Transhumanismus - Über Menschen

Alle reden von ChatGPT. Dabei ist die selbstlernende KI nur Teil einer Revolution, die ihre Verfechter „Transhumanismus“ nennen. Radikale Skeptiker bemühen längst ein anderes Wort: Apokalypse.

Die Venus von Milo in Form eines humanoiden Roboters, wie ihn die kreative KI DeepAI sieht / Viola Schmieskors
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Autoreninfo

Ralf Hanselle ist stellvertretender Chefredakteur von Cicero. Im Verlag zu Klampen erschien von ihm zuletzt das Buch „Homo digitalis. Obdachlose im Cyberspace“.

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Kommen wir gleich zur Sache: Wir werden sterben! Unsere Körper werden verwelken. Unser Verstand wird verschwinden. Nichts wird mehr bleiben. Für die wohl allermeisten von uns ist eine solche Vorstellung die mit Abstand größte Kränkung des Lebens: der Tod, eine Schweinerei

Ray Kurzweil jedenfalls scheint noch immer fassungslos darüber zu sein, dass alles – und zwar wirklich alles –, was entsteht, nur wert ist, dass es zugrunde geht. Sollte Goethe mit diesem berühmten Satz aus seinem „Faust“ nämlich recht haben, so hieße das, dass auch er, Ray Kurzweil, am Ende der Tage nur Staub und Windhauch sein dürfte. Vorsichtshalber schluckt der heute 75-jährige Computerpionier und Ex-Chefentwickler beim Tech-Riesen Alphabet daher Tag für Tag einen Medikamentenmix aus unzähligen Vitamintabletten, Antioxidantien und Mineralien. 250 Kapseln pro Tag sollen es angeblich sein. Dazu sechs Infusionen in der Woche. Ein Leben ohne Kaffee, ohne Zucker und ganz ohne rotes Fleisch. Dem Sensenmann gilt es schließlich ein Schnippchen zu schlagen. Notfalls mit allen Mitteln und Mittelchen.

Mehr als esoterische Science-Fiction

Seit dem Jahr 1970, dem tragischen Jahr, in dem Kurzweils Vater Frederic mit gerade einmal 58 Jahren an einem Herzinfarkt verstarb, scheint der namhafte Softwarespezialist, der von vielen aus der kalifornischen Tech-Szene noch heute wie ein Guru verehrt wird, wie besessen von der Idee zu sein, das eigene Lebensende immer weiter nach hinten herauszögern zu können. „Die Krankheit meines Vaters hat definitiv dazu geführt, dass ich mir Gedanken über die schmerzlichen Beschränkungen unseres Lebens gemacht habe“, so Kurzweil vor einigen Jahren in einem Interview im amerikanischen TV-Network PBS. Und all seine Gedanken haben zu folgender Feststellung geführt: Gelänge es uns, 90 Prozent der medizinisch vermeidbaren Gesundheitsprobleme zu eliminieren, so Kurzweil in seinem mittlerweile zum Kult avancierten Buch „The Singularity Is Near“, so wäre eine Lebenserwartung von 500 Jahren gar kein Problem. Bei 99 Prozent Eliminierung wären es sogar schon 1000 Jahre. 

Ein hehres Ziel. Auch wenn eine solch immense Steigerung natürlich nicht allein durch die orale Zufuhr von Nahrungsergänzungsmitteln zu haben sein wird. In der sogenannten Enhancer- und Techie-Szene, wo Kurzweils Ideen seit Jahren heiß diskutiert werden, vertraut man längst anderen Methoden. Zusammen mit Kurzweil ist man sich hier einig, dass allein Biotechnik und die zeitgleich mit ihr einhergehende nanotechnische Revolution das wirklich ewige Leben hervorbringen werden. Durch die Fusion des Menschen mit der von ihm geschaffenen Technologie wird man in Zukunft immer mehr und immer bessere Möglichkeiten an die Hand bekommen, um der Natur Nachhilfe zu geben und ihre offenkundigsten Mängel zu korrigieren. Und der noch immer größte Fehler liegt auf der Hand: die Endlichkeit alles Irdischen.

Wird man zum ersten Mal mit derlei Ideen vertraut gemacht, so fühlt man sich verständlicherweise an esoterische Science-Fiction oder an eine wirklich abgedrehte Vulgäranthropologie erinnert. Doch den sogenannten Transhumanisten ist es absolut ernst – nicht nur mit der Ewigkeit, sondern auch mit dem festen Glauben daran, dass der Mensch nicht mehr als die Summe seiner einzelnen organischen wie technischen Teile ist. Ein komplexer Datensatz. Mehr nicht. 

Die „Singularität“ naht

Ray Kurzweil, Pionier auf den Gebieten Sprach­erkennung und Sprachsynthese, der einem breiten Publikum vor allem durch die in den 1980er Jahren von ihm entwickelten Kurzweil-Synthesizer bekannt geworden ist, steht mit solchen reduktionistischen Überlegungen nicht alleine da. Unzählige Milliardäre aus dem Silicon Valley teilen mit ihm den Traum von der menschengemachten Unendlichkeit. So bekannte etwa der Tech-Investor und Paypal-Mitbegründer Peter Thiel bereits vor Jahren, dass er angetreten sei, den Tod zu bekämpfen. Und Elon Musk, bis zu seiner Twitter-Übernahme im Jahr 2022 immerhin der reichste Mensch im bis dato bekannten Universum, glaubt fest an eine mindestens digital generierbare Ewigkeit.

Wäre Lukas Cranach eine KI wie DeepAI gewesen, hätte er Adam und Eva vielleicht ohne Schlange, dafür aber mit Kabeln und mutierten Äpfeln gemalt.
Viola Schmieskors mit DeepAI
Während sich Denker der Renaissance über die Erschaffung eines Homunkulus den Kopf zerbrachen, zeigt DeepAI, wie man aus Renaissance-Menschen Cyborgs kreieren kann.
Viola Schmieskors mit DeepAI
Verkörperte die Venus von Milo einst weibliche Schönheit, so stellt sie hier transhumanistische Ideale dar.
Viola Schmieskors mit DeepAI
Einst zeigte Caravaggio einen Amor von fast göttlicher Anmut. Hier zeigt die KI DeepAI, wie aus dem alten Liebesgott ein humanoider Roboter mit kaltem Blick wird.
Viola Schmieskors mit DeepAI
Die Venus von Milo in Form eines humanoiden Roboters, wie ihn die kreative KI DeepAI sieht.
Viola Schmieskors mit DeepAI

In ihr werden Mensch und digitale Maschine, die schon heute durchschnittlich 10,5 Stunden pro Tag miteinander verbringen, unzertrennlich und glücklich vereint sein – bis ans dann wohl nicht mehr eintretende Ende aller Tage. Dieser Glaube ist bei dem eigenwilligen Milliardär und X.com-Gründer mittlerweile derart zur Gewissheit geworden, dass er große Teile seines Vermögens in ihn investiert hat. Mit seinem 2016 gegründeten Unternehmen Neuralink lässt Elon Musk sogenannte Brain-Computer-Interfaces erforschen. Schnittstellen, die in der Zukunft sogar das Upload von Gedanken auf einer Computer-Cloud sowie umgekehrt das Einspielen Künstlicher Intelligenz in das menschliche Gehirn ermöglichen sollen. 

Ray Kurzweil, der vielleicht noch immer größte Prophet des kalifornischen Transhumanismus, ist also wahrlich kein Einzelfall. Für den Computerpionier aus Queens, New York, der einst in einer jüdischen Familie von Künstlern und Musikern groß geworden ist, wird der Tod in wenigen Jahren ausgespielt haben. Sollte es nämlich stimmen, dass sich die Leistung von Computerchips mit jedem Kalenderjahr nahezu verdoppelt – und das ist, wie der Intel-Mitgründer Gordon Moore herausgefunden hat, mindestens schon seit 1965 der Fall –, dann sei es nur noch eine Frage der Zeit, bis endlich auch jener magische Punkt erreicht sei, an dem Fortschritt unendlich und der Mensch als natürliche Folge dieser grenzenlosen Potenzialität mit der digitalen Technik eins werden wird. Unter eingefleischten Transhumanisten im Silicon Valley, die mittlerweile immer mehr in Biotech-Start-ups denn in reine Computerunternehmen investieren, wird dieser Punkt die „Singularität“ genannt. 

Juliane von der Ohe hat schon drei Chips in sich

Wer also, geblendet etwa durch die aktuellen Debatten um den Chatbot ChatGPT, meint, die Künstliche Intelligenz alleine wäre schon die größte Herausforderung für den längst vollkommen antiquiert daherkommenden Menschen, dem ist vermutlich noch nicht in Gänze zu Bewusstsein gekommen, dass die KI-Entwicklung parallel zu bis dato ungeahnten Revolutionen auf den Gebieten Genetik, Prothetik sowie Bio- und Nanotechnologie verläuft. Zusammen, so sind sich die Verfechter der reinen transhumanistischen Lehre einig, wird das schon in Kürze eine Kraft freisetzen, die den Menschen über einen neuen Urknall hinauskatapultieren könnte. ChatGPT sowie die Google-­Konkurrenten Bard oder Tongyi Qianwen vom chinesischen Tech-Konzern Alibaba sind also nur die aktuell sichtbarsten Vorboten einer technisch vollkommen runderneuerten Zukunft. Quasi die Betaversion des Homo sapiens cum technologica – des neuen Menschen, der uns Heutigen aufgrund seiner immer weiter voranschreitenden Fusion mit der Technologie als Cyborg, also als Mischwesen aus Biologie und Maschine, erscheinen wird.

Für die kalifornischen Transhumanisten ist das die vermutlich letzte Utopie einer an sich eher gelangweilt dahindümpelnden Gegenwart: Ihrer Meinung nach werden Nanobots in den Hirnkapillaren schon bald unsere Intelligenz vergrößern. Und sobald unser eigenes Gehirn erst mit der KI verschmolzen sein wird, wird unsere Hirnleistung exponentiell anwachsen. Realität und virtuelle Realität werden dann vollkommen eins sein. Und irgendwann, so ihre Überzeugung, werden die Schnittstellen zwischen Mensch und Technik derart perfekt sein, dass wir uns nicht nur zu jeder Zeit in andere Personen und Welten verwandeln können, ein sogenanntes Mind-Upload wird uns dann auch für immer unsterblich machen. „Wir sind die Spezies, die Naturgesetze transzendiert“, so formuliert es Ray Kurzweil, für den der Moment immer näher rückt, in dem unsere Körper nur noch als aufgerüstete Version ihrer minderwertigen biologischen Basisausstattung zu haben sein werden. Die Verdauungssysteme werden neu gestaltet, das Herz wird hinfällig, und sogar das Blut wird programmierbar werden. 

 

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Programmierbares Blut? Juliane von der Ohe ist eigentlich schon froh, wenn sie mit ihren kleinen, selbst gekauften Body-Enhancements die Tür aufschließen kann. Die 63-jährige Landwirtin aus dem niedersächsischen Örtchen Natendorf hat sich drei Chips in ihren Körper implantieren lassen. Mit dem einen öffnet sie ihre Haustür, mit einem anderen entsperrt sie den Computer. Und mit ihrem neuesten Chip kann sie sogar bargeldlos bezahlen. Juliane von der Ohe ist mit den kleinen Upgrades ihres biologischen Körpers im Wesentlichen sehr zufrieden. Auch wenn sie in letzter Zeit des Öfteren darüber nachdenkt, sich zusätzlich noch einen „Tesla-Chip“ für das Auto einpflanzen zu lassen. „Das tut in der Regel ja auch nicht weh“, sagt sie und könne theoretisch in jedem Piercing-Studio gemacht werden. Auch wenn in der Praxis natürlich nicht jeder auf das saubere „Chipping“ – den sogenannten Bodyhack – spezialisiert ist. 

Der erste amtliche Cyborg

Sie selbst jedenfalls ist immer noch begeistert. Warum auch nicht? Sie ist kein Freak oder abgedrehter Tech-Nerd. Eher erscheint sie vollkommen bodenständig: Juliane von der Ohe bewirtschaftet einen Bauernhof, ist sogar Mitglied der CDU und Bezirksvorsitzende der Mittelstandsvereinigung. Eine ganz normale Frau vom Dorf. Nur dass sie die Haustür eben anders öffnet als andere. Sie könne sich auch gut vorstellen, in Zukunft die Zeiterfassung bei der Arbeit oder die medizinischen Basisdaten direkt vom Körper ablesen zu lassen. „Ist doch praktisch“, sagt von der Ohe, die in solchen Momenten gerne darauf verweist, dass sie immer schon eine Mischung aus Raumschiff Enterprise und menschlicher Faulheit gewesen sei. Andere hätten eben einen Herzschrittmacher oder eine Prothese. Die Grenzen zwischen Kunst und Leben seien da fließend. Außerdem arbeite sie in der Landwirtschaft, einer sehr innovativen Branche – gerade auch was Interfaces zwischen Mensch und Maschine angehe. Vielen sei das vielleicht nicht bewusst, so von der Ohe, aber auch Schweine und Kühe würden mittlerweile gechippt.

Ein Argument, das bis dato nur wenig Durchschlagskraft zu besitzen scheint. Zwar gibt es keine aktuellen Zahlen zum Thema Biohacking, doch eine ältere Umfrage aus dem Jahr 2015 zeigt, dass die Bereitschaft zum Chip-Implantat zumindest vor acht Jahren noch sehr gering gewesen ist. Am ehesten konnten sich die Befragten damals dafür begeistern, ein Implantat zur Messung von Körperfunktionen oder zur medizinischen Kontrolle einsetzen zu lassen. Laut eines Berichts des Informationsdiensts Bloomberg aber ist das Interesse seither kontinuierlich gewachsen. Demnach sollen weltweit bereits gut 100 000 Menschen kleine Chips unter der Haut tragen. In der Regel seien diese Bodyhacks nicht größer als ein Reiskorn und kosteten gut 60 Euro. Und der Markt wächst. Laut Bloomberg könnte er bis 2025 bereits auf 2,3 Milliarden US-Dollar anwachsen. 

Die Menschmaschine wird also immer normaler. Und einen ersten amtlich bestätigten Cyborg gibt es auch schon: den britischen Künstler Neil Harbisson. Er ist der erste Mensch der Welt mit einer implantierten Antenne im Schädel. Diese ermöglicht es dem farbenblinden Künstler, Farbreize in akustische Signale zu übersetzen. Ein Implantat, das nach anfänglichen Protesten mittlerweile auf Harbissons amtlichem Passbild zu bewundern ist. Ein echter Hingucker. Aber ist das wirklich schon der Einstieg in die schöne neue Welt des Transhumanismus? Oder doch eher eine sinnverlorene Spielerei? Während Landwirtin von der Ohe zukünftig von Fall zu Fall entscheiden will, wie weit sie bei ihrer technischen Auf- und Nachrüstung noch mitgehen will, ist für Ray Kurzweil die Schlacht längst geschlagen: Noch 22 Jahre, so die Berechnungen des amerikanischen Cybergurus, dann träte die Mensch-Maschine-Schnittstelle in die Ewigkeit ein.

Nicht alle sind begeisterte Transhumanisten

Bis dahin muss der 1948 geborene Kurzweil aber entweder noch ein bisschen durchhalten – oder er muss sich, sollte der Tod doch einmal allzu zudringlich an der Haustür klopfen, bei minus 196 Grad in flüssigem Stickstoff kryokonservieren lassen. Bei diesem als Vitrifizierung bekannten Verfahren wird eine vollständige Unbeweglichkeit der menschlichen Zellen erreicht, sodass der gesamte Körper auf unbestimmte Zeit konserviert werden kann. Das Ziel: Der Tote soll so lange aufbewahrt werden, bis die Technologie endlich nachgereift ist, sodass der Körper wieder aus seinem Dornröschenschlaf geholt werden kann. Das Verfahren ist zwar nicht unbedingt günstig – 200 000 Dollar soll die Grundkonservierung kosten. Dafür aber gibt es in den USA bereits jetzt drei Anbieter, die technisch in der Lage sind, den Übermenschen 4.0 zumindest für eine geraume Zeit auf Eis zu legen.

Wird das ewige Leben also in absehbarer Zeit tatsächlich Realität werden – zumindest für die sicherlich überschaubare Anzahl der neuen Tech-Feudalisten, die sich diesen Geschmack von Ewigkeit überhaupt werden leisten können? Oder lassen wir uns aktuell von den fast im Minutentakt eintreffenden Nachrichten über tatsächliche wie vermutete Möglichkeiten digitaler Technik und Künstlicher Intelligenz zu sehr ins Bockshorn jagen? 

Fakt ist: Laut einer repräsentativen Umfrage des Meinungsforschungsinstituts Civey ist für die meisten Menschen das, was für Transhumanisten das Paradies zu sein scheint, schon heute der absolute Albtraum: 40 Prozent der Befragten glauben demnach nämlich, dass KI in den nächsten zehn Jahren zumindest teilweise negative Auswirkungen auf die Menschen haben wird; und weitere 40 Prozent gehen sogar von einem eher oder sehr negativen Einfluss aus. Was die Befragten dabei am meisten beunruhigt: Überwachungsängste, die Beeinflussung des öffentlichen Diskurses oder gleich die in der Regel nicht näher bezeichnete Bedrohung für die Menschheit als Ganzes. Und Äußerungen wie die Warnung des Ex-Google-Entwicklers und Turing-Preisträgers Geoffrey Hinton, der jüngst sogar die nationale Sicherheit der USA in Gefahr sah, tragen nicht wirklich zur Beruhigung bei. 

Nichts mehr als Marketing

Der österreichische Philosoph und Theologe Johannes Hoff indes beschwichtigt. Er hält viele transhumanistische Zukunftsvisionen im Kern für ausgemachten Blödsinn. Allerdings für einen Blödsinn, der seinen geistigen Vätern Unmengen an Geld in die Kassen spült und der von einer cleveren PR am Laufen gehalten wird: „Der Trans­humanismus ist auch Teil der Markenpsychologie großer Tech-Unternehmen, mit der bestimmte technische Innovationen verkauft werden sollen“, so Hoff, der Mitunterzeichner eines Manifests ist, das unter dem Titel „Wider den Transhumanismus“ auf fundamentale Denkfehler in der smarten Ewigkeitsideologie aus dem kreativen Tal nahe der San Francisco Bay hinweist. 

Mind-Upload, Body Swap – für Hoff sind das in der Regel ausgeklügelte Marketing-Hoaxes, die mit viel Fantasie neue digitale Produkte an den Mann bringen sollen. Produkte – und an der Stelle zeigt sich auch Hoff beunruhigt –, die sich oft konträr zum Stand der psychologischen wie medizinischen Forschung verhielten und die keinerlei wissenschaftlichen Standards entsprächen. „Die Silicon-Valley-Konzerne werfen diese Dinge einfach auf den Markt, ohne sie zuvor getestet zu haben.“ Der Mensch und die Demokratie seien quasi die Laborratten, so der international angesehene Forscher von der Universität Innsbruck.

Laborratten aber, deren Fantasie allmählich Flügel wachsen. Kein Wunder: Der Traum von der Erlösung durch Technik wirkt tief in unserem Unbewussten. Im Kern nämlich ist er so alt wie die Menschheit selbst. Vom zyprischen König Pygmalion etwa wird bereits im 4. Jahrhundert vor Christus berichtet, dass der den natürlichen Menschen – und hier besonders seine weibliche Ausführung – für derart mangelhaft hielt, dass er sich daran versuchte, eine eigene und bessere Version zu kreieren. Als geschulter Bildhauer schnitzte Pygmalion sich diese aus einem großen Vorrat von Elfenbein.

Verstorben an der Verjüngungskur

Es war vielleicht das erste Mal, dass sich die Kreatur zum gottgleichen Kreateur aufschwang, zum „Homo Deus“, wie es über 2000 Jahre später der israelische Historiker Yuval Noah Harari in seinem gleichnamigen Bestseller genannt hat. Für den Berliner Philosophen Jochen Kirchhoff gehört dieser merkwürdige Wunsch nach Befreiung aus den Naturzusammenhängen unmittelbar zur Natur des Menschen dazu: „Wir sind erlösungsbedürftige Wesen, die von der Unzulänglichkeit der physisch-sinnlichen Welt befreit werden wollen“, so Kirchhoff, für den die Kulturgeschichte voll ist von gescheiterten Selbsterlösungsversuchen.
Bald nach Pygmalion etwa ging der nach Gottgleichheit strebende Mensch zu organischeren Materialien über.

So wird von einem frühchristlichen Häretiker mit Namen Simon Magus berichtet, der sich sein Menschen-Upgrade aus diversen Transformationsvorgängen schaffen wollte: Magus verwandelte dafür Luft in Wasser, Wasser in Blut und schließlich Blut in Fleisch. Ein Trick, der nicht funktioniert haben dürfte. Denn dass es nicht ganz so einfach ist, liegt auf der Hand: Und so kam der Schweizer Arzt Paracelsus schließlich auf die Idee, für das gleiche anmaßende Vorhaben menschliche Spermien über 40 Tage hinweg in einem Gefäß mit Pferdemist verfaulen zu lassen. In diesem Prozess würde dann eine durchsichtige Vorversion des Menschen entstehen, die man anschließend noch für 40 Wochen bei konstanter Temperatur mit menschlichem Blut ernähren müsse.

Weit wissenschaftlicher, im heutigen Sinne, wurde die Idee vom künstlichen wie vom ewigen Leben mit der Geburt des Kosmismus, einer Strömung in der russischen Avantgardekunst, in der man von der Ewigkeit auf vergänglichen fremden Planeten träumte. Einer der in diesem Sinne größten Träumer: der Autor und Wissenschaftler Ale­xander Bogdanow. Der schrieb nicht nur skurrile Fantasy-Bücher – etwa über die Transplantation einer Hundeseele in einen Menschen –, vor allem wollte Bogdanow die Methusalem-Formel im Fremdblut junger Knaben erblickt haben. In dem von Stalin mitfinanzierten Institut für Bluttransfusion ließ sich Bogdanow regelmäßig das Blut junger Menschen einträufeln, in der Hoffnung, dass er dadurch selbst zur verlorenen Jugend zurückfinden könne. Der Effekt schlug indes schnell ins Gegenteil um: Bogdanow war nicht einmal 55 Jahre alt, als er während einer seiner blutigen Verjüngungskuren zu Tode kam. Stalin soll fortan übrigens jegliche Wissenschaft für ausgemachte Betrügerei gehalten haben.

Einstein kann nicht der Maßstab sein

Mehr Fantasie als Empirie, mehr Alchemie denn Wissenschaft: Solche Vorwürfe müssen sich auch heute viele moderne Transhumanisten anhören, die bei ihren Kunstgriffen für den neuen Menschen zwar nicht mehr auf Blut oder Innereien, dafür aber auf Halbleiter und Nanobots zurückgreifen. Aubrey de Grey etwa, ein populärer, aber durchaus nicht unumstrittener britischer Bioinformatiker, der vor allem durch seine These bekannt geworden ist, nach der der erste Mensch, der tausend Jahre alt werde, bereits geboren sei, musste sich immer wieder den Vorwurf von Fantasterei und Esoterik anhören. Und dennoch stehen auch seine technikbasierten Anti-Aging-Strategien bei Posthumanisten ebenso hoch im Kurs wie die von Kurzweil oder Musk. Es scheint, als hätte der digitale Extremismus mit seinen schier unvorstellbaren Beschleunigungen auf den Gebieten synthetischer Körpererweiterung und Künstlicher Intelligenzerzeugung allmählich die Schallmauer zwischen Fakt und Fiktion durchbrochen. 

So verwundert es am Ende nicht, dass auch der Münchner Psychologe Johannes Hepp noch viele Fragen an all die schönen Biohacks, Body-Upgrades und Augmented Realities hat. Zwar mahnt Hepp grundsätzlich zu mehr Neugier und zu spielerischer Gelassenheit gegenüber der digitalen Technologie; andererseits aber wird ihm gerade auch als praktizierender Psychotherapeut mehr und mehr bewusst, welch Angriffe die neuen Techniken auf das Selbstbild des ohnehin erschöpften Menschen darstellen. Die Tatsache, dass das Handy heute bereits mehr kann als sein jeweiliger Besitzer, erzeuge laut Hepp eine immense Scham und ein gesteigertes Anspruchsdenken. „Besonders der Boomer-Generation steht in riesigen Lettern eine drängende Frage auf die Stirn geschrieben: Wer bin ich noch, wenn mittlerweile selbst meine intellektuelle Arbeit von einer Maschine ersetzt werden kann?“

Hier gelte es dringend Antworten zu finden, mahnt Psychologe Hepp, der jüngst auch ein Buch über all die kleinen und großen Neurosen verfasst hat, die den Menschen mittlerweile im Angesicht seiner Technik befallen. „Wir brauchen Antworten, die auch den ins Extrem gesteigerten Perfektionismus hinter sich lassen“, glaubt Hepp. Es könne schließlich nicht sein, dass ich erst Einstein werden muss, um als denkendes Wesen überhaupt noch konkurrenzfähig zu sein.

Menschen sind mehr als ein Datensatz

Philosoph Jochen Kirchhoff würde dem zustimmen. Für ihn ist der Transhumanismus im Wesentlichen ein Angriff auf die „Innenseite des Menschen“: Denn in dieser wissenschaftsgläubigen und vollkommen reduktionistischen Ideologie zähle nur noch die äußere, die formale Seite der Phänomene. All das, was messbar ist und was durch die Brille der Naturwissenschaften betrachtet werden könne. „Das, was darüber hinausgeht – Farben, Klänge, Empfindungen, Emotionen –, wird als subjektiv und somit als irrelevant abgestempelt“, so Kirchhoff, dem als Lösung für den in jeglicher Hinsicht vermessenen Menschen nur noch die Rückbesinnung auf das Lebendige einfällt.

Auch Psychologe Hepp meint eine einfache und doch zugleich unendlich schwierige Lösung für die Herausforderungen durch den Transhumanismus gefunden zu haben: „Wir können etwas, was der Chatbot nicht kann und was auch durch die Verschmelzung mit der Technik nicht unbedingt besser werden wird: Beziehung.“ Das Einzige, was daher überleben werde, sei die körperliche Beziehung zwischen zwei Menschen, so Hepp. Es mache für ihn daher einfach keinen Sinn, mit einer selbstlernenden KI weiter in den Wettstreit treten zu wollen: In einer solchen Konkurrenz würden wir ganz sicher scheitern. „Wenn wir aber überleben wollen, dann als Menschen. Als Wesen mit einzigartigen Kräften. Mit Träumen, Gefühlen, Schmerzen, mit Geschichte, Tagesform und seelischen Narben.“ Das ist es, was bleiben wird, sagt Hepp nach ausführlicher Nutzen-Risiko-Abwägung. „Wenn wir versuchen wollen, in einem Spiel zu punkten, in dem uns die Roboter und Künstliche Intelligenz schon jetzt überlegen sind, winkt am Ende nicht mal ein Trostpreis.“

Philosoph Johannes Hoff blickt ebenfalls auf das, was den Menschen wirklich zum Menschen macht: Ebenso wenig, wie die Wirklichkeit nämlich nur die Gesamtheit aller Informationen und Intelligenz nur Informationsverarbeitung ist, so ist auch der Mensch für Hoff nicht nur ein erweiterter Datensatz. Die menschliche Natur, so der namhafte Transhumanismus-Kritiker, zeichne sich durch Verletzbarkeit, Gestimmtheit und Selbstbewusstsein aus. Wir sind in der Lage, ein Gefühl für die eigene Sterblichkeit zu entwickeln und aus dieser tiefsten Wunde sogar noch Sinnhaftigkeit zu erzeugen.

Die Trauer macht menschlich

Für Ray Kurzweil aber, den großen Computerpionier aus Queens, New York, scheint genau das das Problem zu sein: dieses Gefühl für die eigene Sterblichkeit; dieser Schmerz, der ihn erstmals vielleicht im Jahr 1970 überkam. Damals, als er gerade einmal 22 Jahre alt war und sein Vater Frederic an einem Herzinfarkt starb. „Das lag wie eine dunkle Wolke über meiner eigenen Zukunft“, erinnert sich Kurzweil, der bis heute alles von seinem Vater aufbewahrt hat. Jeden Schnipsel, dessen er habhaft werden konnte: die Liebesbriefe, die Partituren, die Filme und die Fotos. Hunderte Kisten, die in seiner Garage lagern. Das alles will er irgendwann digitalisieren. Zudem will er Original-DNA des Vaters mit hinzugeben, um dann mithilfe von Künstlicher Intelligenz einen Avatar zu kreieren. „Diese Person wird meinem Vater sehr ähnlich sein. Vielleicht wird sie ihm sogar ähnlicher sein, als er es sich selbst war.“ 

Die Überschreitung des Menschen: Für Kurzweil und viele seiner transhumanistischen Anhänger scheint sie einzig noch ein technisches Problem zu sein. Dabei gäbe es längst einen anderen, einen weit bewährteren Weg, um als Mensch über sich selbst hinauszuwachsen: die Anerkennung von Begrenzung und der Beginn der eigenen Trauer. Im Angesicht der wachsenden technischen Möglichkeiten ist dies vielleicht der einzige Weg, um auch in Zukunft noch Mensch bleiben zu können.
 

Illustrationen des Textes: Viola Schmieskors/Gestaltung mittels KI Software DeepAI

Dieser Text stammt aus der Juni-Ausgabe des Cicero, die Sie jetzt am Kiosk oder direkt bei uns kaufen können.

 

 

 

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