Ukraine-Flüchtlinge in München - „Rund 1800 Unterkünfte konnten wir bereits vermitteln“

Bis zum Wochenende sollen in Bayern schätzungsweise 55.000 Flüchtlinge aus der Ukraine angekommen sein. Das Hauptziel der meisten Menschen ist die Landeshauptstadt München. Im Interview erklärt Margarete Arlamowski vom Verein „Wir Helfen – Münchner Freiwillige“, wie gut die Zusammenarbeit mit der Politik funktioniert und wie der Verein Kriegsflüchtlingen aus der Ukraine private Unterkünfte vermittelt.

Kriegsflüchtlinge aus der Ukraine am Hauptbahnhof München / dpa
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Autoreninfo

Ben Krischke ist Leiter Digitales bei Cicero, Mit-Herausgeber des Buches „Die Wokeness-Illusion“ und Mit-Autor des Buches „Der Selbstbetrug“ (Verlag Herder). Er lebt in München. 

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Margarete Arlamowski ist freie Journalistin und im Verein „Wir Helfen – Münchner Freiwillige“ aktiv. Dort kümmert sie sich seit vier Wochen um die Öffentlichkeitsarbeit. Der Verein wurde im Jahr 2015 gegründet und finanziert sich aus kommunalen Fördermitteln und Spenden.

Frau Arlamowski, was tut Ihr Verein konkret? 

Das Credo des Vereins ist die Spontanhilfe, also, von Null auf Hundert da zu sein. Der Verein wurde 2015 gegründet, um bei einem menschenwürdigen Ankommen zu helfen. Wir arbeiten mit Ehrenamtlichen zusammen, die aus den verschiedensten Bereichen kommen und sich bei uns melden können, wenn sie eine Unterkunft freihaben, aktiv helfen oder Geld spenden wollen. Auch während Corona gab es zum Beispiel eine Nachbarschafts- und Einkaufshilfe. Entscheidend ist für uns immer, was gerade gebraucht wird. 

Derzeit kümmern Sie sich vor allem um Menschen aus der Ukraine. Lässt sich denn beziffern, wie viele Kriegsflüchtlinge aus der Ukraine täglich in München ankommen? Bayernweit sollen es bis zum Wochenende ja in etwa 55.000 gewesen sein, ist zu lesen.

Nein, das lässt sich nicht genau sagen. Wir bekommen natürlich mit, wenn Menschen in München ankommen. Aber da eine konkrete Zahl zu nennen, wäre unseriös. Wir haben es hier vor allem mit Schätzungen zu tun. 

Spielen wir das einmal kurz durch. Wenn ein Kriegsflüchtling aus der Ukraine in München ankommt: Wie geht es dann weiter? 

Da gibt es verschiedene Möglichkeiten, aber ich zeige mal jene auf, die für unseren Fall relevant ist. Es gibt einen Info-Point am Hauptbahnhof. Das ist die erste Anlaufstelle für Menschen, die hier niemanden kennen und keine Unterkunft haben. Von dort kommen die Menschen erst einmal in eine Notunterkunft. Das sind nicht immer Leute, die auch hier bleiben wollen, sondern auch manche, die sich nach ihrer Flucht nur ein oder zwei Tage ausruhen und dann weiterfahren wollen. Wenn aber jemand hierbleiben möchte, kann der an uns weitervermittelt werden. Dann stellen wir zum Beispiel einen Kontakt her zwischen diesen Menschen und jenen, die eine Unterkunft zur Verfügung stellen wollen. Das funktioniert über ein Matching, das wir persönlich mit Hilfe von Listen machen. 

Wie kommt so ein Matching konkret zustande? 

Ein Beispiel: Eine Familie mit zwei Kindern und einer Katze kommt zu uns in die Vermittlungsstelle und sucht eine Wohnung. Dann schauen wir in unseren Listen nach, wer genau so viele Betten anbietet und wo das gut passen könnte. Bei einer Familie mit zwei Kindern wäre das vielleicht eine Familie, die ebenfalls zwei Kinder im gleichen Alter hat und gerne auch Haustiere aufnimmt. Wenn das auf den ersten Blick passt, rufen wir bei den Anbietenden an, klären, ob das Angebot noch steht, und stellen verschiedene Fragen. Wenn auch das passt, lernen sich die Anbietenden und die Suchenden bei uns im Zentrum kennen. Und wenn auch das passt, ist der Match zustande gekommen. 

Ich kann mir vorstellen, dass die Aufnahmebereitschaft bei, sagen wir, einer Mutter mit zwei kleinen Kindern größer ist als vielleicht bei einem alleinreisenden jungen Mann, weil der sozusagen nicht das „optimale Profil“ für eine Vermittlung hat. Gibt es auch da genügend Angebote? 

Ja. Mit dem Begriff „optimales Profil“ tue ich mich allerdings schwer. Prinzipiell ist es so, dass ich zum Beispiel selbst drei Personen aufgenommen habe, ohne vorab groß zu fragen, ob das Männer sind oder Frauen, oder wie alt die sind. Bei uns im Formular bietet man an, was man zur Verfügung hat. Und natürlich fragen wir auch nach. Zum Beispiel, wie die Familienkonstellation der Anbietenden und der Suchenden ist, und schauen, dass das gut passt. Aber es gibt jetzt keine Möglichkeit, als Anbieter nur gezielt eine Person mit einem ganz konkreten Profil auszuwählen. Das ist auch ein Grund, warum wir nicht nur eine Plattform sind, wo man sich eintragen kann, sondern mit unseren Matchmakern, die sich persönlich kümmern, ein Nadelöhr entwickelt haben. 
 

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Derzeit machen unter anderem Berichte von unseriösen Helfern die Runde, die zum Beispiel gezielt junge ukrainische Frauen ansprechen, um sie zum Beispiel in die Prostitution zu locken. Wie können Sie die Flüchtlinge hier schützen? 

Wir haben damit derzeit keine Probleme. Es ist nicht so, dass Ukrainerinnen zu uns kommen und dann einfach mitgenommen werden. Da gibt es verschiedene Prozesse, die wir eingeführt haben. Wir nehmen alle Daten auf. Von jenen, die kommen, und von jenen, die anbieten. Die Anbietenden müssen persönlich vorbeikommen und ihren Ausweis vorlegen. Wir geben den Menschen zudem verschiedene Telefonnummern und Adressen mit. Wenn es nach dem Match von beiden Seiten nicht passen sollte, aus welchen Gründen auch immer, gibt es verschiedene Anlaufstellen, an die man sich niedrigschwellig wenden kann. 

Wie viele Menschen bieten in München denn derzeit über Ihren Verein Wohnraum für Kriegsflüchtlinge aus der Ukraine an? 

Rund 5000 Unterkünfte wurden bisher angeboten. Und 1800 Unterkünfte für knapp 5000 Menschen aus der Ukraine konnten wir bisher vermitteln. 

Das klingt, als gäbe es innerhalb der Bevölkerung eine hohe Hilfsbereitschaft. 

Die Hilfsbereitschaft ist enorm. Das ist wirklich schön zu sehen. Egal, in welche Richtung es geht. Als ich die Familie aufgenommen habe, habe ich aus dem Freundes- und Bekanntenkreis viel Rückmeldung bekommen. Was braucht ihr? Wie kann ich euch unterstützen? Eine Freundin, die eigentlich internationale Manager coacht, hat sofort angeboten, einen Online-Deutschkurs mit meinen Gästen zu machen. Aber auch im Großen: Wir haben Doodle-Listen, die wir jeden Abend rausschicken, in denen wir zusammenfassen, wo wir gerade Unterstützung brauchen, zum Beispiel Dolmetscher. Diese Listen sind innerhalb von Sekunden voll. Jeder Marketingmanager würde von solchen Öffnungsraten träumen. Da spürt man, dass der Wille zu helfen sehr hoch ist. 

Überrascht Sie das? 

Nein, mich überrascht das nicht. Dass die Bereitschaft so groß ist, hat verschiedene Gründe, über die man stundenlang philosophieren könnte. Dieser Krieg ist medial zum Beispiel stark vertreten und, was unser Bewusstsein betrifft, sehr nah an uns dran. Dadurch entsteht eine Emotionalität, die die Bereitschaft wachsen lässt. 

Wie funktioniert denn die Zusammenarbeit mit der Politik? Bekommen Sie da genug Unterstützung? 

Ja, das funktioniert wirklich gut. Wir sind in sämtlichen Ausschüssen mit drin und haben auch sonst gute Möglichkeiten, uns mit der Politik abzustimmen und uns einzubringen. Da setzen wir auch auf Strukturen auf, die wir 2015 geschaffen haben. Das wäre sicherlich nicht möglich, wenn wir den Verein erst vor drei Wochen aus dem Boden gestampft hätten.

Sie haben gerade erzählt, dass auch Sie Menschen aufgenommen haben. Wie geht es denen? Was erzählen die?

Die Familie, die ich aufgenommen habe, sind sehr gut informierte und gut ausgebildete Menschen, die die Ukraine bereits am 26. Februar verlassen haben. Also relativ früh. Sie wollen auch so schnell wie möglich wieder zurück. Bis dahin wollen sie aber nicht nur herumsitzen, die ganze Zeit Nachrichten schauen und Angst haben, sondern auch selbst etwas tun. Sie wollen zum Beispiel selbst anderen helfen. Diese Familie kannte vorher bereits Leute in München. Das war auch ein Grund, warum sie hierher gekommen sind. Was wir aber sehen, ist, dass immer mehr Menschen kommen, die niemanden hier kennen, sondern einfach geflohen sind vor dem Krieg. Die müssen sich erstmal orientieren. Was erwartet mich hier? Wie geht es weiter? 

Welche Möglichkeit haben Menschen aus der Ukraine aktuell denn überhaupt, etwas zu tun, und, wie Sie sagen, nicht nur herumzusitzen?

Jene Ukrainer mit Sprachkenntnissen können zum Beispiel als Dolmetscher unterstützen. Es gibt in München das ukrainische Zentrum, aber mittlerweile wurden auch eine ukrainische Schule und ein ukrainischer Kindergarten aus dem Boden gestampft. Das freut mich wahnsinnig, weil man daran sieht, wie man aus der Not auch eine Tugend machen kann. Es gibt Lehrer und Lehrerinnen, die da helfen können. Nicht nur dort, sondern auch über Homeschooling. Da gibt es wirklich unterschiedlichste Möglichkeiten. Wir haben zum Beispiel eine Facebook-Gruppe gegründet, die mehrere Tausend Mitglieder hat. Da unterstützt man sich gegenseitig mit Antworten auf die unterschiedlichsten Fragen. Zum Beispiel: Was heißt eigentlich KVR? Und wo muss ich da hin? (KVR steht für Kreisverwaltungsreferat; Anm. d. Red.)

Es gibt ja Berichte, wonach unter den Menschen, die aus der Ukraine flüchten, mittlerweile auch Migranten aus Drittländern sind, die den Flüchtlingsstrom nutzen, um ebenfalls nach Deutschland zu gelangen. Haben Sie da Erfahrungswerte? 

Nein, haben wir nicht. Bei uns braucht man einen ukrainischen Pass, um vermittelt zu werden. 

In Ordnung. Letzte Frage: Unterm Strich sagen Sie ja, dass eigentlich alles ganz gut läuft. Wo sehen Sie trotzdem noch Optimierungsbedarf, zum Beispiel vonseiten der Stadt München?  

Von der Stadt eigentlich gar nicht. Das läuft schon sehr gut. Was wir aber brauchen, sind Unterkünfte mit mehr Platz. Die Familie, die ich aufgenommen habe, lebte bei uns im Kinderzimmer. Wir haben eine Dreizimmerwohnung. Das wurde bald etwas zu eng. Also habe ich in meinem Netzwerk herumgefragt. Daraufhin hat eine Anwaltskanzlei ein ganzes Dachgeschoss leergeräumt und dort eine Wohnung für diese Familie eingerichtet. Seit kurzem gibt es vom Bundesfinanzministerium auch eine neue Regelung, dass es einfacher ist für Firmen, zu helfen und zum Beispiel Unterkünfte zur Verfügung zu stellen, was sie wiederum steuerlich geltend machen können. Gerade in München stehen so viele Büroräume leer. Und wir haben es hier ja vielfach mit Menschen zu tun, die nur übergangsweise eine Bleibe brauchen. Außerdem sind derzeit viele im Homeoffice. Das ist ein Aufruf, der mir wichtig ist: dass auch Firmen Unterkünfte zur Verfügung stellen. 

Die Fragen stellte Ben Krischke. 

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