Tessa Ganserer im Bundestag - Eine Transfrau schreibt Geschichte

Die transidente Politikerin Tessa Ganserer ist für die Grünen in den Bundestag eingezogen. Jetzt wirft ihr die feministische Initiative „Geschlecht zählt“ einen „Missbrauch der Frauenquote“ vor. Denn Ganserer wird im Bundestag als Frau geführt, obwohl sie sowohl biologisch als auch rechtlich ein Mann ist. Ganserer und ihre Unterstützer kämpfen jedoch dafür, dass jeder sein Geschlecht selbst definieren kann. Ben Krischke hat die Politikerin in der November-Ausgabe von Cicero porträtiert.

Tessa Ganserer will sich im Bundestag für soziale Gerechtigkeit und Selbstbestimmung einsetzen / dpa
Anzeige

Autoreninfo

Ben Krischke ist Leiter Digitales bei Cicero, Mit-Herausgeber des Buches „Die Wokeness-Illusion“ und Mit-Autor des Buches „Der Selbstbetrug“ (Verlag Herder). Er lebt in München. 

So erreichen Sie Ben Krischke:

Anzeige

Mitte Oktober befindet sich Tessa Ganserer noch in einer Zwischenwelt. Während hinter verschlossenen Türen für eine Ampel-Koalition sondiert wird, pendelt die neue Bundestagsabgeordnete der Grünen zwischen München, ihrer Wahlheimat Nürnberg und Berlin. In welchem Ausschuss Ganserer sitzen, welches Büro sie beziehen wird und welche Mitarbeiter Teil ihres politischen Engagements sein werden, ist noch ungeklärt. Und trotzdem hat Ganserer bereits Geschichte geschrieben.

Die 44-Jährige ist, neben ihrer Parteifreundin Nyke Slawik, eine von zwei Transfrauen, die in dieser Legislaturperiode Teil des Parlaments sind. Für Slawik ist es das erste politische Mandat, bei Ganserer ist das anders: Sie war schon die erste transidente Abgeordnete im Bayerischen Landtag – und damit die erste Transfrau mit politischem Mandat in der Geschichte Deutschlands. Entsprechend groß war die Aufmerksamkeit, als sich Ganserer vor drei Jahren outete. Ende September zog Ganserer nun über Listenplatz 13 der bayerischen Grünen in den Bundestag ein. 

Zwischen verschiedenen Identitäten

Geboren 1977 in Zwiesel im Bayerischen Wald, wurde Ganserer politisiert durch Tschernobyl, das Waldsterben und Angriffe auf Flüchtlingsunterkünfte. Sie trat den Grünen bei, studierte Wald- und Forstwirtschaft und arbeitete für den grünen Landtagsabgeordneten Christian Magerl. Im Jahr 2013 zog Ganserer dann selbst in den Bayerischen Landtag ein, damals noch unter ihrem „Deadname“. So nennen Transpersonen ihren alten Vornamen. Als sie Ende 2018 wiedergewählt wurde, kehrte sie nach der Weihnachtszeit als Frau zurück aufs politische Parkett.

Über Ganserer wurde in der New York Times, in der Bangkok Post und in der pakistanischen The Express Tribune berichtet. Das linke Onlineportal Buzzfeed nennt sie „die mächtigste Queer-Politikerin des Landes“, in der LGBTQ-Szene ist Ganserer längst eine Ikone. Doch ihr Engagement ist auch ein Balanceakt zwischen der eigenen Identität und den politischen Positionen, die sie vertritt. Ganserer will einer Minderheit eine Stimme geben, der sie selbst angehört. Gerne würde sie aber mehr über politische Inhalte reden, weniger über ihr Transsein, wie sie bei einem Treffen in einem Münchner Café sagt. „Meine anderen Themen kommen in der Presse nicht vor“, sagt sie. Es klingt fast wie eine Entschuldigung, auch gegenüber sich selbst. 

Soziale Gerechtigkeit und Selbstbestimmung

Die politische Kompetenz kann man ihr nicht absprechen. Als Verkehrspolitikerin saß Ganserer im Wirtschaftsausschuss, war Mitglied im Ausschuss für öffentlichen Dienst und als forstpolitische Sprecherin Teil der Enquete-Kommission „Gleichwertige Lebensverhältnisse in ganz Bayern“. Seit ihrem Coming-out konzentriert sich Ganserer verstärkt auf das Thema sexuelle Minderheiten. 

In Berlin will sich die Grüne für soziale Gerechtigkeit und mehr Selbstbestimmung einsetzen: „Nach 16 Jahren Merkel ist die Zeit reif für gesellschaftspolitische Veränderungen“, sagt Ganserer. Sie kritisiert, dass Menschen ihr Leben lang arbeiten und dann trotzdem auf Sozialleistungen angewiesen sind, dass schwule Männer kein Blut spenden dürfen. Und sie fordert die gesetzliche Gleichbehandlung von „Co-Müttern“; also von lesbischen Frauen, die mit ihrer Partnerin ein Kind großziehen, das nicht das ihre ist. 

Mehr als Transsexuelle

Ganserer will Hürden senken, die ihrer Meinung nach zu hoch sind, etwa bei der amtlichen Namensänderung und bei der „Geschlechtsangleichung“: Das bedeutet zum Beispiel, dass Teile des Penis und der Hoden entfernt und aus dem verbleibenden Gewebe eine Vagina geformt wird. Bisher sollen Psychologen vor einer solchen Operation klären, ob der Patient transsexuell ist oder unter einer psychischen Störung leidet. Die wenigen Studien, die es zum Thema Geschlechtsangleichung gibt, gehen davon aus, dass 1 bis 2 Prozent der Operierten den Eingriff später bereuen. Dass jedoch Gutachter darüber entscheiden, ob eine biologische Frau ein Mann ist oder ein biologischer Mann eine Frau, widerspreche dem Recht auf Selbstbestimmung, so Ganserer. Deshalb will sie das sogenannte „Transsexuellengesetz“ kippen, das diese Gutachten vorsieht. Und Ganserer fordert, dass gleich behandelt wird, was gleich behandelt gehört: Familien und „Regenbogenfamilien“. Ganserer selbst ist mit einer Frau verheiratet und hat zwei Söhne. 

Was den erwähnten Balanceakt betrifft, so hat Ganserers Parteifreundin Nyke Slawik, Jahrgang 1994, jüngst die Reißleine gezogen. Sie kündigte an, vorerst keine Interviews mehr zu ihrer Person und ihrer Transidentität geben zu wollen. Sie sei gerne sichtbar, so Slawik, aber die vielen Interviews raubten ihr die Zeit, die sie jetzt brauche, um ihr Berliner Büro aufzubauen: „Ja, ich bin Trans. Und ich bin eine Frau“, so Slawik, „aber das müssen wir nun wirklich nicht in jedem Interview durchkauen.“

 

Dieser Text stammt aus der November-Ausgabe des Cicero, die Sie jetzt am Kiosk oder direkt bei uns kaufen können.

 

Sie sind Cicero-Plus Leser? Jetzt Ausgabe portofrei kaufen

Sie sind Gast? Jetzt Ausgabe kaufen

Anzeige