Sozialstaatsexperiment der Ampelkoalition - „Das Aussetzen der Hartz-IV-Sanktionen ist extrem integrationsfeindlich“

Die Ampelkoalition hat die Regeln für Hartz-IV-Empfänger gelockert: Wer keine Kurse besucht und angebotene Jobs ablehnt, bekommt keine Sanktionen mehr. Das sei besonders gegenüber Migranten ein verheerendes Signal, warnt Heinrich Alt, Sozialdemokrat und ehemaliges Vorstandsmitglied der Bundesagentur für Arbeit. Denn damit werde den ausländischen Mitbürgern signalisiert: Ihr kriegt euer Geld ohne jede Verpflichtung.

Wer den Integrationskurs schwänzt, hat nichts mehr zu befürchten: Die Ampelkoalition macht den deutschen Sozialstaat noch großzügiger / dpa
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Daniel Gräber leitet das Ressort Kapital bei Cicero.

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Heinrich Alt war von 2002 bis 2015 im Vorstand der Bundesagentur für Arbeit.

Herr Alt, die Ampelkoalition hat Sanktionen für kooperationsunwillige Hartz-IV-Empfänger fast komplett gestrichen. Ist das die Abkehr vom Prinzip Fördern und Fordern?

Ja, die ehrlichere Lösung wäre es gewesen, gleich ein bedingungsloses Grundeinkommen einzuführen. Man tut so, als gäbe es noch Fördern und Fordern, obwohl es zumindest bis Juni nächsten Jahres ausgesetzt ist. Die einzige kleine Sanktion, die man erhalten hat, ist reine Kosmetik. Ich fand das bisherige System gut, weil es Mitwirkungspflichten formuliert hat und damit auch eine Balance gehalten hat zwischen den Menschen, die durch ihr Steueraufkommen die Leistungen finanzieren, und den Menschen, denen Solidarität zuteil wird, indem sie Leistungen beziehen. Diese Balance sehe ich durch die jetzigen Reformen stark gefährdet. Der Leistungserbringer wird sich fragen, warum er noch Steuern zahlt, wenn auf der anderen Seite jemand ohne jede Verpflichtung aus Steuermitteln seinen Lebensunterhalt bestreitet. Jeder sollte im Rahmen seiner Möglichkeiten einen Beitrag leisten. 

Welche kleine, kosmetische Sanktion bleibt denn noch?

Beim zweiten Meldeversäumnis gibt es eine Mini-Sanktion. Das läuft so: Jemand, der Grundsicherung bezieht, bekommt eine Einladung zum Jobcenter und meldet sich nicht. Dann passiert erstmal nichts. Wenn er die zweite Einladung bekommt und er sich wieder nicht meldet, wird ihm die Leistung um zehn Prozent gekürzt. Beim jetzigen Regelsatz von 449 Euro sind das 45 Euro pro Monat. Das Jobcenter weiß nicht, was der Kunde macht, ob er vor Ort ist oder sich etwa im Ausland aufhält. Es gewährt Leistungen im Blindflug.

Das ist die neue Rechtslage, die erstmal bis Juni 2023 gilt. Zuvor waren deutlich höhere Kürzungen möglich. 

Heinrich Alt / dpa

Ja, es wurde bei Pflichtverletzungen stärker gekürzt, um bis zu 30 Prozent. Noch wichtiger ist: Es konnte bisher auch bei Ablehnung einer zumutbaren Beschäftigung oder bei Ablehnung einer Förderungsmaßnahme sanktioniert werden. Das fällt jetzt komplett weg. Deshalb meine ich: Es ist im Kern die Einführung eines bedingungslosen Grundeinkommens, wie es die Grünen ja wollen. Mit einer Minikürzung beim zweiten Meldeversäumnis.

Als Hartz-IV-Empfänger muss ich mich also nicht mehr dafür rechtfertigen, wenn ich einen Job ablehne?

Sie können jedes Arbeitsangebot ablehnen. Sie können den Integrationskurs ablehnen. Sie können den Deutschkurs ablehnen. Sie können eine Weiterbildung zur Fachkraft ablehnen. Sie können jede Form von aktiver Arbeitsmarktpolitik folgenlos ignorieren. Das hat erhebliche Rückwirkungen auf die Arbeit der Jobcenter. Man hatte ursprünglich die gute Idee der Eingliederungsvereinbarung, in der die Rechte und Pflichten der Jobcenter und der Kunden individuell festgelegt wurden. Diese Eingliederungsvereinbarung ist jetzt obsolet geworden. Denn was will ich vereinbaren, wenn die andere Seite die Vereinbarung jederzeit folgenlos kündigen kann?

Aus der Praxis gab es daher Widerstand gegen die Gesetzesänderung. 

Alle, die an der Grundsicherung direkt beteiligt sind, haben sich massiv gewehrt. Landkreistag, Städtetag, Bundesagentur für Arbeit, Führungs- und Fachkräfte aus den Jobcentern haben sich einmütig für die Beibehaltung der bestehenden Regelungen ausgesprochen. Man hat sich über ihr fundiertes Votum hinweggesetzt. Ich glaube auch nicht, dass man damit den Menschen, die in der Grundsicherung sind, irgendeinen Gefallen tut. Im Gegenteil: Man setzt diese Menschen nicht mehr unter eine positive Erwartung, das Richtige zu tun, um wieder in die Arbeitsgesellschaft zurückzufinden.

Befürworter eines bedingungslosen Grundeinkommens sagen, es brauche keinen solchen Druck. Jeder Mensch wolle von sich aus etwas Sinnvolles tun.

Das ist leider ein sehr idealistisches Menschenbild. Manche brauchen einfach einen Schubs, einen zarten Druck, in die richtige Richtung zu gehen. Wenn man ihnen noch etwas abverlangt, zeigt man auch, dass man ein Interesse an ihnen hat, dass sie gebraucht werden, dass man gemeinsam mit ihnen versucht, einen Platz in der Arbeitsgesellschaft zu finden. Wenn man nichts mehr von ihnen verlangt, heißt das im Kern: Du wirst nicht gebraucht, wir erwarten nichts mehr von dir, wir lassen dich in Ruhe und versorgen dich mit dem Existenzminimum. Eine grausame Botschaft für die Betroffenen. Hinter dem bedingungslosen Grundeinkommen steckt daher meiner Meinung nach eine menschenunwürdige Haltung. 

Unter Hartz-IV-Empfängern sind überdurchschnittlich viele Migranten. Was bedeuten die neuen Regeln für deren Integration? 

Das Aussetzen der Sanktionen ist extrem integrationsfeindlich. Denn damit wird den ausländischen Mitbürgern signalisiert: Ihr kriegt euer Geld ohne jede Verpflichtung. Ihr müsst nicht den Deutschkurs besuchen, ihr müsst euch nicht beruflich qualifizieren, ihr müsst keine Arbeit aufnehmen. Diese Gesellschaft zahlt Leistungen, ohne angemessene Gegenleistungen zu verlangen. Das ist verheerend. 

Zu einer Einwanderungspolitik der nach wie vor offenen Grenzen passt das auch nicht so ganz.

Es passt überhaupt nicht zusammen. Das Interessante ist, dass selbst Hartz-IV-Bezieher mehrheitlich für die Beibehaltung der Sanktionen sind. Denn auch die Betroffenen wollen, dass es in dem System gerecht zugeht: Wer mitspielt, wird gefördert – wer nicht mitspielt, wird entsprechend sanktioniert. Dass selbst die Mehrheit der Betroffenen für die Sanktionen ist, zeigt, wie abartig diese politische Entscheidung ist. 

Sie haben die 2015 durch den Syrienkrieg ausgelöste Flüchtlingskrise aktiv miterlebt. Was ist Ihr Fazit: Wie gut ist die Integration der Flüchtlinge in den deutschen Arbeitsmarkt gelungen?

Eine schöne Entwicklung ist, dass inzwischen etwa die Hälfte derer, die aus Syrien gekommen sind, in Lohn und Brot ist. Aber das ist die leichter zu integrierende Hälfte. Das sind Menschen, die einen Schulabschluss und einen Berufsabschluss haben, die Englisch können und schnell Deutsch lernen. Die zweite Gruppe, die jetzt noch zu integrieren ist, tut sich viel schwerer, weil es häufig an Allgemeinbildung fehlt, an beruflicher Bildung, an Sprachkenntnissen. Für diese Menschen wäre es ein Segen, gefördert zu werden: durch Alphabetisierung, Deutschkurse und berufliche Bildung. Das ist mühsam, anstrengend und bedarf eines großen Durchhaltewillens für eine lange Wegstrecke. Da helfen Mitwirkungspflichten extrem. Leistungsbezug ohne Sanktionen ist zweifellos verlockender.

Als maßgebliche politische Kraft hinter diesem Projekt sehen Sie die Grünen?
 
Wenn ich mir die Parteiprogramme zur jüngsten Bundestagswahl anschaue, dann war es eindeutiger Wille der Grünen, in Richtung eines bedingungslosen Grundeinkommens zu gehen. Die Grünen haben von einer Garantiesicherung gesprochen: Jedem Bürger wird zum Lebensunterhalt ein fester Betrag garantiert, der nicht gekürzt werden kann. Das war grüne Politik. Die hat sich hier durchgesetzt. 

Auch die SPD spielt mit. Sie will offenbar die ungeliebten Hartz-IV-Reformen hinter sich lassen.

Ich bin seit mehr als 50 Jahren SPD-Mitglied und kann mich nur wundern, dass meine Partei dort mitspielt. Die SPD ist die Partei, die die Interessen der Arbeitnehmerinnen und Arbeitnehmer vertritt. Sie finanzieren mit ihren Steuermitteln die Grundsicherung. Daher ist wichtig, Rechte und Pflichten überzeugend zu verteilen zwischen dem, der die Leistungen aufbringt, und dem, der die Leistungen erhält. Diese Balance hat man aufgegeben. Und was mich noch mehr wundert, ist, dass die FDP hier mitspielt, insbesondere Christian Lindner als Kassenwart. 

Stimmt. Mit liberalen Ideen ist das noch weniger zu vereinbaren als mit sozialdemokratischen. 

Das hat mit einer liberalen Gesellschaft, die auf dem Prinzip Leistung und Gegenleistung beruht, gar nichts mehr zu tun. Und es wird Herrn Lindner ins Geld gehen. Deswegen ist meine Prognose: Diese Regelung wird sich nicht lange aufrechterhalten lassen, weil sie dem Leistungsmissbrauch Tür und Tor öffnet. Dieser Großversuch einer bedingungslosen Grundsicherung muss scheitern und wird scheitern.

Das Gespräch führte Daniel Gräber
 

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