Wahlwerbung in Berlin - Das ewige Leben

Jeden Tag sterben Menschen. Ein Skandal. Nur gut, dass es eine Partei gibt, die sich der Sache annimmt und Forschungsgelder gegen den Tod einsetzen will. Wie könnte man dagegen sein? Wer will schon mit dem Tod gemeinsame Sache machen?

Immer wieder zieht es Menschen in den Himmel über Berlin. Das muss ein Ende haben / dpa
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Ralf Hanselle ist stellvertretender Chefredakteur von Cicero. Im Verlag zu Klampen erschien von ihm zuletzt das Buch „Homo digitalis. Obdachlose im Cyberspace“.

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In diesem Leben wird das nichts mehr mit der Bundeshauptstadt. Als Berliner darf ich das getrost und frei heraus sagen. 65,9 Milliarden Euro öffentliche Schulden in 2021. Ein drohendes Kostendefizit bei Krankenhäusern von 450 Millionen Euro – und zu allem Überfluss auch noch eine stetig abnehmende Lebenserwartung. Was hilft es da noch, dass wir im Februar neu wählen dürfen, wenn im März vielleicht schon 3141 Menschen weniger unter dem berühmten Himmel über Berlin leben. Pro Jahr sind das dann immerhin 37.702 tote Berliner. Gut 3000 mehr als noch 2019.

Jetzt will man gar nicht darüber fabulieren, ob das vielleicht mit dem berüchtigten Feinstaub in Verbindung steht, mit Corona oder gar den Affenpocken. Mir geht es um etwas anderes: etwas Großes. Etwas wirklich Weltbewegendes. Wir müssen etwas dagegen tun! Hier verenden Menschen, und wir gucken zu. 100.000 Menschen sterben täglich an Alterskrankheiten. Zeit, sie zu retten!

 

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Der letzte Satz ist übrigens nicht von mir. So viel Pathos steht mir gar nicht. Diesen Appell habe ich mir von einem Wahlplakat in Charlottenburg abgeguckt. Mitten im Kampf um das Amt des Regierenden Bürgermeisters. Eines Morgens stand die Forderung einfach vor mir. In knallgrünen Lettern. Bei der „Partei für schulmedizinische Verjüngungsforschung“.

Ein Herz für 562-Jährige

Ohne Scheiß, wie der pubertierende Sohn unserer Nachbarn dann immer gerne noch hinzufügt. Beim heiligen Volksverpetzer, das ist wirklich die Wahrheit! Und deshalb fordert die Partei, die bei der letzten Wahl noch unter dem corona-konformeren Decknamen „Partei für Gesundheitsforschung“ agierte und in einigen Bezirken immerhin 0,9 Prozent der Stimmen holte, eine „schnelle Entwicklung von Medizin, mit der Menschen durch Reparatur von Schäden tausende Jahre gesund leben“.

Holy Moly! Da nimmt endlich einer die politische Hypermoral im Rahmen aller gebotenen medizinischen Möglichkeiten beim Wort: Leave no one behind – auch nicht die 562-Jährigen! Noch ist das vielleicht nur der vertrocknete Traum einer Methusalem-Lobby. Doch selten ist der um sich greifende Posthumanismus so gut ausformuliert worden wie hier. Für die Berlin-Wahl heißt das zunächst natürlich nur eines: Deutschland muss sich künftig wirklich warm anziehen. Die Hauptstädter gehen in die Verlängerung!

 

Dieser Text stammt aus der Februar-Ausgabe des Cicero, die Sie jetzt am Kiosk oder direkt bei uns kaufen können.

 

 

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