zögern, Nachdenken im Augenblick des Auftretens weniger gewürdigt als die prompte Antwort, die wie aus der Pistole geschossen kommt. 

Wenn zutreffend ist, dass in diesen Gesprächen eine verklausulierte Zurückhaltung dominiert, dann ist auch ein ordnendes Element, das den Nachrichtenfluss kanalisiert, schwer zu identifizieren. Lippmann würde an dieser Stelle vielleicht in Erinnerung rufen, dass 

„[...] die reale Umgebung [...] zu groß, zu komplex und auch zu fließend [ist], um direkt erfasst zu werden. [...] Obgleich wir in dieser Welt handeln müssen, müssen wir sie erst in einfacherem Modell rekonstruieren, ehe wir damit umgehen können.“ 

Selbstverständlich arbeiten viele an Geschichten, die einen Sinn ergeben sollen. Aber häufig sind es Dinge, die einfach passieren, ohne dass auch nur im Ansatz ein Zusammenhang erkennbar ist. Oder sie sind so überraschend, dass der Nachrichtenwert außer Frage steht. Die Fluss-Metapher ist insofern sehr real für die Nachrichten, aber eben auch für die Welt, die sich ständig wandelt.  

Die Architektur des Nachrichtenwesens ist jedenfalls klassisch und individualisiert zugleich. Ebenso ist der kognitive Aufwand, den Leser, Hörer, Zuschauer oder Internetnutzer an den Tag legen, ungleich verteilt. Der Binnenjournalismus, das Sich-untereinander-Beobachten, spezialisiert sich weiter und überlässt den Nachrichtenüberblick den alten Formaten aus der Zeit der Massenmedien, die zwar gerne unattraktiv gerahmt, aber nach wie vor vorhanden und von Bedeutung sind. 

Eine Frage des persönlichen Anspruchs

Von sich selbst sagen zu können, einigermaßen gut informiert zu sein, war immer auch eine Frage des persönlichen Anspruchs. Der „gut informierte Bürger“ strebt nach gut begründeten Meinungen auch in Gebieten, die ihm nicht unmittelbar von Nutzen sind, während „der Mann auf der Straße“ sich in vielen Bereichen mit vagen Einsichten begnügt. Dennoch geht es unentwegt um die Hintergründe des Vordergründigen, gerade in der aktuellen Situation. 

In wechselnden Konstellationen versuchen Journalisten im Studio und vor Ort gemeinsam mit Experten die Ereignisse und Abläufe zu verstehen. Dabei wiederholen sich nicht nur die Bilder, sondern auch das Eingeständnis, letztlich nur wenig Verlässliches sagen zu können. Das Format der Sondersendung bekommt häufig etwas Dauerhaftes und nimmt sich damit selbst das Außergewöhnliche.

Ein bloßes Abwarten entspricht nun einmal weder der Logik des Nachrichtenwesens noch den Erwartungserwartungen auf allen Seiten – vor der Kamera, dem Mikrofon oder den kleinen und großen Bildschirmen. Zum Authentischen gehört, dass das Authentische bezweifelt wird. Sehr viele Text- und Bildbotschaften wollen wahrgenommen werden. Das Gefühl, zu wenige Nachrichten zu erhalten, ist eher unbekannt, zu viel ist rasch als Vorwurf da. 

Der ständige Nachrichtenfluss ist selbst Teil einer Weltwahrnehmung, der die Würdigung von Einzelleistungen abhandenkommt. Vieles wird zur Nebensache. Nur wenige Themen können auf den oberen Rangplätzen des Themenbewusstseins rangieren. Wenn sich das eine Thema in den Vordergrund drängt, muss ein anderes in den Hintergrund weichen. Hydraulische Effekte sind daher Teil der Tagesordnung. Sie sind sozusagen nicht automatisch da, aber dennoch vorhanden. Die Nachrichtenhoheit ist evident. Erstaunlich ist allenfalls, wie schnell sich ein Nachrichtenalltag neu und teilweise alt darstellt.

Die Öffentlichkeit ist eine Arena

Es gibt Themen, die uns interessieren müssen, und Themen, die uns interessieren. „Um die Welt zu durchwandern, müssen die Menschen Karten von dieser Welt haben“, schrieb Lippmann. Manche agieren auf eine Weise, als hätten sie den passenden Kompass dazu. Sie bestimmen den Ton, während andere eine passivere Rolle einnehmen. Reden und Schweigen ergibt ein Gesamtbild, das eine zuverlässige Beobachtung zu einer methodischen Herausforderung macht. 

Beide Gruppen können zugleich auf Distanz zu den Inhalten gehen, weil gegebenenfalls Zweifel an den „augenfälligen Tatsachen“ aufkommen. Die Öffentlichkeit ist somit eine Arena, die den eher stillen Tugenden nur selten ein Forum gewährt und aus diesem Gemisch hervorgeht. Damals wie heute bleibt erstaunlich, dass das Phänomen als Adressat bleibt, obwohl oder gerade weil ihm die klaren Konturen fehlen. 
 

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