SPD in der Krise - Das Paradoxon der Partei

Noch nie war der Einfluss der SPD auf eine Groko so groß. Doch statt die Schwäche der Union zu nutzen, um sich als Partei der kleinen Leute zu profilieren, streitet sie sich über die Frage, ob sie aus der Koalition austreten sollte

Bleiben oder nicht bleiben? Kevin Kühnert will eindeutig nicht bleiben / picture alliance
Anzeige

Autoreninfo

Dieter Rulff ist freier Autor in Berlin.

So erreichen Sie Dieter Rulff:

Anzeige

Wann immer die Sozialdemokratie in den vergangenen Jahren versuchte, sich einen Reim auf ihre zahlreichen Niederlagen zu machen, wann immer sie ihr Leiden auf einen Begriff bringen wollte, lautete dieser: „Große Koalition“. Und spätestens seit Kevin Kühnert es zum ceterum censio einer jeden verlorenen Wahl erhoben hat, dass der politisch natürliche Ort der SPD die Opposition sei, erschien diese Diagnose so offensichtlich, dass sie keiner weiteren Begründungen bedurfte. Wer intern anderer Meinung ist, befindet sich im Rechtfertigungszwang.

„Wie hältst Du es mit der Groko?“, auf diese Frage setzte gut eine Stunde nach Eröffnung der Ausscheidungskämpfe um den SPD-Parteivorsitz in Saarbrücken Karl Lauterbach die erste Duftmarke: „Ich glaube nicht, dass wir uns in einer Großen Koalition erholen können,“ sagte der gelernte Mediziner. Er erntete dafür ebenso den erwartbaren Applaus, wie kurz danach Olaf Scholz – gleichfalls absehbar – sich vorhalten lassen musste, seit Jahren tragender Bestandteil des sozialdemokratischen Krankheitsbildes zu sein, mithin kontraindiziert für jegliche Variante von Therapie, die man der Partei angedeihen lassen könnte. Und irgendwo zwischen Lauterbach und Scholz werden sich wohl auch die übrigen Kandidaten im Laufe der kommenden Tage und Wochen einsortieren – und damit der Partei ein griffiges Kriterium für die Wahl ihrer Führung an die Hand geben. „Wie hältst Du es mit der Groko?“, die Antwort darauf markiert die Scheidelinie zwischen fremdbestimmter und authentischer Sozialdemokratie, zwischen dem Elend der Schröder-Merkel-Jahre und einer Zukunft, in der die Sonne wieder ohne Unterlass auf die Sozialdemokratie scheinen wird.

Sozialdemokratische Identitätskrise

Vertieft wird diese Linie von der seit Kiesingers und Brandts Zeiten in Stein gemeißelten Weisheit, dass Große Koalitionen demokratieabträglich seien, mithin eine Ausnahme im parlamentarischen Betrieb zu bleiben haben – ein Befund, der zum festen Repertoire jeglicher journalistischer Betrachtungen des Themas gehört.

An diesem Befund war schon immer bedenkenswert, dass er, obgleich er die Große Koalition zum Gegenstand hat, eigentlich immer nur die Sozialdemokratie im Fokus stand. Sie litt und leidet bisweilen geradezu physisch unter der Kooperation mit der Union und beklagt wortreich die damit einhergehenden Mangelerscheinungen der parlamentarischen Demokratie. Während die Christdemokraten zwar routinemäßig über die „Sozen“ stöhnen, mit denen sie den Kabinettstisch teilen, aber sich selten in ihrer Identität oder gar Existenz gleichermaßen betroffen fühlen. Wo die Sozialdemokraten nach Wahlen auf offener Bühne hyperventilieren, gilt das erste Bemühen der Union meist dem Bild innerer Gelassen- und Geschlossenheit.

Personelle Prägung

Diese Unausgewogenheit im Leiden der beiden Partner an der Großen Koalition hängt nur bedingt von deren gemeinsamer Performance ab. Die erste von 1966 bis 1969 ging nicht nur wegen ihrer, von der SPD vorangetriebenen, ambitionierten Reformagenda in die Geschichte ein. Als Versöhnung von Kapital und Arbeit war sie zudem die prägende politische Konstellation des bundesrepublikanischen Wohlfahrtsmodells und wurde als solche seitdem von der Wählerschaft gegenüber allen anderen Koalitionsvarianten meist favorisiert. Wegen ihres gesellschaftlich übergreifenden Charakters wird auch lediglich die Koalition von SPD und Union eine Große genannt. Die derzeit regierende Große Koalition ist – mit einer Legislaturperiode Unterbrechung – die dritte nacheinander. Das wäre zumindest demokratietheoretisch ein bedenkliches Signal – doch das Argument sticht nicht mehr so recht. Denn zum einen ist die Große Koalition mittlerweile in einem Sechs-Fraktionen-Parlament keine große mehr, zum anderen ist sie produktiver als die vorangegangenen von 2005 bis 2009 und von 2013 bis 2017. Von einer Lähmung, wie sie Kennzeichen Großer Koalitionen ist, kann keine Rede sein.

Vor allem ist sie sozialdemokratisch geprägt. Diese Prägung war zunächst personell und nicht parteilich, sie wurde durch einen Linksschwenk in Merkels Regierungspolitik verursacht. Dieser führte nicht, was durchaus zu erwarten gewesen wäre, zu einer höheren Akzeptanz der Zusammenarbeit auf Seiten der Sozialdemokratie, sondern zu einer erkennbaren Verunsicherung über den eigenen Kurs, mit dem auf diese inhaltliche Annäherung geantwortet werden soll. Diese Verunsicherung wurde in dem Maße größer, wie die Umfragewerte kleiner wurden. Dieser Trend wurde auch nicht dadurch gebremst, dass zuletzt durch einer Reihe von Gesetzesvorhaben von Familienministerin Franziska Giffey und Arbeitsminister Hubertus Heil eine sozialdemokratische Handschrift die Regierungspolitik prägte. Selten war eine Große Koalition sozialdemokratischer und selten lag die SPD so über Kreuz mit ihr. Das ist das Paradoxon der Partei. Die wird umso offensichtlicher, als die Union zugleich eine lange nicht mehr gekannte Schwäche zeigt, die sich durch den anstehenden Führungswechsel noch vertiefen wird. Statt diese zu nutzen und die koalitionäre Meinungsführerschaft für sich zu reklamieren, gönnt sich die SPD eine monatelange Auszeit zur Selbstfindung. Die brennende Frage der Partei ist nicht mehr, wie regiert wird, sondern ob, und von der Wahl des Spitzenduos erhofft man sich einen ersten klaren Hinweis auf die Antwort.

Abschottung gegen die Welt der Wähler

Was könnte die SPD gewinnen, sollte sie Kühnerts Kur in der Opposition antreten? Die Groko endlich hinter sich lassen? Geschenkt, denn die ist sowieso Geschichte für eine Partei, die sich an der Fünfzehn-Prozent-Marke entlanghangelt. Es gehört eher zu den Kuriositäten der aktuellen innerparteilichen Debatten, dass nicht Wenige in einem Zweierbündnis mit der Union noch eine gleichermaßen realistische wie bedrohliche Option erkennen. Gerade so, als hätte Willy Brandt erst gestern geunkt, dass 37 Prozent doch auch ein schönes Ergebnis seien. Die SPD ist keine Volkspartei mehr, sie hat nur noch die sklerotisch gewordene Binnenstruktur einer Volkspartei. Diese war, als sie noch pulsierte, angelegt, die Interessen der verschiedenen sozialen Gruppe und Strömungen im innerparteilichen Willensbildungsprozess zu integrieren und daraus den Willen der „Volks“-Partei zu filtern. Doch die dafür erforderliche Debatten- und Führungskultur ist erschlafft. Die sozialen Ressourcen, aus denen die SPD sich einst speiste, vornehmlich die Arbeiterschaft, sind ausgetrocknet. Mittlerweile stellt der Öffentliche Dienst die stärksten Bataillone.

Die Kontroversen werden dominiert von einer Schicht mittlerer Parteikader, bei denen sich häufig eine Abschottung gegenüber der Alltagswelt der Wählerschaft mit einem programmatischen Rigorismus paart, der ihnen dazu dient ihr innerparteiliches Einflussfeld abzustecken. Der flügel- und gruppenbezogenen Debattenkultur im Inneren entspricht eine leblose Formel- und Floskelsprache nach außen. Nichts hat die intellektuelle Misere der SPD in den letzten Jahren deutlicher gemacht als die innerparteiliche Aufbereitung der Hartz-Reformen. Deren Bewältigung hat die Partei anderthalb Jahrzehnte zerrissen, ohne dass die Führung in der Lage gewesen wäre, aus den divergierenden Positionen eine für alle verbindliche Haltung zu filtern. Kam von Müntefering oder Gabriel am Sonntag ein Lob, folgte prompt am Montag per Twitter Stegners Widerworte. Ähnliche unbearbeitete Divergenzen ließen sich für die politisch zentralen Felder der vergangenen Jahre in der Flüchtlings-  und die Europapolitik, beim Ausgleich zwischen Ökologie- und Industriepolitik oder bei der schwarzen Null feststellen. Nicht dass es dazu keine Meinungen in der Partei gäbe, es mangelt aber am Willen und an der Fähigkeit, daraus ein kohärentes sozialdemokratisches Angebot zu filtern, das zusammen mit einem ansprechenden Personaltableau die Grundlage eines von allen getragenen Regierungshandeln wäre.

Kein intaktes strategisches Zentrum mehr

Wie besonders in den Wahlkämpfen von Steinbrück und Schultz deutlich wurde, verfügt die Partei schon seit Langem über kein intaktes strategisches Zentrum mehr und es ist zweifelhaft, dass die angestrebte Führungsstruktur einer Doppelspitze dienlich sein könnte, ein solches wieder zu schaffen. Auch bei den Grünen, von denen die SPD dieses Modell augenscheinlich übernommen hat, führte diese Art von austariertem Führungsproporz jahrelang zu Blockaden und Nicht-Kommunikation an der Spitze.

Diese Misere der SPD ist nicht der Großen Koalition geschuldet, von daher würde mit deren vorzeitigen Beendigung keine Abhilfe geschaffen. Zu befürchten ist eher, dass mit einem Rückzug in die Opposition sich der Hang zur innerparteilichen Frontstellungen statt zur gesellschaftlichen Auseinandersetzung verstärken wird. Das Verlangen nach einer authentischen, einer linken Sozialdemokratie ist jedenfalls mit Händen zu greifen, und die Stimmen werden lauter, die in einem rot-rot-grünen Bündnis eine willkommene Alternative sehen.

Keine größeren Chancen als Groko

Nun dürfte ein Blick auf die durchwachsene Bilanz und die schlechte Kooperation eines solchen Bündnisses im Land Berlin eher ernüchternd wirken. Zudem zeichnen sich bei einer rot-rot-grünen Koalition im Bund eine ganze Reihe von Differenzen und Konfliktfeldern ab, etwa in der Außen- und Verteidigungspolitik, die es fraglich erscheinen lassen, ob die Aussicht darauf und ein entsprechender Lagerwahlkampf genügend Wählerinnen und Wähler mobilisieren würde. Entscheidender ist jedoch für die SPD, dass sie mit dem Problem der Eigenprofilierung, dem sie mit dem Verlassen der Großen Koalition entkommen will, auf andere Weise, aber ebenso heftig konfrontiert sein wird.

Ihre Schwierigkeiten, neben Grünen, die im ökologischen Aufwind segeln, und einer Linken, die mit dem Aplomb auftritt, die eigentliche sozialdemokratische Kraft im Lande zu sein, ein eigenes Profil zu zeigen, lassen sich gerade in Berlin studieren. Und sie dürften auf den Feldern der Bundespolitik kaum geringer sein. Viele linke Sozialdemokraten werden sich in einem solchen Bündnis heimischer fühlen, doch bietet es keine größeren Chancen auf Wahlerfolge als die geschmähte Große Koalition. Gut möglich, dass die Gretchenfrage der SPD demnächst lautet: Wie hältst Du es mit der Linken oder den Grünen?

Anzeige