WHO-Studie: Übersterblichkeit in Deutschland auffällig hoch - Die Unfehlbaren lernen nicht

In ihrer jüngsten Studie zur globalen Übersterblichkeit stellt die Weltgesundheitsorganisation der deutschen Pandemiepolitik ein schlechtes Zeugnis aus: Schweden und andere vermeintlich leichtsinnige Locker-Länder schneiden deutlich besser ab. Die Selbstwahrnehmung als erfolgreiches „Team Vorsicht“ muss sich dringend einem Realitätscheck unterziehen, vor allem angesichts einer Neuauflage möglicher Fehler im Herbst. Doch es ist fraglich, ob eine neutrale Evaluation der Maßnahmen jemals zustande kommt.

Sie dürften an einer kritischen Evaluation der Corona-Maßnahmen kaum interessiert sein: Christian Drosten, Lothar Wieler und Karl Lauterbach / 14.01.2022, dpa
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Philipp Fess hat Literatur-, Kunst- und Medienwissenschaften studiert und arbeitet als Journalist in Karlsruhe.

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Im Internet können Sie T-Shirts mit dem Aufdruck „Schweden ist gescheiter“ bestellen. Das „t“ fehlt, anders als bei der massenweise vorgetragenen apodiktischen Aussage im Verlauf der Corona-Krise. Zuletzt hatte selbst der schwedische König den berüchtigten Satz in den Mund genommen, als er über den zwanglosen „Sonderweg“ seines Landes sprach. Dabei stimmt er überhaupt nicht. Zumindest legt das die Weltgesundheitsorganisation WHO in ihrer jüngsten Studie zur globalen Übersterblichkeit in Bezug auf Covid-19 für die Jahre 2020 bis 2021 nahe: Die Zahl der erwarteten Todesfälle pro 100.000 Einwohner wird in Deutschland mit 116 mehr als doppelt so hoch eingeschätzt wie die in Schweden mit 56.  

Schweden als Strohmann

Potenzielle Erfolge des schwedischen Modells wurden – nicht nur in Deutschland – besonders gründlich im Keim erstickt. Dabei wurde sich zuerst auf die anfangs offenbar tatsächlich höheren Todeszahlen gestürzt, bevor man diese Vergleichbarkeit dann mit dem Argument vom Tisch fegte, dass Schweden ohnehin dünner besiedelt sei, die Schweden eben die folgsameren Bürger seien oder das deutsche Volk im Durchschnitt älter und dicker sei als das schwedische (was stimmt). Ob diese Faktoren alleine den Unterschied gemacht haben können, wäre allerdings noch zu beweisen. Was hingegen in der politisch völlig überspannten Diskussion ausgeblendet wird, zumal von den politischen Entscheidungsträgern: Das gilt auch für die Maßnahmen.

Denn die Studienergebnisse drohen eine weitere wissenschaftlich verkleidete letzte Wahrheit als politische Phrase zu enttarnen: dass Deutschland bisher nur deshalb „so gut durch die Pandemie“ gekommen ist, weil seine Maßnahmen so streng waren – und an Strenge waren sie zeitweise durchaus schwer zu überbieten. Diese Wahrheit wurde von Politkern und telemedialen Wissenschaftsgrößen wie Karl Lauterbach und Christian Drosten mehrfach wiedergekäut, vorzugsweise in der listigen Gestalt des Präventions-Paradoxons – mit dem sich je nach Modellierung alle möglichen Eingriffe begründen lassen, nach dem Motto: „Ich musste Ihnen ins Bein schießen, sonst wären Sie vom Auto überfahren worden.“ Vor diesem Hintergrund der argumentativen Immunisierung der Maßnahmenpolitik muss es einem nicht mehr die Sprache verschlagen, wenn die Befürworter sich jetzt gegen eine Evaluierung aussprechen, weil sie die Datenlage für unzureichend halten.     

Deutschland ist in der Beweispflicht

Spätestens seit der WHO-Studie ist Deutschland nun aber gegenüber Ländern wie Spanien und Großbritannien, Dänemark und Schweden in der Beweispflicht (und nicht andersherum), welche hierzulande für „freedom days“ und die Einstufung von Corona als grippeähnliche, endemische Erkrankung verächtlich gemacht wurden. Entsprechende Vorschläge hat der Bundesgesundheitsminister bemerkenswert selbstverständlich abgelehnt, auch wenn die Experten eines ganzen Bundeslands sie geschlossen forderten.      

Die Bedenken, dass „wahllose Einschränkungen womöglich mehr schaden als nutzen“, wie Kassenärzte-Chef Andreas Gassen zuletzt in Bezug auf die WHO-Studie betonte, sind nicht neu. Sie wurden schon von Beginn der Pandemie an geäußert. Es ist mittlerweile rund zwei Jahre her, dass der Oberregierungsrat Stephan Kohn dem Bundesinnenministerium diese Bedenken vorgetragen hat und damit auf taube Ohren gestoßen ist. Dass sein Arbeitgeber eher darauf fokussiert war, ein Strategiepapier mit Worst-Case-Szenarien vorzubereiten, spricht Bände über den deutschen Ansatz der Pandemiepolitik. Kohn ist mittlerweile suspendiert, dabei wäre es eher angebracht, ihn zu rehabilitieren.

Die Unfehlbarkeits-Falle

Seine kritische Stimme könnte man gerade jetzt für die zwar geplante, aber unter Mitwirkung des Bundesgesundheitsministers auffällig zäh in Gang kommende Evaluation der Corona-Maßnahmen gut gebrauchen – und wenn auch nur dazu, um Bedenken auszuräumen. Vor allem aber könnten Positionen wie die von Kohn, des Epidemiologen Klaus Stöhr oder der Thesenpapier-Gruppe um Matthias Schrappe wichtige Gegengewichte zu den aktuellen Mitgliedern des Sachverständigenrats bieten, von denen einige entweder schon mit größtem Eifer für die Maßnahmen eingetreten sind oder sie sogar selbst mit angeregt haben, so wie auch Christian Drosten die präzedenzlose Maßnahme des Lockdowns nach chinesischem Vorbild. 

Theoretisch gewinnt in einem faktenbasierten Austausch das bessere Argument. Allerdings hat spätestens die Corona-Krise gezeigt, dass nicht mehr „die“ Wissenschaft und „objektive“ Ergebnisse den Diskurs beherrschen, sondern deren – folglich: postfaktische, also: politische – Interpretation. Noch besser als ein ausgewogenes Gremium könnte also ein unabhängiges sein, möglicherweise sogar aus dem Ausland. Dann stellt sich allerdings die Frage, wer in den vergangenen zwei Jahren nicht gezwungen wurde, eindeutig Position zu beziehen und noch wirklich unabhängig ist.

Aber selbst wenn sich jemand fände: Das alles hilft nichts, wenn die oberste Prämisse für jede Reflexion missachtet wird, die besonders schwer wiegt, wo es um die Einschränkung von Grundrechten geht: dass man aus Fehlern lernt. Wer sich schon im Voraus für unfehlbar hält, wird seine Fehler notgedrungen wiederholen. Und das steht für den Herbst zu befürchten.

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