Von der AfD bis zur Atomkraft - Die Politik der moralischen Panik

Die dieser Tage ausgefochtene Dämonisierung der AfD und der Atomkraft muss als moralische Panik verstanden werden, die längst auch die Redaktionsstuben erfasst hat. Was sich als begründete Angst vor Gefahr darstellt, ist in Wirklichkeit eine hochmanipulative Form der Politik.

„Der Schrei“ von Edvard Munch / picture alliance
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Autoreninfo

Bernd Stegemann ist Dramaturg und Professor an der Hochschule für Schauspiel (HfS) Ernst Busch. Er ist Autor zahlreicher Bücher. Zuletzt erschienen von ihm das Buch „Die Öffentlichkeit und ihre Feinde“ bei Klett-Cotta und „Identitätspolitik“ bei Matthes & Seitz (2023).

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Moralische Panik ist eine Methode, die in den Giftschrank politischer Rhetorik gehören müsste. Doch kein anderes Mittel wird so erfolgreich und zugleich so unentdeckt angewendet. Im Wettbewerb um die bösen Worte liegt der Populismus weit vorn, die moralische Panik wird meistens nicht bemerkt und selten kritisiert. Bereits dieses Fliegen unter dem Radar macht sie zu einer wesentlich gefährlicheren Waffe als den Populismus. Man könnte die moralische Panik inzwischen als die clevere Variante des Populismus bewerten. Wie funktioniert sie also?

Am Anfang steht eine Sorge, die ein Teil der Gesellschaft hat. Die Angst der Grünen vor der Atomkraft kann hier als Beispiel dienen. Die Sorge wird nun öffentlichkeitswirksam gemacht, indem man einzelne Ereignisse so stark vergrößert, dass sie zum Symbol der Angst werden können. Ein Castor-Transport oder ein geplantes Atomendlager werden dann zum Mahnmal der drohenden Apokalypse. 

Geschieht dann eine tatsächliche Katastrophe wie die von Fukushima, ist die Öffentlichkeit durch den andauernden Alarm soweit erregt, dass nun die gewünschte Panik-Reaktion erzwungen werden kann. Der Ausstieg aus der Atomkraft in Deutschland war 2011 nur noch eine Frage von Tagen. Die notwendige Diskussion, die eine so wichtige Entscheidung für eine Industrienation im Klimawandel bedeutet, wurde mit Merkel’scher Alternativlosigkeit abgewürgt. Moralische Panik ist also ein schlechter Ratgeber, da er zu unbedachten Entscheidungen führt, deren Folgen weitreichend und teuer werden können. 

Seit ihrer Gründung haben die Grünen eine Routine darin, immer neue Panik-Wellen loszutreten. Ihre aktuell erfolgreichen Themen sind der Klimawandel und die AfD. Ein Wetterbericht wird zum Vorboten der Klimakatastrophe vergrößert, und ein Treffen von AfDlern mit Rechtsradikalen und CDU-Mitgliedern wird zur Wannseekonferenz erklärt. Der Trick besteht darin, ein erkennbar zutreffendes Ereignis – es gab ein Treffen in Potsdam – mit einer Dimension zu verknüpfen, die weit über das Konkrete hinausweist. Das aktuelle Potsdamer Treffen fand nicht 1942 statt, es waren keine Offiziere der SS dort, und sie haben auch nicht die endgültige Vernichtung der Juden geplant. 

Nazi-Vergleiche sind zu wertvoll in ihrer Sprengkraft, Empörung freizusetzen

In einer nicht panischen Öffentlichkeit würde der Vergleich zwischen den beiden Treffen nirgendwo hinführen, denn jedem wäre klar, dass sich hier nichts vergleichen lässt. Und wenn man es doch versuchen wollte, so müsste man die Dimension des Holocaust auf den Begriff der Remigration verkleinern. Damit hätte man sich dem Vogelschiss-Vergleich von Gauland in seiner Absicht, den Nazi-Schrecken zu verharmlosen, beigesellt. Doch diese Bedenken können die Bewirtschafter der moralischen Panik nicht bremsen, denn Nazi-Vergleiche sind zu wertvoll in ihrer Sprengkraft, Empörung freizusetzen. In jedem politischen Gegner droht die Wiederauferstehung des Führers, und in jedem Aufstand der Anständigen wird auf die Verwandlung zur Sophie Scholl gehofft. 

Die Fixierung auf die Nazi-Zeit ist links wie rechts verbreitet. Das Hitler-Tourette von Höcke und die Sophie-Scholl-Sehnsucht taugen aber beide zu nichts in der aktuellen politischen Lage außer zur Empörung. Die Grünen und die AfD haben am besten verstanden, dass in einer Wohlstandsdemokratie eine wachsende Zahl von Wählern empörungsbereit ist. Die Empörungsbereitschaft hat jedoch unterschiedliche politische Inhalte. Der eine Teil ist über illegale Migration, Kriminalität oder den Niedergang der Wirtschaft besorgt. Der andere Teil ist über patriarchale Strukturen, rassistische Sprache und rechte Politik in Sorge. 

 

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Die Konfliktlinie verläuft aber nicht nur zwischen den entgegengesetzten politischen Forderungen, sondern sie verläuft vor allem zwischen der emotionalen und moralischen Legitimation der jeweiligen Politik. Und in diesem Kampf kommt der moralischen Panik eine entscheidende Rolle zu. Denn im Unterschied zum Populismus bleibt sie nicht nur häufig unbemerkt, sondern das Mittel selbst gilt als Beweis für die moralische Qualität der Empörung. Der Populismus ist wirkungsvoll in der Zuspitzung der Konflikte und seinen einfachen Lösungsrezepten. Um diese Wirkung abzuschwächen, wird unermüdlich behauptet, Populismus sei rechts und darum böse. Heute reicht die Unterstellung, eine Aussage sei populistisch, und automatisch rümpfen alle die Nase und wittern rechte Absichten. 

Die moralische Panik vermeidet eine solche Markierung, da sie anders funktioniert. Sie behauptet, mit Entsetzen auf die Spaltung zu reagieren. Um diese Behauptung zu unterstreichen, beklagt sie lautstark, dass der Populismus die Gesellschaft spaltet. Ihr erster Trick besteht also in der Behauptung, nicht die Spaltung zu wollen, sondern auf ihr Vorhandensein mit einem moralischen Aufschrei zu reagieren. In ihrer Weltsicht spaltet der Populist, während der gute Teil in einer berechtigten Sorge über den bösen Teil in moralische Panik verfällt. Es ist unschwer zu erkennen, dass das Resultat das gleiche ist. 

Wenn auf den Demonstrationen gegen die AfD gebrüllt wird: Ganz München (oder die jeweilige Stadt) hasst die AfD, so ist die Spaltung nicht nur offensichtlich, sondern soll herbeigeführt werden. Und wenn viele Demoplakate CDU und FDP ins Lager der Rechtsextremen schieben, wird deutlich, an welcher parteipolitischen Grenze die Spaltung verläuft. 

Wer es wagt, sich nicht alarmieren zu lassen, macht sich automatisch verdächtig

Auf diesen Demonstrationen werden modellhaft alle Bausteine der moralischen Panik angewendet. Man nimmt als erstes ein Ereignis und stilisiert es durch eine dramatisierende Darstellung zu einem Fanal des Bösen: Geheimtreffen, Wannseekonferenz, Vertreibung von Millionen Menschen. Hat man einmal ein solches Symbol der Gefahr erschaffen, kann es ausdauernd bewirtschaftet werden. Jeden Tag müssen neue Details ans Licht kommen, und auf jedem Kanal muss erneut die ganze Geschichte erzählt werden. Denn bereits in der Art der Darstellung kommt die Eigenart der moralischen Panik zur Entfaltung. Der Bericht muss von einem Entsetzen grundiert werden, das dem Berichteten nicht nur eine Glaubwürdigkeit, sondern auch eine eindeutige moralische Verdammung zuspricht. Das Geschehene ist so ungeheuerlich, dass dem Nachrichtensprecher bereits die Stimme stockt. 

Hat diese Phase gut funktioniert, geht von ihr ein Solidarisierungsdruck aus. Wer immer es wagt, sich von dieser aufrüttelnden Botschaft nicht alarmieren zu lassen, der macht sich automatisch verdächtig. Wer nicht der Panik verfällt, ist offensichtlich kein Freund der Demokratie. Damit hat die moralische Panik ihr Ziel erreicht. Die Gesellschaft spaltet sich in genau die zwei Teile, die sie braucht, um ihre Seite in größtmögliche Alarmstimmung zu versetzen. Doch diese Stimmung vernebelt die konkreten Interessen und taucht alles in das Blitzlicht des Ausnahmezustands. In einer solch panischen Stimmung werden, siehe Atomausstieg, Entscheidungen getroffen, die sich als voreilig, falsch und folgenreich entpuppen. Und es werden, siehe Anti-AfD-Demonstrationen, wohlige Wir-Gefühle erzeugt, die an keinem der Probleme, für die die AfD nur ein Symptom ist, etwas verbessern. 

Der fatale Erfolg der Methode besteht darin, einen Teil der Gesellschaft zum Feind zu erklären und in dessen Lager ein Ereignis so alarmistisch hervorzukehren, dass es zum Symbol der Gefahr gemacht werden kann. Anschließend wird das Symbol wirkungsvoll veröffentlicht, so dass alle sehen können, wo der Feind steht, um daraus den moralischen Zwang abzuleiten, dass nun alle, die nicht böse sein wollen, gemeinsam gegen den Feind vorgehen müssen. Der Unterschied zum Populismus besteht darin, dass die moralische Panik als Methode selbst nicht in Erscheinung tritt.

Dieser Trick funktioniert dadurch, dass die gute Seite sich als Opfer der bösen Seite inszeniert. Sie ist entsetzt und fassungslos über das, was dort geplant wird. Sie steht ohnmächtig vor dem Feind und ist darum zu jeder Reaktion berechtigt. Durch die Konstruktion einer Opfer- und einer Täterseite wirkt alles, was die Opferseite nun unternimmt, wie eine legitime Reaktion. 

In einer gereizten Öffentlichkeit wird das Gefühl zur letztgültigen Instanz

In einer Konsumdemokratie, in der jeder gelernt hat, dass alle Botschaften einen Zweck verfolgen, ist nichts so wirkungsvoll wie eine Botschaft, die wie ein Hilferuf wirkt. In den sozialen Netzwerken verbreiten sich die #Aufschrei-Botschaften am besten. Die moralische Panik ist die zur politischen Methode entwickelte Form dieser Alarmrufe. Und dass sie nicht wie eine Methode wirkt, macht das Geheimnis ihres Erfolgs aus. Denn es soll das authentische Entsetzen, die echte Angst und fassungslose Sorge sein, die sich darin ausdrückt. Jeder Einwand, der die Inszenierung offenlegt, wird darum mit lauter Empörung mundtot gemacht. So wird behauptet, dass die Demonstrationen nicht vom Versagen der Ampel-Regierung ablenken sollen, sondern für die Demokratie kämpfen. Jedem Versuch, darin die parteipolitische Absicht zu kritisieren, wird entgegnet, man sei nicht parteilich, sondern gut; man sei kein Grünenanhänger, sondern in Sorge. 

Eine solche Moral-Politik hat bis heute keine relevante Gegenwehr von anderen Parteien zu fürchten. Der Grund hierfür liegt in der doppelten Verteidigung. Zum einen erscheint die moralische Panik gerade nicht wie eine politische Strategie, sondern sie wirkt wie das unmittelbare Entsetzen. Und zum anderen ist es ein Tabu, Gefühlen zu widersprechen. Wer öffentlich Angst bekundet, muss nicht damit rechnen, dass ihm jemand widerspricht. Wer Panik vor dem Klimawandel hat, sieht sich nicht nur legitimiert, sondern sogar gezwungen, die Mona Lisa mit Suppe zu bewerfen. In einer gereizten Öffentlichkeit wird das Gefühl zur letztgültigen Instanz. So rückt das Gefühl in eine Machtposition, um die zwangsläufig ein neuer Konflikt ausbricht. 

Da man Gefühlen nur schwer widersprechen kann, achten die Virtuosen der moralischen Panik penibel darauf, welche Gefühle berechtigt sind. Angst vor der AfD ist absolut gültig und begründet. Angst vor Migration ist absolut unbegründet und Beweis für Rassismus. Angst vor dem Klimawandel ist berechtigt, Angst um den Bauernhof ist unbegründet und wahrscheinlich rechts. So zieht sich die Spaltung der Gesellschaft sowohl in den Themen, den Gefühlen und den politischen Mitteln durch alle Bereiche. Das Mantra der regierenden Parteien lautet darum: Populismus ist böse, da er die Gesellschaft spaltet; moralische Panik ist keine politische Strategie, sondern die unwillkürliche Reaktion der guten Demokraten auf die Bösen. 

Aber moralische Panik ist politischer Aktivismus, der es schafft, sich als erschrockenen Zeitgenossen zu tarnen. Ein aufgeklärter Journalismus würde die politische Absicht darin erkennen und ihm nicht auf den Leim gehen. Doch der Umgang mit der moralischen Panik der letzten Wochen zeigt, wie wenig die übergroße Mehrheit der Journalisten zu dieser Arbeit bereit ist. 

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