Vernachlässigte Bundeswehr - Die Zeitenwende gibt es nur in Worten

Der Einmarsch der russischen Armee in die Ukraine hat in die bräsige Sicherheitspolitik unseres Landes Bewegung gebracht. Bisher allerdings werden hinter großen Worten kaum Taten sichtbar.

Bundesverteidigungsminister Boris Pistorius (SPD) singt bei einer Weihnachtsandacht mit Soldaten / dpa
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Richard Drexl ist Oberst außer Dienst der Luftwaffe mit unter anderem langjährigen Erfahrungen im Bundesministerium der Verteidigung

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Bedeutungsschwer vom Kanzler höchstpersönlich in die Welt gesetzt, zeigen sich Regierung und Staat überfordert, die notwendigen Konsequenzen aus der „Zeitenwende“ zu ziehen. Die „große nationale Kraftanstrengung“ (Scholz bei der Zeitenwende-Rede 2022) hängt in den Seilen. Nicht nur im Bundeshaushalt dämmern Zielkonflikte ungelöst vor sich hin zum Schaden der Wehrhaftigkeit.

An ambitionierten Reden und Absichtserklärungen zum unabdingbaren Neuansatz der deutschen Außen- und Sicherheitspolitik herrscht kein Mangel. Der Änderungsbedarf ist gewaltig, nachdem 2003 die Landes- und Bündnisverteidigung als „nicht mehr Struktur bestimmend“ aufgegeben wurde. Nicht einmal mit dem verdeckten Krieg in der Ukraine ab 2014 und der russischen Besetzung der Krim wurde der militärische Schrumpfungsprozess gestoppt. 

Die auf internationale Krisenmissionen reduzierte Bundeswehr schloss auf politisches Geheiß weiterhin Standorte, verschenkte und verschrottete teure Waffensysteme. Bereitschaft und Fähigkeit der Armee zum Kampfeinsatz näherten sich einem Tiefpunkt. Trotz der Gewitterfronten in Europa wurde im Blindflug weiter abgerüstet so der frühere Wehrbeauftragte Hans-Peter Bartels. Die von Ursula von der Leyen ausgerufenen Trendwenden für Material, Personal und Finanzen änderten daran wenig. Die Bundeswehr wurde nur teurer, aber nicht besser. Der politische Stellenwert des Militärischen blieb niedrig. Anstatt die Militärausgaben wie in der Nato vereinbart auf zwei Prozent zu steigern, wurde US-Präsident Trump als Feind ausgemacht, den es zu bekämpfen galt. Schwerpunkt blieb in der Merkel-Zeit stattdessen der weitere Ausbau des Sozialstaates.

Friedensdividende verfuttert

Durch jahrelanges Verweigern überfälliger Richtungsänderungen ist derweil sicherheitspolitisch ein exorbitant hoher Schuldenstand aufgelaufen. Die in guten Zeiten verfutterte Friedensdividende ist nun in großen Scheinen zurückzubezahlen. Den Matadoren auf der Berliner Bühne kam jetzt auch noch das Bundesverfassungsgericht mit der Entscheidung in die Quere, staatliche Kreditermächtigungen nicht beliebig zwischen Schattenhaushalten hin und her buchen zu dürfen. 

Früher wäre angesichts großer Aufgaben die Bevölkerung darauf eingestimmt worden, den Gürtel enger zu schnallen. Nicht so Bundeskanzler Olaf Scholz. In seiner Regierungserklärung im Deutschen Bundestag zum Haushalt 2024 erklärte er, dass das Urteil des Bundesverfassungsgerichtes am Versorgungsstaat nichts ändern werde: „Allen Bürgerinnen und Bürgern sage ich: In Ihrem Alltag, hier und heute, ändert das Urteil des Bundesverfassungsgerichts nichts – völlig unabhängig davon, ob Sie Kindergeld oder BAföG bekommen, eine Rente oder Wohngeld. Wir lassen niemanden allein“. 

Statt den offenkundigen Zielkonflikt zwischen überbordenden Sozialausgaben und der notwendigen Sicherheitsvorsorge zu thematisieren, werden Beruhigungspillen verteilt. Statt auf die Notwendigkeit der „großen nationalen Kraftanstrengung“ seiner Zeitenwende-Rede einzugehen wird der Eindruck erweckt, als fielen erforderliche Mittel vom Himmel. Hier wiederholt sich die Vorgehensweise nach dem russischen Einmarsch in die Ukraine mit dem flugs verkündeten 100 Milliarden Euro- „Vermögen“ für die Bundeswehr. Zusätzliche Schulden waren die Lösung, so mussten erst mal keine neuen Prioritäten gesetzt und niemand musste vordergründig etwas weggenommen werden.

Die Grundprobleme sind ungelöst

Wie auf diese Art und Weise in unserem Land wieder eine „leistungsfähige, hochmoderne, fortschrittliche Bundeswehr“ zu Stande kommen soll, bleibt das Geheimnis des Kanzlers. Die Wehrbeauftragte Eva Högl hält eine Summe von bis zu 300 Milliarden Euro für erforderlich, um mit Waffensystemen, Ausrüstung und Munition die volle Einsatzbereitschaft der Streitkräfte wieder herzustellen. Dabei sind die haushalterischen Probleme nur ein Teil der Misere. Die Mannschaftsstärke der Bundeswehr soll von etwas über 180.000 Soldaten wieder auf 203.000 steigen. Ungeachtet verstärkter Werbemaßnahmen gehen die Bewerberzahlen für den Dienst in den Streitkräften seit dem Ausbruch des Ukraine-Krieges aber zurück. Selbst an Weiterverpflichtungen mangelt es trotz guter Aufstiegschancen und vergleichsweise guten Gehältern. Freie Fahrten mit der Deutschen Bahn haben Soldaten in Uniform in der Öffentlichkeit zwar wieder sichtbar werden lassen, an den Grundproblemen hat aber auch das nichts geändert.

Diversen Umfragen zufolge stehen zwei Drittel der Bevölkerung hinter der Bundeswehr. Ganz anders sehen die Ergebnisse aus, wenn nach persönlichen Handlungsweisen im Falle konkreter Kriegsgefahr gefragt wird: „Einmal angenommen, es würde sich ein militärischer Angriff auf Deutschland abzeichnen, vergleichbar mit dem im Februar 2022 begonnenen russischen Angriff auf die Ukraine. Was … würden Sie persönlich in einer solchen Situation am ehesten tun?“ 

Die Antworten auf diese repräsentative dpa-Umfrage sind bezeichnend. Lediglich fünf Prozent würden sich freiwillig zum Kriegsdienst melden und nur gut jeder zehnte Bundesbürger wäre demnach bereit, sein Land mit der Waffe zu verteidigen. 33 Prozent würden versuchen, das gewohnte Leben weiterzuführen und den Krieg ignorieren. Fast jeder Vierte würde im Falle eines Angriffes so schnell wie möglich das Land verlassen.  Der Fluchtreflex als bequeme Lösung. Um den Erhalt unseres freiheitlichen Rechts- und Sozialstaates sollen sich andere kümmern!

 

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Nun sind Umfragen das eine, das Verhalten der Bevölkerung unter tatsächlicher Bedrohung möglicherweise etwas anderes. Dennoch sind dies deutliche Hinweise, dass es an Gemeinschaftssinn mangelt: mehr ICH als WIR in der Gesellschaft. Alarmierende Zeichen einer unzureichenden Wehrbereitschaft, die aktive Soldaten hoffentlich nicht auf die Idee kommen lässt, sich zu fragen: „Und dafür soll ich meine Haut hinhalten“? 

Hierzu passt irgendwie auch, dass sich ausgerechnet seit Beginn des Ukrainekrieges die Zahl der Kriegsdienstverweigerer verdreifacht hat. Es verwundert nicht, dass angesichts solcher Verhältnisse insbesondere die Polen den Amerikanern Tür und Tor öffnen. Von wegen Stärkung der europäischen Verteidigungsfähigkeit, der Weg dahin ist steinig und weit.

In Kenntnis dieser gesellschaftlichen Tendenzen bedarf es des Einsatzes und der Überzeugungskraft der politischen Eliten und nicht zuletzt der Medien, um für eine wieder bessere äußere Sicherheit unseres Landes und den Dienst in den Streitkräften zu werben. Es ist kein Vorbeikommen an der Erkenntnis, dass im Interesse eines höheren Wehretats andere Ausgaben zurückgestellt werden müssen. Die politische Führung hat offensichtlich nicht die Kraft eines Helmut Schmidt, der in den 1980er Jahren den Nato-Doppelbeschluss mit der Nachrüstung von Mittelstreckenwaffen gegen den mehrheitlichen Willen seiner SPD durchsetzen wollte. Kanzler Schmidt hat bekanntlich Kurs gehalten und in der Folge sein Amt als Regierungschef an Helmut Kohl verloren. Die Interessen des Staates rangierten vor Person und Partei.

Olaf Scholz verweigert Führung

In einigen Bereichen der Gesellschaft wird man ganz unten anfangen müssen, um die Wehrhaftigkeit gegen pazifistische Auswüchse wieder zu steigern. Womit in diesem Fall Schulen und Universitäten gemeint sind. Von dort her kommen nach wie vor Signale, die nicht angehen. Wie können es Kultusbehörden durchgehen lassen, dass selbst jetzt Jugendoffiziere der Bundeswehr an Schulen keinen Zugang erhalten? Derartige Auswüchse einer sich selbst genügenden Gesellschaft dürfte es in kaum einem anderem Land dieser Erde geben. 

Im Gegenteil spricht alles für die Vermittlung sicherheitspolitischer Inhalte an weiterführenden Schulen. Notwendig scheint dies nicht nur für die Oberstufen, sondern auch für einen großen Teil der Lehrerschaft. Die Krisen dieser Welt verlangen nach Einordnung und Erklärung. Ähnliches gilt für Wehrdienstberater. Es ist nichts Verwerfliches daran zu erkennen, an Schulen wie auch Universitäten für den Dienst in den Streitkräften zu werben. Was Personalwerbern der Deutschen Bahn und anderen erlaubt ist, sollte für den militärischen Dienst billig sein. 

Von der absehbaren Unterstellung von pazifistische Seite sollte man sich nicht irritieren lassen, dies stelle eine Militarisierung der Gesellschaft dar. Wie sonst soll die Bundeswehr „wieder einen Platz in der Mitte der Gesellschaft“ bekommen. Hierzu gehört die Aufhebung sogenannter Zivilklauseln, die militärische Forschung an Hochschulen verbieten. Auch Unis und linke Professoren leben von Steuergeld, das nur fließen kann, wenn sich die soziale Marktwirtschaft in sicherem Umfeld entfalten kann. 

Alles in allem sprechen darüber hinaus gute Gründe dafür, nach der leichtfertig aufgegebenen Wehrpflicht eine für beide Geschlechter geltende Allgemeine Dienstpflicht einzuführen. Dort ist anzusetzen, um den Gemeinschaftsgeist wieder zu stärken und staatliche Aufgaben zu sichern. Zurück zu alten Prioritäten lautet die Devise, sonst wird es mit der von Boris Pistorius geforderten Kriegstüchtigkeit nichts werden. Die Durchhaltefähigkeit bei Krisenlagen muss wieder besser werden.

Die erforderliche Zeitenwende funktioniert aber auch im Bereich der Rüstungswirtschaft nicht. Mit der Verhinderung des Exports von Eurofighter-Kampflugzeugen nach Saudi-Arabien disqualifiziert sich Deutschland ausgerechnet jetzt als Partner von Rüstungsprojekten. Die Stadt Troisdorf bei Bonn ist dabei, zwei Firmen mit 300 Beschäftigten zu verdrängen, weil dort möglicherweise nicht nur Zünder und Sprengstoffe, sondern auch Munitionsteile hergestellt werden. Europa arbeitet händeringend daran, die Waffen- und Munitionsproduktion für die eigenen Streitkräfte wie auch zur Unterstützung der Ukraine hoch zu fahren. Getreu dem Sankt Florians-Prinzip wird im Beispiel Troisdorf versucht, genau dies zu verhindern. Könnte ja Auswirkungen auf die Umgebung haben. 

Womit wir bei einem Kernproblem von Demokratien angekommen wären, dem zeitraubenden Aushandeln von Kompromissen in vielerlei Hinsicht. Das Versanden der Zeitenwende verwundert jedoch nicht, wenn selbst an der Spitze des Staates um den heißen Brei herum statt Tacheles geredet wird. Diktaturen sind offensichtlich einfacher auf Kriegswirtschaft umzustellen. Das darf nicht das letzte Wort sein.

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