Moral und Politik - Der bigotte Ruf nach Solidarität

Es ist nicht nur Steinmeiers Wort schlechthin, sondern auch das vieler anderer Politiker während der Corona-Krise: Solidarität. Der Aufruf dazu hat aber zunehmend etwas Bedrohliches, denn Widerspruch ist immer ausgeschlossen.

Für mehr Solidarität in der Pandemie vor dem Hamburger Rathaus. / dpa
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Autoreninfo

Alexander Grau ist promovierter Philosoph und arbeitet als freier Kultur- und Wissenschaftsjournalist. Er veröffentlichte u.a. „Hypermoral. Die neue Lust an der Empörung“. Zuletzt erschien „Vom Wald. Eine Philosophie der Freiheit“ bei Claudius.

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Man kann mit Worten heucheln. Wir alle wissen das. Es gibt aber auch Worte, die sind an sich Heuchelei. Sie blenden, täuschen und führen in die Irre. Zum Beispiel das Wort „Solidarität“.

Schon unter normalen Umständen ist die andauernde Beschwörung von Solidarität nur schwer erträglich. Zu oberlehrerhaft, zu schwülstig, zu aufdringlich. In Zeiten von Corona jedoch geraten die nicht enden wollenden Aufrufe zur Solidarität endgültig zum Schmierentheater. Sie sind zur rhetorischen Allzweckwaffe all jener geworden, die im Grunde wenig zu sagen haben. Oder derjenigen, die davon ablenken wollen, dass auch ihre Macht nur eine begrenzte ist. Schließlich klingt der Appell an die Solidarität immer gut. Irgendwie menschenfreundlich. Da macht man nichts falsch. Gegen Solidarität kann eigentlich keiner etwas haben. Oder etwa doch?

Das Steinmeier-Wort schlechthin 

Es ist daher auch kein Zufall, dass „Solidarität“ das Steinmeier-Wort schlechthin ist. Schon zu Beginn der Corona-Krise im März letzten Jahres erkannte der Herr von Schloss Bellevue, dass „unsere Solidarität“ jetzt extrem wichtig sei. Im April dann forderte er „Geduld und Solidarität“. Anlässlich der erneuten Lockdowns im Dezember „anhaltende Solidarität“. Und mit Blick auf die Verteilung der Impfstoffe mahnte Steinmeier schließlich zur „weltweiten Solidarität“. Man spürt geradezu wie gut er sich innerlich dabei fühlte.

Das Wort Solidarität aus Politikermund changiert nicht nur zwischen Hilflosigkeit und Einfalt. Das wäre zu verkraften. Nein, es hat vor allem etwas Bedrohliches. Denn wo rührselig Solidarität eingefordert wird, ist Widerspruch ausgeschlossen. Der Ruf nach Solidarität ist ein Todschlagsappell. Ein in geraspeltes Süßholz gehüllter Befehl. Wer sich ihm entzieht, nimmt sich vom Spielfeld und darf sich auf Sanktionen gefasst machen.

Umgekehrt hat das Einklagen von Solidarität einen eingebauten Applausmechanismus. Die Zustimmung der Betulichen und Betroffenen ist einem sicher. Und wer nicht mit klatscht macht sich verdächtig. Wer gegen Solidarität ist, muss ein maßloser Egoist sein. Oder schlimmeres.

Oder doch eher Gehorsam? 

Und genau deshalb ist der andauernde Ruf nach Solidarität bigott: Denn wer Solidarität einklagt, meint gar nicht Solidarität, sondern Gehorsam. Da er aber weiß, dass wir in einer demokratischen Gesellschaft leben und der Obrigkeitsstaat zumindest formal der Vergangenheit angehört, kleidet er seine Erlasse besser in das süßliche Fondant der Moral und fordert mehr Solidarität.

Solidarität ist dem lateinischen soldius entlehnt. Das bedeutet – siehe solide – fest, massiv, gediegen und echt. Solidarität meint also den festen Zusammenhalt innerhalb einer Gruppe. Innerhalb der Familie kann man solidarisch sein, innerhalb eines Freundeskreises, eines Vereins oder einer Partei. Es war die Arbeiterbewegung, die im 19. Jahrhundert die Solidarität auf das politische Parkett hob. Die Arbeiterschaft sollte über Grenzen hinaus solidarisch sein und sich nicht national gegeneinander ausspielen lassen. Als wirklich international erwies sich jedoch das Kapital. Allerdings nicht aus Solidarität. Das sollte zu denken geben.

Freiwillig und spontan 

Wenn in der Politik das hohe Lied von der Solidarität angestimmt wird, geht es jedoch niemals um spontanen Zusammenhalt von Menschen, sie sich freiwillig, wegen gemeinsamer Interessen oder aus wechselseitiger Zuneigung zusammengefunden haben, sondern um Solidarität schlechthin – am besten mit der Menschheit an sich, immer und zu jeder Zeit. Doch wie stets so hat auch hier der Export lokaler Moral auf die universale Ebene den bösen Beigeschmack der politischen Instrumentalisierung.

Hinzu kommt, dass der andauernde Aufruf zur Solidarität ganz unverhohlen an den niedrigsten Instinkt der Menschen appelliert: den Neid. Aber was hätte das Stadttheater davon, wenn die Bundesliga aus Solidarität ihren Spielbetrieb einstellen würde? Falsche Frage, werden jetzt manche denken, schließlich geht es ums Prinzip. Aber genau da liegt das Problem.

Solidarität wächst aus der Gesellschaft heraus. Freiwillig und spontan. Wer jedoch Solidarität von oben einklagt, versucht entweder die Gesamtgesellschaft für Missstände haftbar zu machen – man war eben nicht solidarisch genug – oder aber obrigkeitsstaatliche Anordnungen mit Moralrhetorik zu verschleiern. Für erwachsene und selbstständige Bürger ein unwürdiges Schauspiel.

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