Titelgeschichte im Februar - AfD: Die Geister, die man rief

Im Wahljahr 2024 schaut das Land wie gebannt auf die AfD. Immer wieder wird versucht, die rechte Partei einzuhegen. Doch Medien, Politik und Verfassungsschutz haben die AfD mutmaßlich nur gestärkt und nicht geschwächt.

Gründungsparteitag der „Alternative für Deutschland“ am 14. April 2013 in Berlin / Foto: Hermann Bredhorst, Polaris
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Mathias Brodkorb ist Cicero-Autor und war Kultus- und Finanzminister des Landes Mecklenburg-Vorpommern. Er gehört der SPD an.

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Die Hilflosigkeit Deutschlands im Umgang mit der AfD lässt sich einfach auf den Punkt bringen: „Die Definition von Wahnsinn ist: immer wieder das Gleiche zu tun und andere Ergebnisse zu erwarten.“ Dieser Albert Einstein zugeschriebene Sinnspruch stammt zwar gar nicht von ihm, stimmt aber trotzdem. 

Heute steht die Rechtspartei nicht nur bei Wahlen blendend da. Allein von Anfang 2023 bis Anfang 2024 nahm die Zahl ihrer Mitglieder um fast 40 Prozent auf heute mehr als 40.000 zu. Frontfrau Alice Weidel schneidet in Politikerumfragen inzwischen besser ab als Bundeskanzler Olaf ­Scholz (SPD), Wirtschaftsminister Robert Habeck (Bündnis 90/Die Grünen) und Finanzminister Christian Lindner (FDP). Und bei den anstehenden Landtagswahlen in Brandenburg, Thüringen und Sachsen dürfte der AfD der Wahlsieg kaum noch zu nehmen sein – und zwar mit Traumergebnissen.

Bereits mit ihrer Gründung im Jahre 2013 galt die AfD ihren größten Gegnern schlicht als „Nazipartei“. Durch Fakten gedeckt war das nicht. Blickt man in das damalige Wahlprogramm, findet man eine Kurzfassung heutiger Regierungspolitik: eine „Neuordnung des Einwanderungsrechts“ hin zu mehr qualifizierter Zuwanderung. Das ist inzwischen Ampelpolitik. Ein Einwanderungsgesetz „nach kanadischem Vorbild“, also verbunden mit einem Punktesystem, bei dem besondere Integrationsanstrengungen belohnt werden. 

Beschlossen wurde ein solches Gesetz vom Deutschen Bundestag am 23. Juni 2023. Und im damaligen AfD-Programm fand sich auch ein klares Bekenntnis zum Schutz politisch Verfolgter und die Forderung, „dass Asylbewerber hier arbeiten können“ sollen. Das gehöre zu einer „menschenwürdigen Behandlung“ dazu. Eine entsprechende Gesetzesänderung wurde von der Ampelregierung erst im November 2023 auf den Weg gebracht.

Die AfD ist heute so stark wie nie zuvor

In Wahrheit war die einst vor allem eurokritische AfD der heutigen Politik um ganze zehn Jahre voraus. Man hätte ihr Auftreten auf dem politischen Parkett daher einfach als das begreifen können, was es im Grunde von Anfang an war: ein Seismograf für heraufziehende politische Herausforderungen. Aber diese Chance wurde vertan. Immer mehr gefiel sich die etablierte Politik stattdessen darin, die neue Partei in die extreme Ecke zu stellen und sich ihrer auf diese Weise zu entledigen. Mit diesem Verdikt freilich waren zugleich immer auch die Problemanzeigen kontaminiert und vom Tisch gewischt, die von der AfD ausgingen. Man spielt eben nicht mit den Schmuddelkindern.

Dass die etablierte Politik die AfD von Anfang an mit harten Bandagen bekämpfte, kann nicht verwundern. Jede zusätzliche parteipolitische Konkurrenz gefährdet eigene Mandate und politische Macht. Fairness ist da nicht zu erwarten, Objektivität im Urteil schon gar nicht. Eigentlich hätte ein unabhängiges Mediensystem der Korrekturfaktor hierzu sein müssen. Es hätte die überzogenen Angriffe der etablierten Politik frühzeitig als das einordnen müssen, was sie in Wahrheit waren: parteipolitisch motiviert. Aber zahlreiche Medien ließen stattdessen selbst viel Wasser über das Schwung­rad der Denunziation laufen. Das gemeinschaftlich zu verantwortende Ergebnis: Die AfD ist heute so stark wie nie zuvor.

Ehemaliger Parteichef Meuthen, mittlerweile ausgetreten / Foto: Christian Plambeck

Gegründet wurde die Partei von dem Wirtschaftsprofessor Bernd Lucke, dem Journalisten Konrad Adam und der Chemikerin Frauke Petry. Sie alle gehören der Partei nicht mehr an, weil sich im Laufe der Zeit immer fremdenfeindlichere, „rechte“ Positionen durchgesetzt hätten. Mit derselben Begründung verließ auch der Wirtschaftsprofessor und ehemalige Vorsitzende Jörg Meuthen Anfang 2022 die Partei. Dabei ist es sogar wahrscheinlich, dass Öffentlichkeit, politisches System und Verfassungsschutz die Rechtsentwicklung der AfD aktiv mitbefördert haben. So jedenfalls sieht es AfD-Gründer Lucke: „Die Berichterstattung war zur selbsterfüllenden Prophezeiung geworden, weil die moderaten Mitglieder die permanente Rufschädigung nicht ertragen wollten – und weil der schlechte Ruf die falschen Mitglieder anzog.“ 

Auch Luckes Nachfolger Meuthen sieht es so. Allerdings schiebt er ein „Aber“ ein: „Die rechten Geister wären letztlich auch so gekommen, nur mit Verzögerung. Inzwischen ist die Partei im ganzen Bundesgebiet von etlichen unappetitlichen Gestalten gekapert.“ Haben Lucke und Meuthen recht, ergäbe sich eine bemerkenswerte Konsequenz: Dann hätten ausgerechnet übereifrige Kritiker jenes „Monster“ (Hans-Olaf Henkel) miterschaffen, das sie zugleich mit Inbrunst bekämpfen. 

Nahezu doppelt so viele Stimmen wie der Zweitplatzierte

Heute führt Malermeister Tino Chrupalla gemeinsam mit Alice Weidel Partei und AfD-Bundestagsfraktion. Weidel ist die Intellektuelle aus dem Westen mit schneidender und aggressiver Rhetorik, Chrupalla der bodenständige Handwerker aus dem Osten. Bereits im Jahr 2017 gewann er seinen Wahlkreis knapp gegen den heutigen sächsischen Ministerpräsidenten. Vier Jahre später erreichte er fast 36 Prozent – und damit nahezu doppelt so viele Stimmen wie der Zweitplatzierte. Bei der Bundestagswahl 2025 könnten es mehr als 40 Prozent werden.

Seine Chancen dafür stehen alles andere als schlecht. Chrupalla ist in seiner Heimat, der Oberlausitz, fest verankert. Der Chrupalla habe eine „starke Entwicklung genommen“, sagt zum Beispiel eine einflussreiche Unternehmerin aus Weißwasser. Er sei vor Ort bekannt und akzeptiert, auch wenn er von der AfD komme. Nur eines mache ihr Sorgen, die „Rechtsentwicklung dieser Partei“. Auf Cicero-Nachfrage, was genau sie damit meine, äußert sie Erstaunliches: Dass die Medien die AfD in die rechtsextreme Ecke stellten, halte sie für übertrieben und eine Kampagne. Und dann holt sie zu einer Erklärung aus, hinter der sich auch Politikwissenschaftler nicht verstecken müssten.

Das Problem bestehe doch schon seit Jahren. Unmut in der Bevölkerung werde nicht ernst genommen, stattdessen würden Kritiker in die „extreme Ecke“ gestellt. In einer Demokratie könne man aber nicht auf Dauer gegen die eigene Bevölkerung regieren. Die Politik müsse mit den Unzufriedenen reden, deren Problemanzeigen aufgreifen und in Lösungen verwandeln. Sonst verliere man sie. In der Politikwissenschaft nennt man das die „Responsivität der Demokratie“. Die Kehrtwende der Ampelregierung bei der Kfz-Steuer für die Landwirtschaft überzeugt die Unternehmerin aus Weißwasser trotzdem nicht: „Das hätten die sich doch vorher überlegen können, das ist doch alles nur noch Chaos.“

Der Erfolg seiner Partei

AfD-Chef Chrupalla ist sich klar darüber, dass der Erfolg seiner Partei genau damit zu tun hat. „Erfolgreiche Opposition ist immer auch ein Produkt des Versagens der Regierenden. Und natürlich nutzen wir dieses Versagen aus“, sagt er und lächelt dabei. Aber noch etwas komme hinzu. Mit dem Rückzug Meuthens habe der „Bremser der Bremser“ endlich die Partei verlassen. Seitdem gehe es sprunghaft aufwärts mit der AfD: „Die Erfolgsspur stimmt.“

Zu diesem Zeitpunkt ist es erst ein paar Wochen her, dass der örtliche Verfassungsschutz auch Chrupallas Landesverband als „gesichert rechtsextrem“ eingestuft hat. Auf die Frage, ob das der Partei schade, wird er deutlich: „Im Osten ist das egal. Wir hatten das alles ja schon einmal. Und auch im Westen nutzt sich das immer mehr ab.“ Die AfD versucht sogar mittels Ironie, Kapital aus den Aktivitäten der Verfassungsschützer zu schlagen. In Chrupallas Büro liegen Aufkleber mit der Aufschrift „Gesichert extrem sächsisch“ zur Verteilung bereit.

Im äußeren Erscheinungsbild wird Chrupalla klar von Weidel überstrahlt. Sie ist der rhetorische Flammenwerfer der Partei. Falls die AfD für die nächste Bundestagswahl einen eigenen Kanzlerkandidaten aufstellen sollte, dürfte die Wahl daher auf sie fallen. Was Alice Weidel für die Anhänger der AfD, ist der Vorsitzende der AfD-Fraktion Thüringens, Björn Höcke, für deren Gegner: eine Projektionsfläche. Einst war Weidel noch an Meuthens Versuch beteiligt, Höcke aus der AfD auszuschließen. Heute, auf der Welle des Erfolgs, hat sie machtpolitisch mit ihm Frieden geschlossen. Wenn sie etwas an ihm störe, kläre sie das „intern“, sagt sie, nicht in der Öffentlichkeit. Die parteiinternen Querelen gehören vorerst der Vergangenheit an. Die gemeinsame „Erfolgsspur“ macht’s möglich.

Die Opfer des Holocaust verhöhnt?

Die AfD-Gegner müssten Höcke dabei regelrecht erfinden, wenn es ihn nicht schon gäbe. Längst haben sich absichtsvolle Zuschreibung und objektive Wirklichkeit bis zur Unkenntlichkeit ineinandergeschoben. Als Höcke im Jahr 2017 in einer Rede mit Blick auf das Holocaust-Mahnmal in Berlin von einem „Denkmal der Schande“ sprach, ging ein Empörungs-Tsunami durch die Republik. Allenthalben sollte er so verstanden werden, als hätte er das Denkmal selbst zu einer „Schande“ erklärt und damit die Opfer des Holocaust verhöhnt. Tatsächlich gesagt hat er im Grunde das Gegenteil. 

Er erklärte den Holocaust zu einer historischen „Schande“ des deutschen Volkes und das dazugehörige Mahnmal eben zu deren Denkmal. Der Punkt, auf den er abzielte, war ein anderer. Höcke bekannte sich seinerzeit dazu, dass jede Nation ein positives Selbstbild benötige, um daraus Kraft zu schöpfen für die Herausforderungen der Zukunft. Und aus einem Menschheitsverbrechen lasse sich eben keine positive Energie ziehen. 

Höcke erklärte deshalb den Ort des Denkmals, die Mitte der Hauptstadt, für einen identitätspolitischen Fehler, nicht aber dessen generelle Existenz. Seine nachgeschobenen Erläuterungen drangen im allgemeinen Empörungstaumel nicht mehr durch. Deutschlands Öffentlichkeit war ganz zufrieden damit, Björn Höcke wieder einmal als den kleinen Adolf aus Erfurt entlarvt zu haben. Auch die Demokratie braucht ihre Feinde. Sie versichert sich so ihrer viel gerühmten „Wehrhaftigkeit“.

Dabei sind im Falle Höckes haltlose Unterstellungen gar nicht nötig. Im Jahr 2019 wurde ein Geheimgutachten des Verfassungsschutzes über die AfD geleakt. Da die Quelle hierfür der Verfassungsschutz selbst gewesen sein dürfte, liegen mutmaßlich Geheimnisverrat und eine Straftat zulasten der AfD vor. Die Partei beauftragte daraufhin beim Verfassungsschutzrechtler Dietrich Murswiek ein Gegengutachten, dessen Kernergebnisse auf einer Pressekonferenz vorgestellt wurden. 

Ungefähr 20 Prozent sind zutreffend

Mehr als 80 Prozent der Einschätzungen des Verfassungsschutzes seien „rechtlich falsch“, so Murswiek. Aber das bedeutet im Umkehrschluss: Ungefähr 20 Prozent sind zutreffend. Bis heute hält die AfD den Wortlaut des Gutachtens geheim. Cicero liegt der Text vollständig vor. Äußerungen Björn Höckes und seines „Flügels“ machen einen erheblichen Anteil der auch vom Gutachter Murswiek monierten Äußerungen aus. Darauf angesprochen, sagt Höcke: „Wahrscheinlich habe ich mich in der Vergangenheit das eine oder andere Mal unglücklich ausgedrückt. Aber in der Sache habe ich nichts zurückzunehmen.“ Der simple Plot der AfD-Gegner läuft dabei schon seit vielen Jahren ungefähr wie folgt und soll die ganze Partei auf einen Streich in Verruf bringen: Höcke ist ein Nazi und zugleich der mächtigste Mann der Partei. In seinen Händen laufen angeblich alle Fäden zusammen. 

Alice-Weidel-Fan bei einer Wahlkampfveranstaltung 
in Berlin / Foto: Michael Danner

In den Führungsetagen der AfD will man über all das nur lachen. Das seien bloß Projektionen des politischen Gegners und der Medien. Ein einfluss­reicher ostdeutscher Landtagsabgeordneter, der ehemals dem Flügel angehörte, erklärt die veränderte Lage: „Höcke war stark, solange er und seine politischen Auffassungen auch innerparteilich bekämpft wurden. Mit dem Rückzug Meuthens aber haben sich die Gewichte verschoben. Früher musste Höcke in der Partei für seine Position noch streiten. Heute ist sie ohnehin mehrheitsfähig. Inzwischen nervt er eher.“ 

Höcke sei gerade „kein Organisator und Netzwerker“, sondern ein „Eigenbrötler“ mit Hang zur „Verschrobenheit“, ein „politischer Romantiker“. Zudem sei er „einfach unbelehrbar“. Dass er sich inhaltlich und strategisch in der Partei durchgesetzt habe, sieht auch Höcke so und sagt: „Das macht mich auch ein bisschen stolz.“ Er sei überzeugt davon, dass eine Veränderung der deutschen Politik immer von den Ländern ausgehe: „Daran arbeite ich in Thüringen mit aller Kraft. Wenn uns mindestens eine Regierungsbeteiligung im Osten gelingt, wird dort weiterhin die Avantgarde der Partei liegen.“

Ohne eigene Recherche abgepinselt

Am 10. Januar 2024 erlebte Deutschland wahrscheinlich seinen zweiten „Denkmal der Schande“-­Moment. Pünktlich zum Superwahljahr 2024 wurde erneut der Versuch unternommen, die AfD als Nazipartei zu „entlarven“. Ganze zehn Jahre an Lerngelegenheit, dass man der Rechtspartei so nicht beikommt, sind offensichtlich nicht genug.

Das linksorientierte Rechercheportal correctiv.org machte einen „Geheimplan gegen Deutschland“ öffentlich. Ganze 18 Rechercheure sollen an dem Scoop beteiligt gewesen sein. Die Geschichte verbreitete sich in Windeseile im gesamten Mediensystem. Selbst Der Spiegel pinselte die Geschichte komplett ohne eigene Recherche ab. Ausgerechnet in einer Villa in der Nähe des Wannsees hätten sich „hochrangige AfD-Politiker, Neonazis und finanzstarke Unternehmer“ geheim getroffen, um „nichts Geringeres als die Vertreibung von Millionen von Menschen aus Deutschland“ zu planen. Was dieses Framing beim Leser bewirken soll, kann sich jeder ausmalen, der im Geschichtsunterricht nicht völlig geschlafen hat.

Anlass für diese Mutmaßungen ist ein Vortrag des österreichischen Publizisten Martin Sellner über „Remigration“. Nicht nur dem deutschen Verfassungsschutz gilt er als Rechtsextremist. Und Sellner habe – im Geheimen – einen Plan zur Vertreibung von Millionen deutscher Staatsbürger mit Migrationshintergrund vorgestellt. 
 

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Cicero hat mit mehreren Teilnehmern der Veranstaltung unabhängig voneinander gesprochen. Dazu gehört auch der Jurist Roland Hartwig. Er war einmal AfD-Bundestagsabgeordneter und bis vor kurzem der persönliche Referent von Alice Weidel. Hartwig berichtet, die Runde gebe es schon mehrere Jahre und habe rein privaten Charakter. Die Berichterstattung nennt er „völligen Unfug“. Sellner habe nicht die massenhafte Ausweisung deutscher Staatsbürger mit Migrationshintergrund propagiert: „Und falls er es getan hätte, hätte ich protestiert, weil es verfassungswidrig wäre.“

Dies bestätigt auch das CDU-Mitglied Ulrich Vosgerau, ein weiterer Teilnehmer der Veranstaltung. Der Rechtsanwalt und Privatdozent an der Universität zu Köln nahm auf Einladung erstmalig an der Runde teil. Er sagt: „Jedenfalls in meiner Gegenwart hat niemand so etwas gesagt. Was in der Tat diskutiert wurde, war die Frage, wie man kriminelle Ausländer oder abgelehnte Asylbewerber schneller abschieben kann. Aber darüber denkt selbst der Bundeskanzler nach.“ 

„Geheim“ konnten die Gedanken Sellners schon aus einem einfachen Grunde nicht sein: Seit geraumer Zeit verkauft sich sein auf der Tagung vorgestelltes Buch „Regime Change von rechts“ bestens. Um den Inhalt des „Geheimplans“ zu enthüllen, hätte man also bloß in eine Buchhandlung gehen müssen. Für Sellner und seinen Verlag ist der vermeintliche Scoop vor allem eines: kostenlose Werbung für sein nächstes Buch mit dem Titel „Remigration“. Es erscheint im Februar 2024.

Der Fall Wannsee dürfte ein beredtes Beispiel dafür sein, wie sehr sich relevante Teile der Medien in den vergangenen zehn Jahren in ihre eigenen Narrative verstrickt haben und nicht mehr aus ihnen herausfinden. Inzwischen hinken sie der politischen Wirklichkeit hinterher. Eigentlich aber sollte es umgekehrt sein.

Die Lage damals glich der heutigen bis aufs Jota

Wie man politische Konkurrenz auf demokratischem Wege aus dem Weg räumen kann, machte einst der Ministerpräsident von Mecklenburg-Vorpommern, Harald Ringstorff (SPD), vor. Er wollte seine Partei Ende der 1990er Jahre zur bestimmenden politischen Kraft in seinem Bundesland machen – vorbei an der CDU. Und er wollte zugleich den Erfolg der damaligen PDS einbremsen, die Wahl um Wahl stärker wurde. Das Kalkül: Wird die PDS in Regierungsverantwortung eingebunden, muss sie ihre vollmundigen Ankündigungen mit der Wirklichkeit abgleichen und sich dadurch zugleich entzaubern. 1998 konnte die PDS in Mecklenburg-Vorpommern noch fast 25 Prozent der Stimmen auf sich vereinen, bei der Landtagswahl 2021 waren es nicht einmal mehr 10 Prozent. Gleichzeitig führt die Nordost-SPD seit 25 Jahren die Regierung an. Mission accomplished.

Björn Höcke und Tino Chrupalla im Juni 2022 / dpa

Die Lage damals glich der heutigen bis aufs Jota – nur eben unter umgekehrten politischen Vorzeichen. Die Bundes-CDU benutzte Ringstorffs Ambitionen gegen die SPD als antikommunistisches Wahlkampfmittel, immerhin wurde die PDS ja in den Verfassungsschutzberichten erwähnt. Die westgeprägte Bundes-SPD gab diesem Druck nach und hielt ebenfalls nichts davon, dass im Osten eigene Wege gegangen werden sollten. Schon damals gab es also eine Brandmauer – gegen links. Nur nannte man sie nicht so. CDU/CSU hätten von diesem historischen Vorbild für den Umgang mit der AfD etwas lernen können: dass man seinen politischen Konkurrenten manchmal umarmen muss, um ihn zu erdrücken. Stattdessen waren die Unionsparteien tief beleidigt, dass aus ihrem eigenen Fleisch eine Konkurrenzpartei hervorgegangen war. Und behandelten die AfD entsprechend. Die Folgen sind bekannt.

Noch entscheidender allerdings ist die Tatsache, dass linke Parteien und Medien die AfD im Gleichklang in die Nazi-Ecke stellten und sich die Konservativen davon auch noch beeindrucken ließen. Die Brandmauer-Diskussion ist für SPD, Grüne und Linke auch eine machtpolitische Frage, zahlreiche Medien fungieren als deren Zuarbeiter. Der Union sollen Koalitionsmöglichkeiten nach rechts abgeschnitten und sie so machtpolitisch geschwächt werden. Selbst wenn sie die nächsten Bundestagswahlen haushoch gewinnen sollte, wird der Kurs der Regierung wieder ziemlich links sein. CDU und CSU haben sich SPD und Grünen auf Dauer als Mehrheitsbeschaffern ausgeliefert.

Zwei Möglichkeiten für die CDU

Über den berühmten Brandmauer-Beschluss der CDU, der sich gegen Linkspartei und AfD gleichermaßen richtet, muss AfD-Chef Chrupalla lachen: „Wir können uns doch die Hände reiben. Entweder haben wir in einem ostdeutschen Bundesland die absolute Mehrheit und regieren. Oder die CDU gerät in größte Schwierigkeiten. Sie wird ohne uns oder die Linkspartei im Osten keine Regierung mehr anführen können. Die haben sich von beiden Seiten komplett eingekeilt.“ 

Für die CDU gebe es daher nur noch zwei Möglichkeiten: entweder auf den Oppositionsbänken Platz zu nehmen oder die eigene Glaubwürdigkeit vollends einzubüßen. Die einzige Rettung vor diesem Szenario könnte höchstens noch die Ex-Kommunistin Sahra Wagenknecht mit ihrer Parteineugründung bieten. Dazu müsste sie Linken wie AfD aber ausreichend Wählerstimmen streitig machen.

Heute ist es wahrscheinlich zu spät, um die AfD noch in Regierungen einzubinden und sie so zu entzaubern. Das hätte man tun müssen, als sie noch nicht so „rechts“ und noch nicht so stark war. Man muss das Feuer eben austreten, bevor es sich zum Flächenbrand ausgeweitet hat. Auf der Regierungsbank entzaubern könnte sich die AfD heute nur noch, indem sie in einem der ostdeutschen Bundesländer die absolute Mehrheit erringt und dann einfach gezwungen wäre zu regieren. Vielleicht also muss ein Bundesland zumindest zeitweise im politischen Chaos versinken, um das ganze Land vor einem solchen Szenario zu bewahren. Dann hätte der Föderalismus wenigstens seinen Sinn. Björn Höcke jedenfalls plant „strategisch alle Optionen durch“. Die absolute Mehrheit sei dabei zwar „nicht das Hauptszenario“, aber sie sei auch nicht ausgeschlossen: „Wenn FDP und Grüne aus dem Landtag fliegen, reichen dafür ungefähr 42 Prozent der Stimmen.“ Als er das sagt, steht seine Partei in Umfragen bei 36 Prozent.

„Politische Wende“ im Osten droht

Ein hochrangiger AfD-Funktionär ist sich sicher, dass der Osten in diesem Jahr die „politische Wende“ in Deutschland einleiten werde. Aber er prophezeit der eigenen Partei im Falle einer Regierungsbeteiligung zugleich Ungemach. Der unvermeidbare Mangel an Personal mit Regierungserfahrung sei da noch das kleinste Problem. Die größte Herausforderung: Die AfD verdanke ihren Aufstieg auch der Tatsache, dass sie die Probleme zugespitzt und vereinfacht anspreche. Natürlich sei die Welt aber viel komplizierter. Und im Falle einer Regierungsbeteiligung würden „populäre Kommunikation“ und die „Kompliziertheit der Welt“ unvermittelt aufeinander treffen und Enttäuschungen bei den eigenen Wählern provozieren: „Eine Regierungsbeteiligung wäre daher so etwas wie eine Feuerprobe für unsere Glaubwürdigkeit. Hätten wir aber nicht von Anfang an zugespitzt kommuniziert, hätten wir auch keine Wähler erreicht. Wir müssen wie jede andere Partei einfach durch diesen Widerspruch durch.“

Koketterie: Der sächsische Verfassungsschutz hat den Landesverband der AfD als „gesichert rechtsextrem“ eingestuft / M. Brodkorb

Dazu muss man aber gar nicht erst regieren. In ihrem Europawahlprogramm fordert die AfD vollmundig den Abbau von Subventionen. Heute, im Angesicht der Bauernproteste, hört man davon nicht mehr allzu viel. Tino Chrupalla gesteht diesen Widerspruch im Gespräch offen ein. Das sei für ihn eine Frage der politischen Ehrlichkeit. „Wir nehmen die Proteste jetzt mit, haben da aber noch viel zu diskutieren“, sagt er. Wenige Tage später postet die erklärte Marktwirtschaftlerin Alice Weidel auf Twitter und fordert dort gar eine „Verdopplung der Agrardiesel-Rückerstattung“.

Als Verzweiflungstat greifen nun wieder Debatten über ein AfD-Verbot Raum. Eigentlich hatte Kanzler Olaf Scholz dem in einem großen Spiegel-Interview jüngst eine klare Absage erteilt. Auch dafür scheint die Partei inzwischen viel zu stark. Aber der SPD-Vorsitzenden Saskia Esken scheint völlig egal, wer unter ihr Kanzler ist. Ganz unbedarft spricht sie sich zum Jahreswechsel 2023/2024 und damit auf dem historischen Höhepunkt der AfD-Umfragewerte für ein Verbotsverfahren aus. Der ehemalige AfD-Vorsitzende Jörg Meuthen kann da nur den Kopf schütteln. Und dann sagt er: „Sie hat es noch immer nicht begriffen.“ Die AfD sei doch bloß das Produkt gesellschaftlicher Krisen und der gleichzeitigen Unfähigkeit der etablierten Politik, diese im Sinne einer Mehrheit der Wähler zu bewältigen. Als Folge würde die AfD vor allem aus Protest gewählt: „Wenn man die AfD noch stärker machen und noch mehr Menschen von der etablierten Politik entfremden will, dann muss man es genau so tun, wie Frau Esken es vorschlägt, und den Menschen ihr als solches empfundenes letztes demokratisches Ventil per Verbot aus der Hand schlagen.“

Gleichschritt von Medien, Politik und Verfassungsschutz

Der Politikwissenschaftler Wolfgang Merkel hält zwar nichts von der AfD, aber ebenso wenig von einem AfD-Verbot. „Kurzsichtig“ nennt er die entsprechende Debatte. Sie verhindere eine „selbstkritische Analyse“. Gegen die Rechtspartei helfe „kein eigener scheindemokratischer Verbalpopulismus, sondern nur effizientes Problemlösen“. Und genau das sei den Ampelparteien in letzter Zeit nicht mehr gelungen: „Demokraten sollten die illiberalen Ambitionen einer Partei nicht mit illiberalen Maßnahmen bekämpfen.“ Zudem sei die behauptete Verfassungsfeindlichkeit „alles andere als eindeutig“. Die „Sprachzündeleien“ Höckes jedenfalls würden dafür nicht reichen. „Darüber hinaus ist es nicht der Verfassungsschutz, der die Verfassungsfeindlichkeit einer Partei in unserem Rechtsstaat festzustellen hat, das obliegt immer noch dem Verfassungsgericht“, sagt Merkel. Seit Jahren gehört er der SPD-Grundwertekommission an.

Der im Gleichschritt von Medien, Politik und Verfassungsschutz über Jahre hin verabreichte Pillen­cocktail aus Nazimarkierung und staatlicher Überwachung hat die AfD mutmaßlich gestärkt und nicht geschwächt. Aber zunehmend bringen sich auch nachdenkliche bis robuste Stimmen ein und verändern nicht bloß den Sound der Republik, sondern verschieben die politischen Achsen. Kanzler Olaf Scholz jedenfalls will nach den Wahlerfolgen der AfD des Jahres 2023 „endlich im großen Stil (…) abschieben“. Vor noch nicht allzu langer Zeit hätte man eine derartige Wortwahl in der SPD für zumindest rechtspopulistisch gehalten. Inzwischen aber tragen selbst die Grünen den Verrat an ihren Idealen mit. Sollte die Ampel tatsächlich noch bis zum Ende der Legislaturperiode durchhalten, wird sie nach künftigen Wahlerfolgen der AfD noch einmal nachlegen und sich dem so sehr verhassten Gegner weiter anverwandeln müssen.

Das käme dem wortlosen Eingeständnis gleich, jene Zustände zumindest fahrlässig zugelassen zu haben, die zum Aufstieg der AfD führten. Am Ende droht sich so eine düstere Prophezeiung zu erfüllen. Abgegeben hat sie schon vor Jahren der ex-linke Publizist Frank Böckelmann im Vorwort eines Gesprächsbands mit Björn Höcke: „Wenn (…) die AfD (…) weiter wächst, bleibt den Altparteien nur ein einziger Ausweg: Um die populistische Gefahr zu bannen, müssen sie selbst das Programm der AfD umsetzen (dies aber als Notmaßnahme gegen den Populismus deuten).“

Will man den Weg des Wahnsinns nicht fortsetzen, also immer das Gleiche zu tun und andere Ergebnisse zu erwarten, bleiben nur noch zwei Optionen. Entweder die AfD wird offen an der Ausübung der politischen Herrschaft in der Hoffnung beteiligt, sie würde sich so entzaubern und von selbst gesund schrumpfen. Aber dafür dürfte es zu spät sein. Oder die Etablierten verwandeln sich der AfD programmatisch schrittweise immer weiter an und beteiligen sie so verdeckt an der Regierung. In eine solch paradoxe Lage haben etablierte Politik und Medien Deutschland binnen zehn Jahren im einmütigen Gleichschritt gebracht.

 

 

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