Vollständig Geimpfte erkranken an Corona-Virus - „Die Impfung schützt nicht zu 100 Prozent vor einer Infektion“

Immer mehr Menschen werden gegen das Corona-Virus geimpft. Dennoch sind schon mehrere Tausend Infektionen bei knapp 15 Millionen vollständig Geimpften aufgetreten. Im Interview erklärt der Virologe Helmut Fickenscher, woran das liegt und warum er die Sorgen der Menschen verstehen kann.

Mit dem Impfnachweis soll das gewohnte Leben wieder möglich werden / dpa
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Autoreninfo

Sina Schiffer studiert an der Rheinischen Friedrich-Wilhelms-Universität in Bonn Politik und Gesellschaft und English Studies. Derzeit hospitiert sie bei Cicero. 

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Prof. Dr. Helmut Fickenscher ist Direktor des Instituts für Infektionsmedizin des Universitätsklinikums Schleswig-Holstein und der Christian-Albrechts-Universität zu Kiel sowie der Präsident der Deutschen Vereinigung zur Bekämpfung der Viruskrankheiten. 

Herr Fickenscher, mehrere Tausend Corona-Infektionen sind bei knapp 15 Millionen vollständig Geimpften aufgetreten. Was heißt das für den weiteren Umgang mit dem Virus? 

Zumindest ist offensichtlich, dass die Impfung nicht zu 100 Prozent vor einer Infektion schützt, sondern nur zu einem sehr hohen Prozentsatz. Von anderen Impfungen kennen wir solche Phänomene auch, wie zum Beispiel von der Grippeimpfung – dort ist der Anteil massiv niedriger. Das ist also ein sehr gutes Ergebnis.

Warum fällt die Testpflicht für Geimpfte weg? 

Die Wahrscheinlichkeit für eine Infektion nach der Impfung ist sehr gering sowie für die Weitergabe des Virus. 

Wie lange braucht der Körper, um den Impfschutz vollständig anzunehmen? 

Man geht davon aus, dass der Impfschutz zwei Wochen nach der zweiten Impfung vollständig ausgeprägt ist. 

Können Sie die Besorgnis der Menschen verstehen? 

Solche Nachrichten verwirren und rufen natürlich auch Besorgnis hervor, aber der extrem hohe Prozentsatz des Schutzes ist das wesentlich bessere Argument. Soweit ich informiert bin, ist der weitaus überwiegende Anteil der Infektionen vollständig geimpfter Personen sehr mild und mit einer sehr niedrigen Viruslast behaftet, sodass nur mit einer sehr geringen Wahrscheinlichkeit mit Folgeinfektionen anderer Personen gerechnet werden muss. 

Stellen neue Virus-Mutanten eine Gefahr für den vollständigen Impfschutz der Menschen dar?

Die kontinuierliche Veränderung der RNA-Viren ist etwas völlig Normales und ist bei den Corona-Viren schwächer ausgeprägt, als wir es von der Grippe kennen – man hat es aber noch nie so genau und zeitnah untersucht. Die Gefährdung, die momentan diskutiert wird, ist, ob die Antikörper noch neutralisierende Eigenschaften haben, die die Personen nach einer Impfung gebildet haben.

Die Antikörperreaktion ist auch nur ein Teil der Immunreaktion – ein anderer wichtiger Teil ist die Zellimmunität – durch Killerzellen. Beides zusammen ist bis jetzt sehr robust. Bis jetzt hat es sich noch nicht bewahrheitet, dass der Impfschutz nicht mehr wirkt. Sollte es sich tatsächlich bewahrheiten, kann man zumindest die mRNA-Impfstoffe relativ leicht anpassen und solche Anpassungen sind auch schon vorbereitet. Dieser Plan B lag der kürzlich erfolgten Impfstoff-Großbestellung der Europäischen Union bereits zugrunde. 

Helmut Fickenscher / UKSH

Wann gehen Sie davon aus, dass Geimpfte sich wieder impfen lassen müssen? 

Das ist bisher nur eine Annahme. Nachdem noch nicht so lange geimpft wird, kann man das noch nicht so gut beurteilen. Aus meiner Sicht sollte man die Priorität beibehalten. Die Bevölkerung sollte zuerst möglichst vollständig durchgeimpft werden. Sobald man die Marke von 60 Prozent geimpfter Personen erreicht, kann man davon ausgehen, dass die Pandemie an Fahrt verliert und die Fallzahlen sinken werden. Ob das nun ab 60 oder 70 Prozent der Fall sein wird, ist nicht klar zu sagen. Man kann aber davon ausgehen, dass die Fallzahlen damit drastisch sinken werden.  

Was ist mit einer Impfung für Kinder und Jugendliche? 

Wenn jetzt noch Kinder und Jugendliche zwischen zwölf und 16 Jahren hinzukommen, ist es nochmal nützlicher, auch wenn es nur ein kleiner Teil der Bevölkerung sein wird. Aber bei jedem zusätzlichen Segment der Bevölkerung, das man mit der Impfung erreichen kann, handelt es sich um einem wichtigen Fortschritt. 

Es gibt immer noch viele Menschen, die große Bedenken wegen der Corona-Schutzimpfung haben, weil der Wirkstoff noch kaum erprobt ist. Können Sie nachvollziehen, dass man aus diesem Grund lieber auf eine Impfung verzichtet?

Diese Bedenken gegenüber Impfungen sind ja auch nichts Neues – die gibt es ja auch bereits bei anderen Impfungen. Hier ist der Nutzen aber sehr eklatant; und das Interesse an der Impfung als auch die Bereitschaft für eine Impfung, wird in Zukunft massiv zunehmen. Insbesondere wenn die Geimpften schrittweise immer mehr die eigentlichen Freiheiten zurückbekommen werden, wird dadurch ein zusätzlicher Anreiz entstehen. 

Entsteht damit aber nicht auch eine Neidgesellschaft?

In diesem Zusammenhang ist Information und Aufklärung ein sehr wichtiger Punkt, und ich glaube nicht, dass es damit zu einer Neidgesellschaft kommen könnte – sofern genug Impfstoff zur Verfügung steht.  

Gehen Sie davon aus, dass man künftig nur noch mit einem Impfnachweis sein gewohntes Leben führen kann – also mit Reisen, Konzert-, Theater- oder sogar auch Restaurantbesuchen?

Für die Übergangszeit wird das voraussichtlich so sein, aber mittel- bis langfristig wird sich dieses Virus in die Gruppe der ganz normalen Erkältungsviren einreihen. Dann wird es verhältnismäßig sehr wenige Infektionen geben und der Großteil der Bevölkerung ist bis dahin geimpft oder infiziert gewesen. Längerfristig wird es das Leben nicht mehr grundlegend beeinflussen, aber bis wir soweit sind, wird mindestens ein weiteres Jahr vergehen. 

Die Fragen stellte Sina Schiffer

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