Ukraine-Krieg - Die Rückkehr der Putinversteher

Nach einem kurzen Moment des Erschreckens tragen Putinversteher und friedensverwöhnte Wohlstandsdeutsche wieder ihre moralische Besserwisserei vor sich her. Obwohl beide Gruppen verschiedene Ziele verfolgen, treffen sie sich in einem Punkt: sie wollen den Krieg in der Ukraine schnellstmöglich wegwünschen. Nicht, weil der Krieg Menschen tötet, sondern weil er die maximale Infragestellung ihrer gewohnten Denkweise ist.

Jakob Augstein attestiert osteuropäischen Ländern wie Polen und Ungarn, dass sie nichts in der EU verloren haben / dpa
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Autoreninfo

Bernd Stegemann ist Dramaturg und Professor an der Hochschule für Schauspiel (HfS) Ernst Busch. Er ist Autor zahlreicher Bücher. Zuletzt erschienen von ihm das Buch „Die Öffentlichkeit und ihre Feinde“ bei Klett-Cotta und „Identitätspolitik“ bei Matthes & Seitz (2023).

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Wenige Wochen nachdem der Bundeskanzler eine Zeitenwende ausgerufen hat, kann man feststellen, dass die deutsche Debatte ins altbekannte Fahrwasser zurückkehrt. Nach einem kurzen Moment des Erschreckens drängeln die Putinversteher wieder in die erste Reihe der Welterklärer und die friedensverwöhnten Wohlstandsdeutschen tragen wieder ihre moralische Besserwisserei vor sich her. Obschon beide völlig verschiedene Ziele verfolgen, treffen sie sich doch in einem Punkt: Sie wollen den Krieg in der Ukraine schnellstmöglich wegwünschen. Denn der Krieg ist die maximale Infragestellung ihrer gewohnten Denkweise.

Der Angriff Russlands ist für sie nicht schlimm, da er Menschen tötet und Städte in Schutt und Asche legt, sondern er ist schlimm, weil er ihre politisch-moralische Position in Frage stellt. Da diese beiden Gruppen in Deutschland über eine große öffentliche Macht verfügen, lohnt es sich, ihre Argumente einmal genauer zu betrachten.

Ach, der gekränkte Putin

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Die Putinversteher gehen von einer harten Prämisse aus: Russland ist eine Großmacht und darum steht es ihr zu, die kleineren Nachbarstaaten zu kontrollieren. Wenn Polen, die baltischen Staaten oder eben die Ukraine nach Freiheit streben, dann fühlt sich die Großmacht bedroht. Die Putinversteher mahnen nun, die Gefühle der gekränkten Großmacht ernst zu nehmen. Eine solche Mahnung hat in der Diplomatie ihre Berechtigung, wenn es darum geht, sich in den Kopf des Gegners zu versetzen. Wird sie hingegen nach Kriegsbeginn lang und breit ausgeführt, stellt sich eine andere Frage: Warum sollten Putins Kränkungen ernster genommen werden als das Selbstbestimmungsrecht der osteuropäischen Staaten und warum sollten Russlands imperiale Phantasien dazu berechtigen, die Ukraine anzugreifen?

Die Ukraine hat eine demokratisch gewählte Regierung und sie hat die Entscheidung getroffen, dass sie sich mit dem Westen verbünden will. Steht ihr wie den anderen osteuropäischen Staaten dieses Recht nicht zu? Und warum sollte sie dieses Recht nicht haben? Die Antwort der Putinversteher ist höchst merkwürdig: Putins Russland fühlt sich von der Freiheit des Westens bedroht. Und da der Freiheitsdrang der Osteuropäer ihn provoziert, muss der Westen sich nicht wundern, wenn der russische Bär nun „zurück“-schlägt.

Russland hat kein „Naturrecht“

Was wird damit eigentlich gesagt? Die osteuropäischen Länder waren vierzig Jahre Teil des Warschauer Paktes und haben im Herrschaftsbereich Russlands, der damaligen Sowjetunion gelebt. Mit dem Zerfall der Sowjetunion hatten alle diese Länder kein anderes Ziel als möglichst schnell aus diesem Herrschaftsbereich zu entkommen und sich abzusichern, dass sie niemals wieder unter der russischen Knute leben müssen. Mit welchem Recht wird diese Entscheidung nun in Frage gestellt? Die Antwort ist die immer gleiche: Die russische Großmacht fühlt sich gekränkt und sie hat ein legitimes Recht, ihrer Sicherheitsinteressen durchzusetzen.

Das, was die Putinversteher also niemals in Frage stellen, ist ihre Prämisse, dass Russland eine Großmacht ist, die ein „natürliches“ Recht hat, ihre Nachbarstaaten zu kontrollieren. Sobald man aber Polen und den anderen Nachbarn das Recht eines jeden souveränen Staates zugesteht, frei über seine Bündnisse zu entscheiden, fällt die gesamte Argumentation der Puntinversteher zusammen. Dann ist sie genau das, was sie gut zu tarnen versucht: Sie ist eine Parteinahme für die Großmachtinteressen Russlands und sie ist eine Verachtung der Souveränität der kleineren Länder des ehemaligen Warschauer Paktes.

Die Verachtung für die ärmeren Länder

Eine solche Bevorzugung Russlands konnte man in Deutschland lange als politische Haltung vertreten. Sie wurde von der letzten Bundeskanzlerin über sechzehn Jahre als Realpolitik verfolgt und bis heute weigert sich Angela Merkel, ihre Politik als Fehler zu bewerten. Die wachsende Abhängigkeit von den Energielieferungen führte dazu, beide Augen bei jeder neuen Lüge und jedem neuen Krieg Putins zuzudrücken. Und auch die SPD hat viele prominente Mitglieder, die über Jahrzehnte Russland den kleineren Nachbarn gegenüber bevorzugt haben. Die Entwöhnung von dieser Parteinahme für Russland scheint den Deutschen besonders schwer zu fallen. Denn die Verachtung für die ärmeren Verwandten aus dem Osten Europas scheint tief in der Seele deutscher Journalisten und Politiker verankert zu sein.

Jakob Augstein verstieg sich erst vor wenigen Tage zu der Aussage, dass die Osterweiterung der EU ein großer Fehler gewesen sei, da die Polen und Ungarn doch viel besser in Putins Reich passen würden. Er attestierte diesen Ländern, die mit größtem Einsatz ukrainische Flüchtlinge aufnehmen und in Angst vor einer russischen Invasion zusammenstehen, dass sie nichts in der EU verloren haben. Und mit demselben eiskalten Hochmut empfiehlt er den Ukrainern, besser heute als morgen zu kapitulieren. Eine zynischere Wendung der Putinversteher ist schwer vorstellbar. Hier vereinigt sich die Arroganz des Deutschen, der den Osteuropäern bescheinigt, niemals zum Westen zu gehören, mit einer Parteinahme für Russland, das für Augstein und seine Gesinnungsgenossen noch immer als Perle im zwielichtigen Osten strahlt.

Nicht nur „Putins Krieg“

Die Argumentation der verträumten Wohlstandskinder ist weniger zynisch aber in ihrer Wirkung ebenso fatal. Sie wünschen sich nichts sehnlicher, als dass auf immer Frieden sei. Diesen Wunsch teilen viele, wenn nicht alle Menschen. Doch die Blindheit dieses Wunsches wird sichtbar, wenn man die Gegenwart betrachtet. Einen ewigen Frieden gibt es nur auf dem Friedhof, wenn der Aggressor gewonnen und die Unterlegenen getötet hat. Übersetzt in die Realität bedeutet der ewige Frieden, dass die Ukraine vor Russland kapituliert. Um das zu erreichen, werden von den Wohlstandspazifisten Waffenlieferungen abgelehnt, da sie ja nur das Töten verlängern. Und im selben Atemzug wird gemahnt, dass das alles „sehr kompliziert sei“ und man nicht alle Russen verdammen dürfe, da man auch in der Zukunft mit Russland als einem großen Nachbarn werde leben müssen.

Doch entsprechen diese Wünsche nur annähernd den Tatsachen? Wenn die russische Bevölkerung den Angriffskrieg mit 80-prozentiger Zustimmung unterstützt, wird man wohl nicht nur von Putins Krieg sprechen können. Und wenn ein Land mit brutalen Methoden regiert und die Opposition ins Exil getrieben wird, und wenn man für das Aussprechen des Wortes „Krieg“ für Jahre ins Arbeitslager kommen kann, dann kann man von einer faschistischen Diktatur sprechen. Schaut man sich die wiederholten Demonstrationen der Russlanddeutschen an, so muss man besorgt über deren Integration in die westlichen Werte sein. Diejenigen, die ab dem ersten Kriegstag fordern, nun Russland nicht zu verteufeln, bleiben leider die Erklärung schuldig, welche friedlichen Beziehungen man mit einem solchen Nachbarn denn noch haben könnte.

„Bitte, liebe Ukrainer, kapituliert für unseren Seelenfrieden“

Auch dieser Krieg bringt eine grundlegende Wahrheit ans Licht, die vom Pazifismus seit jeher ignoriert wird: Frieden ist kein Zustand, den eine Seite alleine bestimmen kann. Wenn der Aggressor seinen Willen mit der Waffe durchsetzt, herrscht Krieg, egal was der Friedliebende dazu meint. Auch wenn der Friedfertige sich der Gewalt beugt, hat er nicht den Frieden bewahrt, sondern er hat sich nur dem Willen des Angreifers gebeugt und muss nun unter seiner kriegerischen Herrschaft leben. Eine solche Entscheidung zur Unterwerfung kann nur der treffen, der angegriffen wird. Vom Spielfeldrand aus den Ukrainern zuzurufen: Ergebt euch! ist die Perversion des Pazifismus. Denn in Klartext übersetzt bedeutet dieser Ruf: Wir Friedliebenden können kein Blut sehen, darum müsst ihr euch den Russen unterwerfen. Wir versprechen aber, wenn ihr dann in einer Diktatur lebt oder im Lager verreckt, denken wir an euch. Aber für uns ist dann wieder Frieden und wir müssen nicht mehr die Kriegsbilder ansehen. Wir müssen auch keine Gewissensqualen mehr aushalten, ob es nicht doch gut gewesen wäre, euch zu helfen. Also bitte, liebe Ukrainer, kapituliert für unseren Seelenfrieden.

Hegel urteilte über diesen besonderen Fall von Moralismus mit einer verblüffenden Einsicht: Es gibt ein absolut Böses in der Welt, und das ist die schöne Seele. Denn sie schaut dem Leid zu, und hilft nicht, weil sie als schöne Seele rein bleiben will. Nach Hegels Einsicht gibt es in diesem Krieg also eine weitere Position, die neben der des Angreifers absolut böse ist, und das ist der Pazifismus, der den Anderen zur Kapitulation auffordert, weil er die Kriegsbilder nicht „erträgt“ und weil er selbst keine Verantwortung übernehmen möchte. Der Pazifist bekleidet im Angesicht des Krieges, den andere erleiden müssen, die absurde Position desjenigen, der sich moralisch besser fühlt, weil er sich raushält, und der dafür den Tod der Anderen in Kauf nimmt. Das Motto der schönen Seele lautet seit jeher: Meine Hände sind rein und sollen es bleiben.

Gasembargo ist das Symbol moralischer Maximalempörung

Das hässliche Gesicht der schönen Seele zeigt sich aktuell in verzögerten Waffenlieferungen der deutschen Verteidigungsministerin, die mit jedem Tag der Verzögerung hofft, dass der Krieg vielleicht schon zu Ende ist, bevor man sich mit schmutzigen Geschäften besudelt hat. Es zeigt sich bei Friedensdemonstrationen, auf denen die Ansprache des ukrainischen Präsidenten nicht gezeigt werden darf, weil er Waffen fordert. Es findet sich in Appellen, die eine Instandsetzung der Bundeswehr ablehnen, weil neue Waffen den Krieg in der Ukraine nicht beenden würden. Und ein bizarrer Gipfel des Moralismus wird erreicht, wenn ein sofortiges Gasembargo gefordert und zugleich Waffenlieferungen abgelehnt werden. Ein Gasembargo würde vor allem die westliche Industrie treffen und an Russlands Zahlungsfähigkeit nur sehr langsam etwas ändern, d.h. der Krieg würde dadurch nicht verkürzt. Das Gasembargo ist inzwischen das Symbol einer moralischen Maximalempörung, die sich gut anfühlt, weil sie radikal klingt, die aber vor allem der westlichen Welt die Ressourcen raubt, die sie braucht, um der Ukraine langfristig helfen zu können.

Putinversteher und schöne Seelen haben in Deutschland eine lange Tradition. Die kommenden Jahre werden zeigen, ob sie auch weiterhin die Hoheit in den politischen Debatten behalten werden. Denn für eines muss man kein Hellseher sein. Die Weltordnung ist seit dem 24. Februar dabei, sich grundlegend zu verändern. Die neue Achse, die Russland gerade mit China gegen den Westen schmiedet, stellt die drei wesentlichen Parameter deutscher Politik auf den Kopf: Rohstoffversorgung aus Russland, Exporte nach China und um die militärische Sicherheit kümmern sich die USA. Ob die Russlandfreunde und Moralapostel, die in diese dreifache Abhängigkeit geführt haben, die richtigen Pläne für die Zukunft haben, darf bezweifelt werden. Vielleicht sollte man ihnen ab jetzt etwas weniger zuhören und andere, neue Stimmen ernster nehmen. Denn wie die neue Außenministerin jüngst meinte: „Jetzt ist keine Zeit für Ausreden, sondern jetzt ist Zeit für Kreativität und Pragmatismus.“

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