Verschwörungstheoretiker und angebliche Experten - Macht Corona irre?

Lassen die Ohnmacht und die Angst vor dem Tod die Menschen verrückt werden? Sie demonstrieren gegen die Corona-Maßnahmen, als plane Merkel eine Diktatur, sie schimpfen über Stoffmasken, als seien sie gezwungen, Gasmasken zu tragen. Der Irrsinn reicht bis in die obersten Kreise.

Demonstranten gegen den Corona-Maßnahmen: Ohnmacht und Angst / dpa
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Christoph Schwennicke war bis 2020 Chefredakteur des Magazins Cicero.

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In diesen Tagen muss ich oft an die Schlussszene der Serie „Charité“ denken. Ferdinand Sauerbruch, der unermüdliche Chirurg und Held des Krankenhauses, hat bis in die letzten Kriegstage hinein operiert, amputiert und behandelt, selbst als schon alle Medikamente und Utensilien ausgegangen waren und die schwer Verletzten auf sein Geheiß hin mit den letzten Resten an Cognac betäubt wurden. Die Russen kommen in den Luftschutzbunker der Klinik, der Kommandant der Truppe erkennt Sauerbruch, grandios gespielt von Ulrich Noethen, und sagt ihm, das Krankenhaus müsse ganz schnell wieder auf Vordermann gebracht werden, woran es denn besonders mangele. 

Noethen blickt als Sauerbruch ins Nichts und sagt: „An Verstand.“

So ist es jetzt auch. Es fehlt an dem entscheidenden Medikament gegen das Virus, es fehlt am Impfstoff, aber vor allem fehlt es zunehmend an Verstand. Einem CSU-Politiker, mit dem ich vor fünf Wochen über den Höhenflug des Markus Söder gesprochen hatte, schwante das schon damals. Warten Sie ab, sagte er, das ist alles ganz fragil, und die Stimmung kann ganz schnell kippen. 

Ein immer noch privilegiertes Leben 

Tatsächlich erlebt man bis in den persönlichen Bekanntenkreis hinein dieses Phänomen. Man könnte meinen, das Virus mache irre, auch ohne dass es den Organismus befallen hat. Es ist am Ende die Ohnmacht, und ganz am Ende die Angst vor diesem unsichtbaren Tod, der die Menschen verrückt werden lässt. Sie schimpfen und zetern und beklagen sich über die letztlich harmlosen Einschnitte in ihr immer noch privilegiertes Leben, ohne je einen Shutdown wie in Spanien oder Italien durchlitten zu haben. Sie schimpfen über die Maske, als sei dieses Stückchen dünnes Papier so beschwerlich wie eine Gasmaske. Sie gehen auf die Straße und ballen sich in politisch wirren Gebilden zusammen. Ausgerechnet in einem der reichsten Länder, in dem die unmittelbare Not mit Soforthilfen, Kurzarbeitszuschüssen und Milliardenkrediten in alle Richtungen gepuffert wurde. Sie gebärden sich, als nutze die Bundeskanzlerin die Gunst der Stunde, ihr Gelüst als Diktatorin auszuleben, als haue die Bundesregierung die eben noch boomende Wirtschaft mit Vorsatz kurz und klein. Mal kurz überlegt, warum es die ganze Welt so macht, bis auf den Brutalo Bolsonaro in Brasilien und die vereinzelt lebenden Schweden?

Dieses Virus des Unsinns ragt weit hinein in Kreise, von denen man Vernunft gerade in Krisenzeiten erwarten würde. Ein SPD-Mann im CSU-geführten Bundesinnenministerium, er ist in der Katastrophenschutzabteilung tätig, schreibt auf offiziellem Briefpapier des Innenministeriums ein 80-seitiges Pamphlet, in dem die Bundesregierung bezichtigt wird, einer Chimäre erlegen zu sein. Der Mann schützt nicht vor Katastrophen, er facht sie an. Und er mag das vielleicht auch so. Man muss nur nachlesen, wie er einmal gegen Andrea Nahles im Rennen um den SPD-Vorsitz antrat. Da ging es nicht darum, wirklich der Chef der SPD zu werden. Es ging nur um Obstruktion. Damals war das lächerlich, vielleicht verschroben. Jetzt ist es gemeingefährlich. Weil die Menschen in ihrer Verirrung und Vereinzelung im Netz nach solchem Stoff lechzen. Und wenn das noch auf offiziellem Briefpapier steht, er danach unterdrückt wird und der Märtyrer ist, der die Wahrheit nicht sagen darf, dann ist das edelstes Dope für diese Leute.    

Wer hat ihn davon abgehalten?

Ein Sport-Mediziner versteigt sich in der FAZ zu den Behauptung, die Menschen würden nun in Scharen an Bewegungsmangel sterben, weil Sport „nur noch in den Köpfen der Virologen“ stattfinde. Macht zu viel Sport am Ende doch blöde? Wer hat diesen Mann oder sonst wen in den vergangenen sieben Wochen davon abgehalten, am Tag zehn Stunden zu joggen, Rad zu fahren oder High-Speed-Gymnastik oder Spinning zu machen? 

Ein Finanzwissenschaftler namens Stefan Homburg, seit Jahrzehnten mit Gegenmeinung als Geschäftsmodell unterwegs, aber wenigstens zu seinem Thema, weiß jetzt als Pandemie-Experte, dass alles falsch läuft. Frank Montgomery, gefühlt ungefähr 47 Jahre, jedenfalls viel zu lange deutscher Ärztepräsident und jetzt sogar Weltärztepräsident (was immer dieses vorher nie in Erscheinung getretene Gremium sein soll), redete einige Tage auf allen Kanälen gegen den Mundschutz an, während er gerade verpflichtend in Bussen und Bahnen und Supermärkten wurde. Weil er mehr schade als nutze. Das Einzige, was bis vor kurzem gegen die Masken sprach, war, dass nicht genug da waren. Tatsächlich ein schweres Versäumnis der Bundesregierung, auch des Gesundheitsministers, aber inzwischen behoben. Inzwischen ist klar, dass sich das Virus vor allem übers Sprechen in Räumen verbreitet, und dass ein Mundschutz diese Verbreitung eindämmt. Für diese Erkenntnis muss man nicht Weltärztepräsident sein. Aber mit der gegenteiligen Behauptung bekommt man eben mehr Sendeplatz. Und Sendezeit ist das Dope der Geltungssüchtigen. 

Es geht erst los

Das Ohnmachtsgefühl und die Demütigung, dass so ein fieser Winzling die Menschheit lähmt, schlägt zunehmend aufs Gemüt. Es gibt ein berühmtes Standardwerk der Psychologin Elisabeth Kübler-Ross, in dem sie mit einer Untersuchung unter Todkranken fünf Phasen bei den Probanden festgestellt hat. Die erste Phase ist der Schock. Die zweite Phase ist die Wut, die ungebremste Emotion. 

Genau in dieser Phase sind wir jetzt angekommen. Was sich da zusammenbraut hat das Zeug zu weit mehr als Pegida 2015 und danach. Und es geht erst los. Die Reproduktionszahl der Corona-Ignoranten liegt ungefähr bei 2 derzeit. Auf einen heute kommen zwei morgen. Und Geltungssüchtige und Scharlatane, die als Experten des Weges kommen, sind die größten Spreader. 

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