Streit bei CDU/CSU - „Soziale Themen sind ein Dauerbrenner“

In der Unionsfraktion knirscht es derzeit, ein Streitpunkt bei der Neuausrichtung ist der Bereich Sozialpolitik. Der Bundestagsabgeordnete Volker Ullrich (CSU) kritisiert im Interview die falsche Prioritätensetzung der Vergangenheit und rät seiner Partei eindringlich, künftig stärker auf soziale Themen zu setzen.

Beim Thema Rente wurden der Union bei der Bundestagswahl nur geringe Kompetenzen eingeräumt / dpa
Anzeige

Autoreninfo

Jonas Klimm studierte Interdisziplinäre Europastudien in Augsburg und absolvierte ein Redaktionspraktikum bei Cicero.

So erreichen Sie Jonas Klimm:

Anzeige

Volker Ullrich sitzt seit 2013 als direkt gewählter Abgeordneter im Wahlkreis Augsburg-Stadt und Königsbrunn für die CSU im Bundestag. Zudem ist Ullrich seit 2018 Vorsitzender der Christlich-Sozialen Arbeitnehmerunion (CSA).

Herr Ullrich, zusammengerechnet haben CDU/CSU bei der vergangenen Bundestagswahl knapp 2,5 Millionen Wähler an SPD und GRÜNE verloren. Welche Gründe sehen Sie hinter dem enormen Stimmenverlust an gerade diese beiden Parteien?

Das hatte vielfältige Gründe. Es hatte etwas mit der Präferenz bei der Kanzlerfrage und der Kampagne zu tun. Aber über allem steht, dass die Union bei dem Thema Sozialpolitik eine offene Flanke hatte. Wir haben die Themen nicht so mit Inhalten gefüllt, wie es den Menschen wichtig war. Die Union ist als zu wenig sozial und wenig empathisch wahrgenommen worden. Das erklärt den Schwenk der 2,5 Millionen Wähler zu SPD und Grünen.

In Ihrer Schwesterpartei, der CDU, soll es gerade kräftig rumsen. Die Christlich-Demokratische Arbeitnehmerschaft (CDA) wirft der eigenen Fraktionsspitze vor, keine „Antenne für kleine Leute“ mehr zu haben, Sozialpolitik habe keine Priorität. Hintergrund der CDA-Wut ist, dass die Fraktionsspitze bei der Wahl der Bundestagsausschussvorsitze keinen einzigen gewählt hat, der dem sozialen Bereich zuzuordnen ist. Hat Ihre Fraktionsspitze den Schuss nicht gehört?

Ich kann den Unmut in der CDA über die fehlenden Vorsitze in sozial geprägten Bundestagsausschüssen gut verstehen. Ich gebe aber auch zu bedenken, dass die Frage der Zuteilung von Ausschussvorsitzen nach einem Zugriffsverfahren läuft und es nicht allein von der Union beeinflussbar ist, welche Ausschüsse wir nehmen. Diese Frage ist aber jetzt mit der Konstituierung der Ausschüsse auch abgeschlossen. Ich möchte den Blick lieber in die Zukunft richten. Es ist richtig, dass die sozialen Themen bei der Union wieder eine stärkere Rolle spielen müssen, und dass sich sowohl die Arbeitnehmergruppe als auch die Vertreter von CDA und CSA in der Fraktion und der Partei bei diesen Fragen zu Wort melden und auch gehört werden müssen.

Volker Ullrich / Pressebild

Bevor wir zur zukünftigen Aufstellung der Union kommen, möchte ich nochmal auf die Bundestagswahl zu sprechen kommen. Laut der Forschungsgruppe Wahlen haben die Wähler bei den Themenfeldern Soziale Gerechtigkeit und Rente der Union nur zu 15 Prozent Kompetenzen eingeräumt, ein verheerendes Ergebnis. Sind soziale Themen von der Union in den letzten Jahren schlichtweg verschlafen worden?

Diese 15 Prozent sind eine Katastrophe und ein Weckruf für CDU/CSU, die sich als Volkspartei in der Mitte der Gesellschaft verstehen. Die CSU hat zudem das „S“ im Namen. Das Soziale in der CSU steht ja nicht für Folklore, sondern ist ein Programmauftrag, für die Breite der Gesellschaft und die Menschen in ihren unterschiedlichen Lebenslagen da zu sein. Von Kinderbetreuung über Bildung bis hin zu Rente und Pflege. Und wenn uns in diesen Bereichen nur 15 Prozent der Menschen vertrauen, müssen wir gewaltig etwas ändern.

Nun haben Sie vorhin auch das politische Personal für das schlechte Wahlergebnis der Union mitverantwortlich gemacht. Die CSU hat aber kaum zu einem besseren Ergebnis beigetragen, Sie wurden von 31,7 Prozent der Bürger gewählt, der zweitschlechteste Wert seit 1949. Hat Markus Söder mit seinen ewigen Sticheleien gegen Armin Laschet der Gesamtpartei nicht einen Bärendienst erwiesen?

Ich glaube, dass wir an einer umfassenden Wahlanalyse nicht vorbeikommen. Klar ist, dass die Union insgesamt keinen geschlossenen Eindruck gemacht hat. Wir können aber nur mit Geschlossenheit und einem klaren Profil, wozu auch wichtige sozialpolitische Aspekte gehören, neues Vertrauen gewinnen.

Und dass dieser wenig geschlossene Eindruck entstanden ist, würden Sie nicht auf Markus Söders Verhalten zurückführen?

Diese Frage ist mir zu eindimensional. Wir müssen die Wahl insgesamt aufarbeiten, vor allen Dingen auch, dass wir im Wahlprogramm in der Sozialpolitik nicht mutiger waren. Aber auch, welche Fehler in der Vergangenheit in der personellen Aufstellung gemacht worden sind. Dazu gehört auch, für die Zukunft ein geordnetes Verfahren zur Bestimmung des gemeinsamen Kanzlerkandidaten von CDU und CSU festzulegen.

Zurück zur Sozialpolitik: Sie sagten, Sie hätten sich mehr in dem Bereich gewünscht. Was genau hätten Sie dort an Verbesserungspotenzial gesehen? In der Öffentlichkeit wurde nicht der Eindruck vermittelt, dass dieses Thema von der Union mit Aufmerksamkeit bedacht wird.

Wir müssen uns darauf verständigen, dass wir in Belangen, die den Menschen wichtig sind, klare Forderungen erheben.

Beispielsweise?

Es geht um die Frage der steuerlichen Entlastung, gerade auch für kleinere Einkommen. Dass Menschen, die Vollzeit arbeiten, mehr Geld in der Tasche haben, ist wichtig. Es geht um Aufstiegsmöglichkeiten und Vermögensbildung, gerade auch der Mittelschicht, sowie Wertschätzung für Familien. Es geht um die Entlastung bei der Pflege und eine gute Perspektive für die Rente.

CDU/CSU regierten für 16 Jahre, genug Zeit, um diese Punkte anzugehen. Fühlen Sie sich als CSA-Vorsitzender in der Union manchmal wie ein Prediger in der Wüste?

Ich sage mal so: Die Aufmerksamkeit in der Öffentlichkeit hat sich in den vergangenen Jahren nicht unbedingt auf den Sozialflügel gerichtet. Das Wahlergebnis hat aber gezeigt, dass mehr Aufmerksamkeit guttun würde. Ich hoffe, es sind jetzt alle aufgewacht.

Und wie wollen Sie mehr Aufmerksamkeit generieren?

Wir werden die Gelegenheit nutzen, als Opposition im Bund unser sozialpolitisches Profil für die Mitte der Gesellschaft zu schärfen. Und das auch in die CSU einbringen. Ich meine, dass sich das Bewusstsein durchsetzen muss, dass wir für künftige Wahlerfolge bei der Frage nach der sozialen Kompetenz wieder vorne liegen müssen. Es gibt immer wieder Themen, die bei der Wahrnehmung der Menschen ganz vorne liegen. Sei es die Flüchtlingskrise, Afghanistan oder die Corona-Pandemie. Aber wenn es um die Dauerbrenner-Themen geht, die für Menschen stets wichtig sind, dann sind das vor allem die sozialen Themen.

Bei der Bundestagswahl lagen die Themen Soziale Gerechtigkeit und Rente bei der Beeinflussung auf die Wahlentscheidung vor dem Bereich Klimaschutz.

Richtig. Bei der Wahlentscheidung lagen die Themen Rente, Pflege und Gesundheit vorne. Deshalb sage ich, soziale Themen sind ein Dauerbrenner. Ungeachtet dessen, welche Themen zunächst vorne lagen, haben sich soziale Themen dauerhaft immer auf Platz zwei oder drei gehalten. Das wurde übersehen.

Sie wollen das soziale Profil der Union schärfen. Geht es da nur um die Außendarstellung oder auch um eine inhaltliche Neuaufstellung? Und welche konkreten Projekte möchten Sie anstoßen?

Es sind im Prinzip mehrere Themen, über die wir sprechen müssen. Zum einen ist es die Frage, wie sich unsere Arbeitswelt verändert. Ich glaube, dass der Trend zu mehr Homeoffice oder Coworking Spaces eine vernünftige Regulierung braucht. Im Mittelpunkt stehen müssen die Rechte von Arbeitnehmern. Das ist der erste Themenkomplex. Der zweite ist die Frage der Vermögensbildung der Mittelschicht. Da geht es nicht nur um Wohneigentum, sondern auch um Beteiligung an Unternehmen. Es geht um die Frage des Aufbaus eines nachhaltigen Vermögens. Das dritte große Thema ist die Pflege. Wie können wir die Arbeit der Pflegekräfte stärker wertschätzen, wie finden wir neue Pflegekräfte, wie entlasten wir Angehörige? Und zuletzt das Thema steuerliche Entlastung. Damit meine ich beispielsweise den Schutz vor höheren Energiepreisen, gerade für die Mittelschicht.

Nun haben Sie einige Themen genannt. Aber welche konkreten Projekte wollen Sie in der Opposition angehen?

Konkrete Projekte sind: Wie vereinbaren wir ein neues Arbeiten mit dem Arbeitszeitgesetz? Wie schaffen wir es, dass wir eine höhere Tarifbindung und Kapitaldeckung bekommen, um damit insgesamt ein höheres Lohn- und Gehaltsniveau zu haben? Wie gelingt es uns, die Vermögensbildung zu steigern? Da ist die Frage nach der Erhöhung des Sparerfreibetrages; Konzepte zu einer Art Investivlohn. Dann geht es um die Frage, wie wir unser Rentenkonzept ausgestalten. Ich finde die zehn Milliarden Euro in dem Ampel-Papier ambitionslos. Die Frage ist doch, wie wir tatsächlich ab 2030 die Stabilität des Rentensystems gewährleisten können. Und in der Pflege meine ich schon, dass wir für die Pflegekräfte eine Entlastung bei ihrer Arbeitszeit erreichen müssen, zum Beispiel eine Viertagewoche als Regelarbeitszeit, damit der Beruf attraktiver wird.

Damit sind Sie progressiver als Ihre Partei.

Eine Volkspartei hat unterschiedliche Strömungen. Wir sind nur dann erfolgreich, wenn wir vielen Menschen ein gutes Angebot unterbreiten.

Ein Thema, das von der Union lange bekämpft wurde, ist der Mindestlohn. Da haben sich die Ampelparteien auf zwölf Euro ab 2023 verständigt. Ein gutes Signal?

Aus volkswirtschaftlichen Gesichtspunkten, vor allem vor dem Hintergrund der Stärkung der Kaufkraft und der Verbesserung der Situation von Menschen mit geringen Einkommen, sind die zwölf Euro akzeptabel. Ich empfehle, sich nicht grundsätzlich gegen die zwölf Euro zu stellen. Die Erhöhung kommt ja auch erst 2023, im nächsten Jahr steigt der Mindestlohn sowieso schon auf 10,45 Euro. Damit ist die Differenz zu den zwölf Euro nicht mehr allzu groß. Ich meine aber, dass der grundsätzliche Mechanismus der Mindestlohnfindung durch die Mindestlohn-Kommission beibehalten werden muss.

So soll es nach der einmaligen Anpassung 2023 ja auch bleiben.

Wir müssen in Deutschland schon zur Kenntnis nehmen, dass beinahe ein Viertel der Arbeitnehmerinnen und Arbeitnehmer in einem Bereich arbeiten, den man im weitesten Sinn noch dem Niedriglohnsektor zurechnen kann. Vor dem Hintergrund steigender Preise müssen die Bezieher geringerer und kleinerer Einkommen am gesellschaftlichen Wohlstand partizipieren können.

Zum Ende möchte ich noch einmal auf Ihre Partei zurückkommen. CDA-Vorsitzender Karl-Josef Laumann nannte das Vorgehen der Fraktionsspitze im Bereich Sozialpolitik eine „große Torheit“. Was wünschen Sie sich von Ihrer Fraktionsführung für die kommenden vier Jahre im Bereich Sozialpolitik?

Wir brauchen mehr Augenmerk auf soziale Themen, gerade auch für das, was die Menschen in ihrer Lebenswirklichkeit berührt. Wir brauchen eine empathische Sprache und mehr sozialpolitisches Einfühlungsvermögen. Die Menschen müssen sehen, dass sie sich mit dem, was sie im Alltag beschäftigt, gut bei uns aufgehoben fühlen. Und wir müssen den Sozialstaat mit dem Wissen weiterentwickeln, dass gutes Erwirtschaften und soziale Verantwortung Hand in Hand gehen.

Derzeit läuft noch die Wahl zum CDU-Parteivorsitz. Unter welchem neuen CDU-Parteivorsitzenden sähen Sie die sozialen Themen am stärksten berücksichtigt?

Es gehört zum guten Ton beider Parteien, dass wir uns nicht gegenseitig in Personalfragen einmischen. Die CDU-Mitglieder haben die Wahl und entscheiden über den Parteivorsitz. Um dauerhaft als Volkspartei bestehen zu können, muss sowohl bei CDU als auch CSU die soziale Handschrift als Seele beider Parteien wieder viel sichtbarer werden. Im Grundsatzprogramm der CDU und im CSU-Programm müssen die Akzente klar sein: Wir sind zwei starke Volksparteien der Mitte und entwickeln für alle Menschen ideologiefrei die soziale Marktwirtschaft weiter. Das Wichtigste aber ist der Zusammenhalt beider Parteien: Wir können in der Sache hart streiten, aber nicht jede Unstimmigkeit muss aus einer internen Sitzung direkt an die Öffentlichkeit getragen werden. Dieses Verhalten haben uns die Wähler übelgenommen, weil es sich für Volksvertreter einer bürgerlichen Partei schlicht und ergreifend nicht gehört. Mit Diskretion, Verlässlichkeit und guten Vorschlägen gewinnen wir Vertrauen wieder zurück.

Die Fragen stellte Jonas Klimm.

Anzeige