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() Der ehemalige Spiegel-Online Chef Mathias Müller von Blumencron ist heute Chefredakteur des Spiegels
Die Bild der Zukunft

Zehn Jahre Spiegel Online kosteten den Verlag 30 Millionen Euro. Seitdem das Portal auf Boulevard setzt, hat es Erfolg. Und es entfernt sich immer weiter von seinem Ursprung – dem Spiegel.

Seit zehn Jahren reist das Raumschiff „Spon“ durch das Universum Internet. Lange Zeit war es eine schwierige Fahrt. Doch jetzt keimt in der Besatzung Hoffnung auf: Am Horizont ist eine große schwarze Null erschienen. Von Gehaltserhöhungen und mehr Personal ist die Rede. In einer parallelen, spiegelverkehrten Galaxie kreist seit 57 Jahren das Mutterschiff der „Spon“. Der Riesenkreuzer, auf dem noch viele den legendären Konteradmiral Augstein verehren, ist langsamer und er ist schwerer als die „Spon“. Während deren Besatzung mit einem Getränkeautomaten auskommt, transportiert das Mutterschiff einen Trupp von Kellnerinnen mit Schürzen und gefüllten Servierwagen. Auf der „Spon“ arbeiten 45 Männer und Frauen mit zwei Sekretärinnen an der Leichtigkeit des Seins, das Mutterschiff ist ein Koloss, den langatmige Konferenzen, Intrigen und die Eigenarten von 250 Köpfen belasten. „Der Spiegel da drüben, das ist wirklich ein verrücktes Paralleluniversum“, sagt Jochen Leffers und zeigt von seinem Büro aus auf das Haus mit den zwölf Geschossen an der Ecke Brandstwiete/Ost-West-Straße in Hamburg. Leffers ist ein Spon-Redakteur, wie die Online-Schreiber im hausinternen Jargon heißen. Rund 30 Millionen Euro Verlust haben die sympathischen jungen Leute den Verlag in den vergangenen zehn Jahren gekostet. „Es ist nicht zu erwarten, dass wir dieses Geld bald wieder sehen“, bekennt Verlagsleiter Fried von Bismarck. Da der Spiegel zur Hälfte den Mitarbeitern gehört und Gewinnausschüttungen ein Teil der Gehälter sind, kam es ob der Verluste an der Brandstwiete immer wieder zu Spon-Antipathien. „Warum unterstützen wir mit unseren Anteilen eine Aktivität, die uns am Ende schadet?“, war von altgedienten Spiegel-Redakteuren zu hören. Doch dieser Streit ebbt ab. Das Fass hat offenbar einen Boden. Spätestens im nächsten Jahr, hofft von Bismarck, werde sich das Projekt selber tragen. Der Vater des Wandels heißt Mathias Müller von Blumencron. Er ist kein Kaufmann, sondern seit 2000 Chefredakteur von Spiegel Online, und er hat seiner Redaktion eine radikale Kur verordnet: Aktualität und Boulevard. Damit ist es Müller von Blumencron gelungen, Spiegel Online zum Mainstreamkanal im Internet zu machen – und neue Sorgen unter Spiegel-Traditionalisten auszulösen: zu viele schnell geschriebene und zu viele abgeschriebene Geschichten und zu viel unseriöser Klatsch, lauten die Vorwürfe. Doch der Aufschwung von Spiegel Online ist bemerkenswert: Im Frühjahr 1999 registrierte das Portal rund 4,8 Millionen Seitenabrufe, so genannte Page Impressions, im Monat. Heute sind es 200 Millionen. Spiegel Online hat die FAZ, die Welt, die Süddeutsche aus dem Online-Feld geschlagen und ist jetzt das deutsche Referenzmedium für Nachrichten im Netz. 40 Journalisten arbeiten für Spiegel Online, aufgeteilt in zwei Schichtdienste. Fünf davon sind Korrespondenten in Berlin. „Sie können uns einiges vorwerfen, dass wir vielleicht manchmal zu viel aus den Agenturen weitermelden, anstatt es nachzurecherchieren“, sagt Müller von Blumencron. Während er spricht, dreht er sich zu seinem Stehpult und beginnt, die Tastatur mit zwei Fingern zu traktieren. Es ist ein früher Nachmittag im August und Müller von Blumencron will schauen, womit die amerikanische Website slate.com den Tag in Amerika beginnt. Er orientiere sich an ein paar englischsprachigen Seiten, sagt der ehemalige USA-Korrespondent des Spiegel: „New York Times, Guardian, BBC, Salon.“ Heute hat slate mit einer Irakgeschichte aufgemacht, die Müller von Blumencron kurz anliest, dann wechselt er zur New York Times. „Wir arbeiten hier am Limit, mit relativ wenig Geld …“ Er hält inne und liest einen Text auf der Seite der Times. Später wird er fragen, ob man das Papier an der Pinnwand entdeckt habe. Es ist eine Seite aus einem Interview mit Joschka Fischer, der gefragt wird, ob er Spiegel Online nutze. Fischer: „Mehr die kürzeren Artikel, die News, das ist die Stärke des Mediums. Kostet euch das eigentlich Geld?“ Spiegel: „Überschaubar, das ist eine Investition in die Zukunft“, Fischer: „Mmm, soll ich das noch mal euren Chefredakteuren sagen?“, Kommentar Müller von Blumencron: „Was er dann auch tat.“ Als Mathias Müller von Blumencron den Job vor vier Jahren antrat, erhielt er den klaren Auftrag die Verbreitung von Spiegel Online zu steigern und Geld zu verdienen. Seitdem hat er einige neue Werbeformen durchgesetzt, zum Beispiel so genannte „Sub-Channels“: Das sind Werbeflächen innerhalb der Spiegel Online-Seitenoptik, die wie ein redaktionelles Element aussehen – solange man nicht das Wörtchen „Anzeige“ entdeckt. Volkswagen nutzt diese Form. Die monatlichen Einnahmen von Spiegel Online betragen im Moment rund 300 000 Euro. Fünf Prozent davon stammen aus dem Verkauf von Artikeln, zum Beispiel aus der bunten Sammlung der Dossiers, die jeweils zwei Euro kosten. Die Themen: Alzheimer, die CDU, die NPD, Hiroschima, die Rechtsschreibreform oder unter dem Titel „Schwups – schon steht er“ auch Impotenz. Schwups, und schon wären wir beim Problem. Denn mit der Größe des Publikums sinkt das Niveau. In der Branche wird Spiegel Online schon als Bild-Zeitung der Zukunft gehandelt. Ein Blick auf die Top-Ten-Themen im Juli 2004 zeigt, warum. Mit rund 22 Millionen Abrufen dominierten (wieder einmal) die Geschichten des bunten Ressorts „Panorama“. Ganz vorne lagen Beiträge wie „Schwere See: Monsterwellen in der Radarfalle“ (394 985 Klicks) oder „Rockfest in Norwegen: Live-Sex für den Regenwald“ (340 969). Für Kritiker ein Beleg für eine Tarnungsstrategie: Nach außen gibt sich der Online-Spiegel politisch, doch in Wahrheit fördert (und füttert) er vor allem die Boulevardthemen. Auf das Stichwort „Boulevard“ hat Müller von Blumencron gewartet: „Ich kenne diesen Vorwurf – wir seien nicht ernst, nicht nachrichtlich genug. Das ist falsch. Ich verstehe uns als Medium für Hintergrund, Analyse und für Spaß. Am Ende kommt es auf die Mischung an. Natürlich machen wir auch Boulevard, aber es ist besserer Boulevard“, sagt er. Doch beweisen die Top-Themen von Spiegel Online nicht, was Kritiker im eigenen Haus und außerhalb sagen.

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