Tag der Arbeit - Was gibt es am 1. Mai überhaupt zu feiern?

Im Schatten der Corona-Pandemie wirken die Gewerkschaften weitgehend kraft- und mutlos. Dabei ist eine starke Gewerkschaftsbewegung unabdingbar für die soziale Verfasstheit unserer Gesellschaft. Deshalb soll es an diesem 1. Mai vor allem um Solidarität und Zukunft gehen.

Eine Aktion der GDB, der SPD und Bündnis 90/ die Grünen zum Tag der Arbeit im letzten Jahr / dpa
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Autoreninfo

Rainer Balcerowiak ist Journalist und Autor und wohnt in Berlin. Im Februar 2017 erschien von ihm „Die Heuchelei von der Reform: Wie die Politik Meinungen macht, desinformiert und falsche Hoffnungen weckt (edition berolina). Er betreibt den Blog „Genuss ist Notwehr“.

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Es ist wieder so weit. Wie immer darf der Vorsitzende des Deutschen Gewerkschaftsbundes (DGB) am 1. Mai anlässlich des „Tags der Arbeit“ zur Prime Time in der ARD eine kurze Ansprache halten.

Wie immer werden sich zuvor in vielen Städten Gewerkschaftsmitglieder versammeln, um auf Kundgebungen den Reden von Kollegen, Funktionären und Politikern zu lauschen. Es werden aufgrund der Corona-Beschränkungen nur wenige sein, vieles findet in diesem Jahr nur virtuell statt. Im zentralen Aufruf des DGB für diesen 1. Mai geht es vor allem um Solidarität und Zukunft, um Arbeitswelt, Sozialsysteme, Bildungsgerechtigkeit, Gleichberechtigung. Beschworen wird die Wirkmächtigkeit einer starken Arbeitnehmerorganisation, in den einzelnen Betrieben, in den Branchen und auch übergreifend.

Herausforderungen verschlafen

Doch die Gewerkschaftsbewegung steckt in einer tiefen, strukturellen Krise. In vielen Bereichen hat sie faktisch keinen Einfluss mehr. Eine Entwicklung, die ausgerechnet von einer SPD-geführten Bundesregierung unter Gerhard Schröder entscheidend befördert wurde, da dessen „Agenda 2010“-Reformen zu weitgehenden Deregulierungen des Arbeitsmarktes führten. Etwa durch die Etablierung und Ausweitung von prekären Arbeitsverhältnissen wie Minijobs, Leiharbeit, Werkverträgen und Niedriglohnsektoren. Die Globalisierung und die damit verbundene Diversifizierung der Produktionsketten taten ein Übriges. Heute ist es vor allem die Digitalisierung, die die Arbeitswelt erneut gründlich umwälzen wird, auch die Klimapolitik spielt eine wichtige Rolle, etwa in der Autoindustrie.

Auf all das hat die Gewerkschaftsbewegung kaum Antworten gefunden, und wenn, dann viel zu spät und viel zu zögerlich. Nahezu hilflos musste sie ihren Bedeutungsverlust konstatieren. 1991, nach der Wiedervereinigung, hatten die DGB-Gewerkschaften noch 11,8 Millionen Mitglieder. 2020 waren es noch 5,85 Millionen, davon ein großer Teil im öffentlichen Sektor und dessen Umfeld.

Immer weniger Tarifverträge

Das hat Folgen. Immer weniger Beschäftigte fallen in den Geltungsbereich von Flächentarifverträgen, in denen verbindliche, einheitliche Lohn-, und Arbeitsstandards für ganze Branchen gemeinsam von Gewerkschaften und Arbeitgebern vereinbart werden. Waren es 1996 in der Privatwirtschaft noch 66 Prozent der Beschäftigten im Westen und 48 Prozent m Osten, so sanken diese Quoten bis 2019 auf 34 bzw. 28 Prozent. Auch bei einem weiteren Kernanliegen der Gewerkschaften, der betrieblichen Mitbestimmung, geht es bergab. Nach den jüngsten Zahlen arbeiten in Westdeutschland nur noch 42 Prozent der Beschäftigten in einer Firma mit Betriebsrat, im Osten sind es 35 Prozent.

Mitte der 1990er Jahre waren es im Westen noch 51 und im Osten 43 Prozent. Besonders in Zukunftsbranchen und in neuen Betriebsformen gibt es große tarif- und betriebsratsfreie Zonen. Gerade Global Player wie Amazon sitzen entsprechende Bestrebungen der Gewerkschaften einfach aus, die sporadisch immer wieder aufflammenden Streiks bei diesem Logistikriesen haben kaum messbare Wirkung erzielt. Auch ein Tech-Riese wie Tesla, der derzeit in Brandenburg eine Gigafactory für E-Autos und Batterieherstellung errichten will, kann mit Tarifverträgen wenig anfangen. Und selbst in vormaligen Domänen gewerkschaftlicher Macht wie dem Baugewerbe erodiert die Tarifbindung, und die Politik muss einspringen, um Branchenmindestlöhne als untere Grenze einzuziehen.   

Haben sich Gewerkschaften überlebt?

Hat sich die Gewerkschaftsbewegung also überlebt, als Relikt des 19. und 20. Jahrhunderts? Lassen Digitalisierung, Diversifizierung und Home Office den Grundgedanken kollektiver Interessenvertretung obsolet werden? Wohl kaum, denn gerade unter diesen Bedingungen ist ein durchgreifender Schutz vor Lohndumping und schlechten Arbeitsbedingungen unbedingt notwendig. Und es gibt auch positive Beispiele. Wie etwa die Gewerkschaft Deutscher Lokomotivführer (GDL), die über viele Jahre hinweg mit teilweise zähen Arbeitskämpfen nicht nur beträchtliche Lohnerhöhungen erkämpfte, sondern auch einen Flächentarifvertrag, der auch für die privaten Konkurrenten der Deutschen Bahn AG gilt.

Die GDL agiert allerdings eigenständig, außerhalb des trägen Tankers DGB. Das gilt auch für andere erfolgreiche Branchen- und Berufsgewerkschaften wie den Marburger Bund. Und auch bei der zum DGB gehörenden Dienstleistungsgewerkschaft ver.di gibt es gute Ansätze, wie erfolgreiche Arbeitskämpfe an Kliniken, bei denen es nicht um mehr Geld, sondern um eine anständige Personalausstattung in den Stationen ging. 

Corona-Krise schärft den Blick

Die Corona-Krise hat bei vielen Menschen den Blick für den Wert von Arbeit geschärft, gerade in sogenannten systemrelevanten Bereichen wie Gesundheitsversorgung, Pflege, Lebensmittelproduktion und -handel oder Logistik. Also Berufsgruppen, die sich größtenteils im unteren Bereich der Lohnskala befinden.

Will die Gewerkschaftsbewegung nicht noch weiter an Bedeutung verlieren, muss sie diese Bereiche genauso ins Blickfeld rücken wie die großen Zukunftsfragen. Damit der 1. Mai irgendwann wieder nicht mehr nur ein x-beliebiger gesetzlicher Feiertag mit salbungsvollen Reden im Fernsehen ist. Sondern so etwas wie der gute, alte „Kampftag der Arbeiterklasse“ mit Millionen Teilnehmern in ganz Deutschland.

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