Schattenseiten der Digitalisierung - Der Wahn aus dem Valley

Lange Jahre wurde die Digitalisierung mit großen Verheißungen gottgleich auf einen Sockel gehoben. Jetzt offenbart sie ihre dunkle Seite. Sie ist geprägt von Süchten, Hass und einer besorgniserregenden Machtkonzentration.

Die Digitalisierung wurde zur Ersatzreligion / Matthias Seifert
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Ralf Hanselle ist stellvertretender Chefredakteur von Cicero. Im Verlag zu Klampen erschien von ihm zuletzt das Buch „Homo digitalis. Obdachlose im Cyberspace“.

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Antje Hildebrandt hat Publizistik und Politikwissenschaften studiert. Sie ist Reporterin und Online-Redakteurin bei Cicero.

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Mitten in Barcelona, geschützt von der Plaça d’Eusebi Güell und den 600 Jahre alten Klosteranlagen von Pedralbes, liegt eine alte Kapelle. Eingeklemmt von zwei schmalen Türmen, erstreckt sich ihr Langhaus bis direkt vor die gläsernen Fassaden der Polytechnischen Universität. Torre Gerona, Turm von Girona, heißt das eigentlich unspektakulär daliegende Gotteshaus, das mit seinem Namen auf jene nordkatalonische Metropole verweist, in der seit dem späten Mittelalter die Kathedrale Santa Maria de Gerona bis kurz vor den Himmel ragt. Torre Gerona selbst ist wesentlich kleiner. Unter seinem roten Ziegeldach erstreckt sich das einst zu einem Kloster gehörende Gemäuer auf einer Grundfläche von gut 170 Quadratmetern.

Wer sich indes ins Innere der von lautem Verkehrslärm umspülten Kapelle hineinwagt, der wird nach wenigen Schritten von einem Wunder überwältigt. Denn kurz hinter der Apsis liegt eines der letzten Heiligtümer unserer Zeit: Mare Nostrum – ein im Jahr 2004 erstmals ans Netz gegangener Supercomputer, der, geformt aus unzähligen Servermodulen, in einer Art gläsernem Schrein auf einer Plattform, 70 Zentimeter oberhalb des Kappellenbodens ruht. Jedem Besucher stockt hier der Atem. Dieser gewaltige Computer hat einen Marktwert von 223 Millionen Euro und eine Rechenkapazität von 200 Petaflops, das entspricht einer Leistung von 200 Billiarden Rechenoperationen pro Minute. Damit belegt das von lauten Lüftungsanlagen umgebene Monstrum, das an diesem heiligen Ort Assoziationen an die Kaaba in Mekka weckt, im nach oben offenen Ranking der globalen Rechengiganten einen der fordersten Ränge.

Anfangs waren es vermutlich nur Platzgründe, die dazu geführt hatten, dass das benachbarte Barcelona Supercomputer Center (BSC) seinen Großrechner ausgerechnet in einer leeren Kapelle unterbringen ließ, doch mehr und mehr wurde er an diesem Ort zu einem modernen Götzenbild – derart mysteriös, dass ihn Bestsellerautor Dan Brown vor einigen Jahren sogar in einem seiner Romane verarbeitet hat.

Digitalisierung als Religionsersatz

„In Torre Gerona huldigen wir der letzten Superideologie unserer Zeit“, glaubt Marie-Luise Wolff, die sich der Faszination solch geheimnisumwitterter Orte nicht entziehen kann. Die 62-jährige Unternehmerin, die seit sieben Jahren als Vorstandsvorsitzende des Darmstädter Energieversorgers Entega AG arbeitet, weiß, wie sehr die Digitalisierung in den vergangenen drei Jahrzehnten zu einer Art Religionsersatz geworden ist. In den neunziger Jahren war Wolff Marketingleiterin beim Technologieriesen Sony. Sie kennt sich also bestens aus mit den großen Versprechungen der Tech-Industrie.

Das aber, was die zierliche Managerin mit der auffallend großen dunklen Brille heute über die bunte IT-Branche denkt, wirkt geradezu ketzerisch. Wolff nämlich glaubt, dass die binären Codes und Algorithmen im Inneren von Datenkolossen wie Mare Nostrum längst nicht mehr Lösungen für die Probleme der Zukunft bereithielten, sie seien vielmehr Götzen einer quasireligiösen Verehrung geworden. „Ja, wir beten die Digitalisierung an. Wir überhöhen ihre Errungenschaften – Social Media, Videotelefonie oder Virtual Reality – und überfrachten sie mit irrationaler Zauberkraft.“

Sinnlose Technikspielzeuge

In der Wirtschaft, dem Feld, auf dem sich die couragierte Managerin mit der sportlichen Kurzhaarfrisur tagtäglich bewegt, hat eine derartige Digitalisierungsskepsis zurzeit wenig Konjunktur. Dabei hat der blinde Glaube an die Cyberideologie laut Wolff längst zu irrationalen Entwicklungen geführt: Hedgefonds etwa investierten nicht mehr in Projekte, die an innovativen Herausforderungen arbeiteten, sie engagierten sich lieber für sinnlose Technikspielzeuge. Wolff erhebt gegen diesen Trend Einspruch. Ihre Zweifel und Fragen hat sie gerade in einer provokanten Schrift zu Papier gebracht. Titel: „Die Anbetung“, eine Art Schwarzbuch der digitalen Beschleunigung.

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Denn Unternehmen, so ist Wolff in alter mittelständischer Tradition überzeugt, haben Verantwortung. Sie müssten Lösungen für die realen Probleme der Menschen finden – für Klimawandel, Armut oder Pandemiebekämpfung. Das aber, was die globalen Plattformkonzerne mit Vorzeigeunternehmen wie Facebook, Amazon und Google in den vergangenen zwei Jahrzehnten geleistet hätten, sei oftmals das glatte Gegenteil. Man gebe sich revolutionär, ohne wirklich zu revolutionieren: „Die Tech-Konzerne bieten digitale Gimmicks ohne Lösungskompetenzen und gefährden mit vielen ihrer Entwicklungen das Fundament unserer Bildung, unseres Denkens, unserer psychischen Gesundheit, ja unserer Demokratie.“

Aussteiger selbst im Silicon Valley

Harte Worte. Doch Wolff steht nicht allein da. Seit sich in den Nachrichten Meldungen häufen, die von Algorithmen und Bots erzählen, welche Einfluss auf demokratische Wahlen und Mehrheitsentscheidungen nehmen; seit Studien belegen, dass die Empathiefähigkeit unter Studenten in nur 20 Jahren um 40 Prozent gesunken ist; und seit Langzeituntersuchungen sogar ermitteln, dass es einen direkten Zusammenhang zwischen aktiver Bildschirmnutzung und Depressionsentwicklung gibt, werden die Stimmen lauter, die sich gegen die realitätsfernen Heiligengeschichten rund um Big Data zur Wehr setzen. Selbst im Silicon Valley, dem Ort, an dem die Frohe Botschaft einst am lautesten in die Welt hineingetragen wurde, steigen immer mehr IT-Entwickler aus, werden aus einstigen Geldgebern Kritiker oder gar Ketzer: „Ich glaube nicht, dass die Leute im Silicon Valley schlechte Menschen sind“, meinte jüngst etwa Roger McNamee, einer der frühesten Finanziers beim Tech-Riesen Facebook, ihre Werte aber stünden mittlerweile im Konflikt mit den Werten einer liberalen Demokratie.

Es ist ein Konflikt, der mit einer schier gigantischen Konzentration von Macht einhergeht. „Die großen Onlineplattformen haben Datenmonopole erschaffen, für die bisher jedes Regelwerk, jeder Rechtsrahmen und jede Rechtsgeschichte fehlt“, glaubt Marie-Luise Wolff. Doch zur Untermauerung ihrer These fehlte ihr bis dato das Datenmaterial. Ein Kölner Medienwissenschaftler aber, der sich seit Jahren bereits mit Monopolbildungen im Netz beschäftigt, kann diesen Verdacht nun erstmals empirisch erhärten: Martin Andree, Dozent für digitale Medien an der Universität zu Köln, hat die Konzentration im Netz untersucht. Zusammen mit seinem Kollegen Timo Thomsen hat er dafür das Zahlenwerk der Gesellschaft für Konsumforschung (GfK) unter die Lupe genommen. Deren Panel dokumentiert die reale Mediennutzung bei einer repräsentativen Stichprobe von 16.000 Usern. „Das ist nüchterne Wissenschaft. Forschung im Drosten-Style“, schwärmt Andree, der den Stolz über die weltweit erste Untersuchung dieser Art nicht verhehlen kann.

Unfassbare Machtkonzentration

Andrees Ergebnisse haben die Cyberkultur von den Füßen auf den Kopf gestellt: „Wir haben vorher ja nicht gewusst, wie das Internet in Sachen Nutzung aufgeteilt ist. Jeder denkt, solche Informationen seien frei verfügbar – dabei wissen wir als Gesellschaft über solche einfachen Fragen nicht Bescheid.“ Jetzt aber sieht man klarer. Der humorvolle Kölner, der bei allem nüchternen Forschergeist gern mal eine flapsige Formulierung raushaut, spricht gar von „Wahnsinn“. Nach seiner Messung könne er nämlich exakt bestimmen, dass die Onlinekonzentration derzeit bei einem Wert von 0,988 liege. Andree reibt sich die Augen: „Verstehen Sie?“, entfährt es ihm fast mit Entsetzen. „Man ahnte doch, dass die Welt im Netz konzentriert ist, aber 0,988 liegt ganz knapp unter 1,0 – einem Zustand, in dem es nur einen einzigen Wettbewerber gäbe.“

Vielleicht hat Martin Andree recht. Das ist tatsächlich Wahnsinn. „Im unendlich großen Kosmos der digitalen Angebote zieht eine mikroskopisch kleine Auswahl von lediglich 500 Webseiten und Apps 85,8 Prozent des gesamten digitalen Traffics auf sich“, doziert er. Man kann nur ahnen, was das letztlich bedeutet: Der Riesenanteil der Internetseiten ruht längst auf einem Digitalfriedhof. Und: Alle großen Versprechungen der Digitalisierung sind mit Andrees Zahl null und nichtig geworden.

Auf dem Datenhighway ins Gelobte Land?

Und was hatte man sich in den letzten 30 Jahren nicht alles vom Cyberboom erhofft. Gerade zu Beginn schienen die Segnungen kaum abreißen zu wollen. Die Welt, wie man sie gekannt hatte, schien auf dem Datenhighway unterwegs ins Gelobte Land zu sein – zu einem Ort, an dem es gerechter, freier und vor allem demokratischer zugehen würde. Im Internet mit seinen mittlerweile 47 Zettabyte Daten – einer Zahl mit immerhin 21 Nullen –, mit ungezählten Knoten und Verbindungslinien und mit unlängst 4,5 Milliarden Usern schien sich ein Wunder an Mitsprache und Teilhabe zu ereignen. Als hätte sich in den Kabeln und Leuchtdioden der kalten Servertürme so etwas wie der American Dream inkarniert.

Eric Schmidt, bis 2020 Executive Chairman beim Google-Mutterkonzern Alphabet, jubilierte wie ein Prediger im Gotteswahn, als er in den Zweitausenderjahren die Heilsversprechungen der vollends vernetzten Gesellschaft pries. Und sein Glaube, der wie ein Konglomerat aus New Age und linker Gegenkultur klang, war typisch für die Weltsicht der ungezählten Programmierer, Gründer und Studienabbrecher am Rande der San Francisco Bay. In Schmidts Glaubenssystem wies das Internet den Menschen nicht nur neue Wege in die Zukunft, es zwänge am Ende auch Unrechtsregime in die Knie, fördere weltweit einen Demokratisierungsschub und verschaffe dank aufstrebender Player wie Google und Facebook bessere Marktzugänge für jedermann. Nur ein Wisch über die glatten Oberflächen des digitalen Weltgeists, und die Realität schien wie von Zauberhand eine smartere, ja, eine bessere zu werden. Eine wahrlich große Verheißung, die da aus dem sonst so kargen Silicon Valley, einer Art Hinterhof der US-amerikanischen Eliteschmiede Stanford, in die Welt hinausgetragen wurde. Doch es kam anders.

Energiehungrige Rechenzentren

Luleå, eine schwedische Stadt kurz vor dem Polarkreis: Bei Temperaturen nahe dem Gefrierpunkt lagern hier die Daten der europäischen wie internationalen Facebook-Nutzer. Zwei weitere Rechenzentren hat der amerikanische Tech-Gigant aus Menlo Park, Kalifornien, mittlerweile in Europa errichtet, in den USA sind es zusätzlich zehn. Luleå aber, mit seinen drei gewaltigen Serverhallen viereinhalbmal so groß wie ein Fußballfeld, war 2013 der erste Facebook-Standort außerhalb der Vereinigten Staaten. 10.000 Server auf 28.000 Quadratmetern stehen hier noch immer militärisch aufgereiht in den stets runtergekühlten Hallen herum. Allwissende Götter in schwarzen Metallgehäusen, die, weltweit vernetzt mit anderen Serverparks, auf mittlerweile 2 Prozent des globalen Energieverbrauchs kommen. Damit zählt die Digitalwirtschaft zu der strom- und ressourcenintensivsten der Welt, weit vor der internationalen Luftfahrt. Und ihr Energiehunger steigt weiter an.

Doch für den einstigen Harvard-Absolventen Mark Zuckerberg, der Facebook im Januar 2004 mit dem Upload von 20.000 Fotos aus den Online-Adressverzeichnissen amerikanischer Studentenheime aus dem Boden stampfte, scheint noch immer keine Zahl zu gewaltig und keine Vision zu halsbrecherisch, um sie nicht irgendwann in Bits und Daten zu verwandeln. Weltweit konnte er so der Facebook-Dachmarke mit ihren drei Standbeinen Facebook, Whatsapp und Instagram im Jahr 2019 einen Jahresumsatz von 70,7 Milliarden Dollar bescheren.

Zum Vergleich: Das entspricht in etwa dem Bruttoinlandsprodukt von Burundi, Südsudan, Malawi, der Zentralafrikanischen Republik, Mosambik und Afghanistan zusammen. Und dieser Positivtrend reißt nicht ab. Obwohl die Nutzerzahlen bei Facebook seit einiger Zeit leicht rückläufig sind, konnte der Konzern seine Gewinne 2019 um 26,6 Prozent gegenüber 2018 steigern. Das Kapital des blauen Riesen aus Menlo Park: 2,5 Milliarden User, die sich längst über den gesamten Erdball vernetzt haben.

Zuckerberg hat 2,5 Milliarden Mitarbeiter

Mehr als ein Viertel der Menschheit also speist derzeit die Server und Datenfarmen einer gigantischen Cyberkrake. Oder anders formuliert: 2,5 Milliarden Menschen arbeiten im Auftrag eines einzigen Mannes. Minute für Minute produzieren sie Datenspuren, laden Fotos in ihre Newsfeeds, erarbeiten sich mühsam Likes und soziale Anerkennung. Und das alles für das eigene Ego – oder eben für Mark Zuckerberg, diesen 36-jährigen Silicon-Valley-Nerd aus White Plains, New York, der, obwohl noch aussehend wie ein College Boy, mit seinen Feeds, Like-Funktionen und Menüführungen das Antlitz des gesamten Online-Kosmos bestimmt. Denn es sind seine Algorithmen, die jeden Nutzer, egal wo er sich befindet, in Windeseile in seine ganz eigene Truman Show versetzen können.

Kritiker nennen das die „Filter Bubble“, einen mittels KI und Algorithmen erzeugten Fantasieort, an dem alles, was man zu sehen und zu hören bekommt, auf den eigenen Geschmack, die eigenen Bedürfnisse, die eigene Meinung zugeschnitten ist. Im Umkehrschluss heißt das aber auch: Niemand sieht das Internet so, wie ich es sehe. Und da nicht nur Facebook, sondern auch Google, Amazon und nahezu alle anderen kommerziellen Anbieter mit derlei Tricks am Werke sind, bekommt jeder bei gleicher Anfrage andere Ergebnisse, erhält jeder andere Nachrichten, andere Werbevorschläge, andere politische Einflüsterungen. Eine Tatsache, die für die Gesellschaft längst zur Zerreißprobe geworden ist.

KI bis ins Schlafzimmer

Um diese Gefahr weiß auch der Münchner Kommunikationswissenschaftler Benjamin Krämer. Doch Filterblasen seien für ihn nicht einmal das größte Problem im Netz, zumal sich ihre Wirkung wissenschaftlich nicht letztgültig nachweisen ließe. Krämer sieht eine viel größere Gefahr von den gigantischen Datenbergen ausgehen, die die Plattformen über uns gesammelt haben. Denn die KI interessiert sich für alles: Welche Rechner wir nutzen, wie viele Kinder wir haben, welche Musik uns interessiert, wie unsere Freunde heißen, ob wir depressiv, einsam oder sexuell hyperaktiv sind. Die KI geht bis ins Schlafzimmer. Und das macht sie so gefährlich – nicht nur für die Wirtschaft, sondern für uns alle: „Diese Monopole, bei denen wenige Konzerne weit mehr über uns wissen als jede staatliche Institution, ja sogar als wir selbst, können zu einer realen Gefahr für die Demokratie werden. Facebooks Infrastruktur etwa gleicht fast schon einem Staat im Staat.“ Hier bündelten sich unzählige Lebensprozesse: Zeitungen, Geschäfte, soziale Beziehungen. Jeder fast schon reflexartig vollzogene Klick, der dem User im Netz abverlangt wird, offenbart etwas von seiner privaten, persönlichen oder gar intimen Seite.

Und Leute wie Zuckerberg, Google-CEO Sundar Pichai, Amazon-Gründer Jeff Bezos sowie all die anderen Wonder Boys aus dem Valley schlagen daraus Kapital, nutzen es zum eigenen Vorteil. Es gäbe in gewisser Weise sogar schon eine eigene Gesetzgebung, sagt Kommunikationswissenschaftler Benjamin Krämer. Der Fall um die Abschaltung des Facebook-Accounts von Donald Trump im Januar dieses Jahres habe es bewiesen. Die Plattformen bedrohen längst die Politik. Und damit nicht genug: „Seit geraumer Zeit denkt man bei Facebook auch über die Einführung einer eigenen Währung nach.“ Laut Krämer bekäme das Unternehmen spätestens dann eine Art Eigenstaatlichkeit und träte in Konkurrenz zu staatlichen Akteuren. Waren wir also naiv, als wir glaubten, das Internet führe quasi wie von alleine zu einem gerechteren und freieren Leben?

Das Internet 24/7 in der Hosentasche

Stuttgart, ein barocker Prachtbau zwischen Innenstadt und dem Fernsehturm. Hier sitzt die Landesregierung, hier hat auch Michael Blume sein Büro. Blume ist Beauftragter gegen Antisemitismus. Er weiß, wohin die Macht von Social Media führen kann. Der Mann, der druckreif redet und gerne lacht, hat es im Gegensatz zu Krämer am eigenen Leib erfahren. Denn das Lachen verging Michael Blume, als er seinen Namen 2019 auf einer Todesliste auf einem rechtsextremen Blog wiederfand – neben dem Namen des kurz zuvor ermordeten hessischen Regierungspräsidenten Walter Lübcke. Blume hatte sich bis dahin souverän durch die digitale Welt bewegt – auch auf Facebook. Er hatte 5.000 sogenannte Freunde, mehrere Tausend Menschen hatten seine Kommentare abonniert. Doch dann machte er etwas, was zurzeit immer mehr Menschen machen: Er meldete sich von Facebook ab.

Blume sagt heute, er hätte drei bis vier Stunden pro Tag in dem Netzwerk verbracht. Dabei hatte er sich eigentlich nur angemeldet, um mit Freunden und Bekannten in Kontakt zu bleiben. Doch im Laufe der Zeit wurde der private Account auch immer mehr zum beruflichen. Am Ende, sagt der Vater von drei Kindern, habe ihm wohl eine Tür gefehlt, die er einfach mal hätte hinter sich schließen können. „Man hat das Internet buchstäblich in der Hosentasche und 24 Stunden am Tag bei sich.“

Als er 2018 sein Amt als Antisemitismusbeauftragter der Landesregierung antrat, nahmen die Nachrichten und Kommentare zu. Immer häufiger wurde er jetzt angefeindet und bedroht. „Man steht morgens auf und hat schon 20, 30 Hassnachrichten.“ Ein Piepton, und sein Puls ging hoch. Piep, piep, piep. „Der Hass ging jedes Mal direkt auf mein Smartphone.“

Hass als Geschäftsmodell

So etwas ist kein Einzelfall. Hass ist Teil des Geschäftsmodells von Facebook – das zumindest behauptet der bekannte Programmierer und Computerwissenschaftler Jaron Lanier in seinem Buch „Zehn Gründe, warum du deine Social Media Accounts sofort löschen musst“. „Boshaftigkeit hat sich als sprudelnde Geldquelle für die Social-Media-Konzerne und andere Verhaltensmanipulations-Imperien erwiesen, da sie negatives Verhaltensfeedback befeuert.“ Je lauter man schreit und je stärker man andere beleidigt, desto größer ist die Chance, dass sie darauf reagieren – so vielleicht kann man das Reiz-Reaktions-Schema beschreiben, das diesem Kalkül zugrunde liegt.

Der lachende Dritte ist die Werbewirtschaft. Sie profitiert von der Aufmerksamkeit. Je mehr Zeit die Nutzer auf den Plattformen verbringen, desto häufiger streift ihr Blick ihre Produkte. Jeder Klick könnte eine potenzielle Kaufentscheidung bedeuten. Es ist Werbung, die auf jeden User direkt zurechtgeschnitten ist. Wer auf Google Flugreisen nach Spanien oder Sneakers von Nike sucht, der findet die Produkte später auch in Werbefenstern auf Social Media. Facebook & Co. scannen Interessen, Konsumgewohnheiten, Aufenthaltsorte, Kontakte zu anderen und Reaktionen auf Ereignisse. Das macht den User nackt bis auf die Haut.

„Das größte Arschloch bekommt die meiste Aufmerksamkeit.“

Doch was Lanier besonders Sorgen bereitet, ist noch etwas anderes. Dabei geht es um die Verrohung der Umgangsformen: „Wenn es nichts anderes zu erreichen gibt als Aufmerksamkeit, tendieren Menschen dazu, zu Arschlöchern zu werden, weil das größte Arschloch die meiste Aufmerksamkeit bekommt.“ Als Beispiel nennt er Donald Trump, den Mann, der Twitter als Waffe genutzt hat, um seine Follower mit Lügen und Fake News zu bombardieren. Für Jaron Lanier ist der ehemalige US-Präsident jedoch nicht nur Täter, sondern auch Opfer. Opfer einer Sucht, die er nicht beherrschen konnte: „Er verhält sich nicht wie die mächtigste Person der Welt, denn seine Sucht ist mächtiger als er.“

Es ist eine Sucht, die wohl kalkuliert ist. Der Autor Nir Eyal beschreibt die Mechanismen in seinem Bestseller „Hooked! How to build habit-forming products“. Zielscheibe sei das Belohnungszentrum in unserem Gehirn. Es werde nicht nur stimuliert, wenn Menschen Kokain schnupfen, Sex haben oder einen High Score beim Glücksspiel erreichen. Es stoße das Glückshormon Dopamin auch aus, wenn sie bei Facebook einen gereckten Daumen oder ein Herz bei Twitter und Instagram bekämen. Das sei ein Effekt, der von Glücksspielen inspiriert wurde, sagt der ehemalige Google-Entwickler Tristan Harris. „Du weißt nicht, was als Nächstes kommt, manchmal ist es ein tolles Foto, manchmal nur eine Anzeige.“

Doch was immer es ist, am Ende kann der Abgrund lauern. Abhängigkeit, Depressionen, finanzieller Ruin. Je größer die Zahl der Follower, desto größer ist das Suchtpotenzial. Und der Weg zurück ist äußerst schwierig: „Das ist wie ein kalter Entzug“, sagt etwa Gordon Emons von der Caritas Berlin. Er berät Menschen, die süchtig nach Computerspielen, Netflix oder Social Media sind. Er sagt, 90 Prozent der Hilfesuchenden seien junge Männer auf der Kippe zwischen Studium, Ausbildung und Arbeitsleben. Viele seien komplett in ihre virtuelle Realität abgetaucht. Diesen Menschen wieder zurück ins reale Leben zu helfen, ist das Ziel von Emons Arbeit. Es ist nicht leicht, denn Glücksgefühle auf Knopfdruck seien schneller zu bekommen als echte Freunde. In vielen Fällen führe der Weg zurück nur über eine stationäre Therapie in einer Suchtklinik, sagt der Sozialarbeiter.

Die Auseinandersetzung hat gerade erst begonnen

Doch handelt so ein guter Gott oder ein auch nur halbwegs integrer Götze? Lohnt es sich wirklich, vor einer Technologie auf die Knie zu gehen, die Beziehungen zerstört, die globale Wirtschaft untergräbt und am Ende sogar die Demokratie gefährdet – jene freie und offene Gesellschaft, die sie doch eigentlich mit befördern wollte? Die aktuelle Debatte um die Abschaltung von Social-Media-Accounts oder um die Löschung von Youtube- oder Facebook-Inhalten zeigt: Die Auseinandersetzung um die großen Konzerne und um die Macht im Netz hat gerade erst begonnen.

Für Marie-Luise Wolff, die digitalisierungskritische Managerin aus dem südhessischen Darmstadt, geht es dabei längst um alles. Mit Verweis auf die längst real gewordene Smart-Diktatur im kommunistischen China meint sie, dass wir es uns im Westen zu einfach machten, wenn wir nun lediglich mit Überheblichkeit und Argwohn auf das dortige Sozialpunktesystem blickten, ohne den eigenen Überwachungskapitalismus mit ins Auge zu fassen: „Es fällt leicht, das chinesische System als totale digitale Diktatur zu bezeichnen. Aber wie weit sind Smartphone-Nutzer im Westen von so etwas wie einer digitalen Apparatediktatur noch entfernt?“, fragt die Unternehmerin mit Blick auf die Abermilliarden Infoschnipsel, die die globalen Tech-Riesen gegen unsere Freiheit und Selbstbestimmung in Stellung gebracht haben.

Facebook steht über dem Gesetz

Und die Politik steht ratlos daneben. Zwar versucht die Europäische Union derzeit mit dem sogenannten Data Governance Act und dem Digital Market Act den Tech-Riesen ins Getriebe zu greifen, und auch die Bundesregierung ist ernsthaft bemüht, Gesetze zur Regulierung der großen Plattformen zu erlassen. Doch wird das am Ende reichen, um die Monopolisten zu bändigen?

Eine aktuelle Debatte in Australien zeigt, wie aussichtslos der Kampf längst geworden ist: Während dort die Regierung um Premierminister Scott Morrison noch darüber nachdenkt, wie man die Kommunikationsriesen dazu bringt, einen Teil ihrer Gewinne mit Autoren und Verlagen zu teilen, haben Zuckerberg & Co. schon zum Gegenschlag ausgeholt: Falls das Gesetz durchkomme, so die Sprecher von Google und Facebook, müsse man die Dienste der Konzerne in Australien eben abschalten.

Es ist ein rachsüchtiger Gott, dem wir in den zurückliegenden Jahrzehnten zu huldigen gelernt haben. Ein Gott, der keine Götter neben sich duldet. Und der mit seinen süßen Versprechungen in Zukunft alles daransetzen wird, uns mehr und mehr zu unterwerfen.

Dieser Text stammt aus der März-Ausgabe des Cicero, die Sie am Kiosk oder direkt bei uns portofrei kaufen können.

 

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