Proteste - Heißer, kalter Herbst

Durch Deutschland laufen die Schockwellen des Ukrainekriegs. Rechts- und Linksaußen mobilisieren gegen die Ampel. Und immer mehr Menschen sorgen sich um ihren Wohlstand. Gerät das Land aus dem Takt?

Das Schild einer Demonstrantin auf der Demo der Linken in Leipzig Anfang September / Anja Lehmann
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Autoreninfo

Moritz Gathmann ist Chefreporter bei Cicero. Er studierte Russistik und Geschichte in Berlin und war viele Jahre Korrespondent in Russland.

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Riefe Jürgen Elsässer an diesem Montag Anfang September zum Sturm auf Berlin, würden sie ihm folgen, die gut 2000 Rechtsextremen, Wutbürger, Corona-Spaziergänger, Querdenker und Freien Sachsen? Der 65-Jährige, einst hart links, heute hart rechts mit seinem Compact-Magazin, tut es nicht an diesem Abend auf dem Leipziger Augustusplatz. Aber gemeinsam mit der rechtsextremen Speerspitze, darunter der rechte Ideologe Götz Kubitschek und Ex-AfD-Kader André Poggenburg, hetzt der gewiefte Rhetoriker seine Zuhörer gegen „die da oben“ auf, gegen die „Volksverräter in Berlin“, die ihren „verdammten Krieg gegen Russland“ führten. „Das Volk muss der Regierung einen heißen Herbst bereiten“, ruft er mit schwäbischem Akzent den johlenden Sachsen zu.

Vom „heißen Herbst“ ist die Rede, seit klar ist, welche Schockwellen der Ukrainekrieg in die deutsche Wirtschaft sendet: Lieferketten sind gestört, Rohstoffpreise steigen, Putins Drehen am Pipeline-Ventil lässt die Energiepreise explodieren. Außenministerin Annalena Baerbock spricht von drohenden „Volksaufständen“, falls Putin den Gas-Hahn komplett zudrehe. Und der oberste Thüringer Verfassungsschützer Stephan Kramer prophezeit eine „hoch emotionale und existenzielle Krisensituation“ mit Massenprotesten und Krawallen. Was Deutschland an Auseinandersetzungen während der Corona-Pandemie erlebt habe, sei dagegen „wahrscheinlich eher ein Kindergeburtstag“. Sind das leere Warnungen, oder droht uns tatsächlich ein gewalttätiger Protestwinter, in dem es Links- und Rechtsextremisten gelingt, um ihre Existenz fürchtende Bürger auf ihre Seite zu ziehen? 

Freie Sachsen und Die Linke

Der Rechtsextremist Elsässer skizziert in Leipzig seinen Traum von der Querfront, von einem breiten Bündnis ungeachtet ideologischer Trennungen: „Patrioten von Höcke über Sellner, die Querdenker, zum Dritten die Gewerkschaften, zum Vierten die aufgeweckten Linken wie Lafontaine und Wagenknecht, zum Fünften die alternativen Medien mit dem Flaggschiff Compact: Jeden dieser Finger allein kann man brechen, aber alle fünf Finger zusammen sind eine Faust“, ruft er auf dem historischen Platz, wo die Querfront an diesem Abend fast schon Wirklichkeit ist: Nur die Straßenbahnlinien in der Mitte trennen Elsässer und die Freien Sachsen von jenen, die die Linke nach Leipzig gerufen hat: An die 5000 Ost-Rentner, Antifa-Mitglieder, Anarchisten und Autonome haben sich dort versammelt. „Proletarier und Patrioten aller Länder, vereinigt euch!“, hören sie Elsässer rufen.

Gregor Gysi, mit 74 Jahren der Grandseigneur der Linken, weist die Avancen der Rechten von der Bühne klar zurück. Die Strategie der Linken: Sie will den Protest anführen, bevor ihn die Rechten – auch die AfD hat eigene Demos angekündigt – kapern, und mit einer Protestwelle wie 2004 gegen Hartz IV ihre politische Existenz retten. Denn bei der jüngsten Bundestagswahl wäre die Partei beinahe aus dem Bundestag verschwunden. 

Demonstration der Partei Die Linke in Aachen Mitte September

Doch während bei den Freien Sachsen russische Flaggen geschwenkt werden, tauchen sie auf der anderen Seite der Tram-Schienen auf T-Shirts auf. So wie der Schall auf dem Augustusplatz, so verschwimmen die Positionen. Vieles, was Gysi und seine Genossen fordern, würde auch drüben bei den Freien Sachsen beklatscht. „Die Regierung hat den Kontakt zur Bevölkerung verloren“, ruft die Fraktionsvorsitzende im Bundestag, Amira Mohamed Ali, und dass die Sanktionen Russland eben nicht schaden würden. 

Gasumlage bringt in Rage

Gysi poltert gegen Waffenlieferungen an die Ukraine, just in der Woche, in der die ukrainische Armee mit deutschen Panzerhaubitzen im Gebiet Charkiw Tausende Quadratkilometer ihres Landes zurückerobert. „Frieden in Europa kann es nur mit, nicht gegen Russland geben“, wiederholt er eine Stanze, als lebte die Welt noch immer in der Ära vor dem 24. Februar, und bedient gleich darauf den im Osten weitverbreiteten Antiamerikanismus: „Amerika hat ganz andere Interessen.“ Pflichtbewusst verurteilt Gysi den russischen Angriff, um gleich darauf unter Beifall zu verkünden: „Alles, was man in Bezug auf Russland und die Ukraine falsch machen kann, hat die Nato in den letzten zwei Jahrzehnten falsch gemacht.“ 

Die Positionen sind im Osten bis in die Mitte der Gesellschaft mehrheitsfähig. Eine Forsa-Umfrage aus dem September belegt die Unterschiede zwischen Ost und West: In den ostdeutschen Ländern sprachen sich 65 Prozent für ein Öffnen der Pipeline Nord Stream 2 aus, im Westen 35. Zwei Drittel der Westdeutschen fordern ein Beibehalten aller Sanktionen, im Osten sind es nur 42 Prozent. Ein Drittel könnte sich vorstellen, alle Sanktionen aufzuheben. 

Demonstrant auf der Kundgebung der
Linken auf dem Leipziger Augustusplatz im
September

Michael Schlegel, 60 Jahre alt und als Werksleiter von Linde + Wiemann unweit von Bautzen verantwortlich für 220 Mitarbeiter, gerät in Rage, wenn er  auf die Politik der Bundesregierung angesprochen wird: „Allein die Gasumlage: Bevor der kleine Bürger sie rettet, sollten die Energieunternehmen erst mal das zurückzahlen, was sie in den letzten 20 Jahren an Milliardengewinnen gemacht haben!“ Seine Wut hat auch mit den zwei 16 und 19 Meter langen Öfen in der Werkshalle zu tun, in die durch gelbe Rohre Gas fließt und ein 930 Grad heißes Höllenfeuer erzeugt: Roboter schieben Stahlrohre in die Öfen, dann werden sie mit 650 Bar aufgeblasen und in Form gepresst. Hier entstehen Säulen für alle großen Autofirmen, jene Teile, die der Karosserie Stabilität verleihen. Unternehmen wie dieses verleihen der deutschen Wirtschaft Stabilität. Das Geschäftsmodell funktionierte – bis zuletzt. 

Michael Kretschmer will die Welle reiten

„Wir haben den Hersteller gefragt, ob man unsere Öfen auch elektrisch betreiben könnte. Das geht, aber wenn wir mit 3000 Kilowatt ans Netz gehen, bricht das zusammen“, erklärt Schlegel. „Wir müssen einfach anerkennen, dass wir hier am Gas hängen.“ Bisher haben sich Gas- und Strompreise für das Unternehmen verdoppelt, aber auch Stahl ist schon jetzt doppelt so teuer wie Anfang des Jahres. Der Worst Case sei, für den Fall, dass wirklich kein Gas mehr komme, „dass ich im Januar die Arbeiter nach Hause schicken muss – und der Steuerzahler wird das bezahlen“, sagt Schlegel. In seiner Belegschaft hat er einige Leute, die sagen, die AfD würde es besser machen. „Aber die könnten’s auch nicht besser“, sagt er. „Die wollen das Thema nur für sich ausschlachten. Das ist nicht zielführend.“

Die Stimmung spürt auch Michael Kretschmer (CDU), seit 2017 sächsischer Ministerpräsident, seit drei Jahren in einer Koalition mit SPD und Grünen. Und hat sich entschieden, wie schon früher in seiner politischen Karriere, die Welle eher zu reiten, als sich ihr entgegenzustellen.

Der 47-Jährige spielt die Karte „Sanktionen oder Arbeitsplätze“, anstatt zu vermitteln, dass beides erreichbar ist, wenn man es richtig anstellt. „Ich bin sehr beschimpft worden, das waren keine leichten Wochen“, sagt er an einem Mittwochabend in der Aula des Werner-Heisenberg-Gymnasiums in Riesa, auf halbem Weg zwischen Leipzig und Dresden: „Wenn jemand sagt, dass wir den Krieg anhalten müssen, ist er gleich ein Verräter.“ Kretschmer vertritt als einziger Ministerpräsident – und als einziger CDU-Politiker – eine Position, die weitgehend kompatibel mit der von AfD und Linken ist. „Wir schauen in einen riesigen Abgrund“, sagt er über die Folgen der explodierenden Energiepreise. Zahlten Industrie und Verbraucher in Sachsen vor der Krise 2,5 Milliarden Euro für Strom und Gas, wären das bei den aktuellen Preisen 35 Milliarden Euro im Jahr. Einziger Ausweg: Verhandlungen mit Russland über ein Einfrieren des Krieges anstatt von Waffenlieferungen. 

Haseloff und Ramelow machen nicht mit

„Wir müssen beim Gas darauf schauen, dass der Krieg sich beendet“, heißt die Kurzformel, für die Kretschmer vom älteren Publikum großen Beifall erntet. Er beteuert, man falle der Ukraine auf diese Weise nicht in den Rücken. Ein Bürger bedankt sich unter Applaus: Kretschmer sei einer der wenigen Politiker, der Tacheles rede und gegen den „grünen Mainstream“ ankämpfe. Es dauert knapp zwei Stunden, bis der Elftklässler Niklas Kutschke aufsteht und Kretschmer widerspricht. Das Einfrieren des Konflikts sei der falsche Weg: „Russland wird nicht aufhören zu kämpfen, bevor die Ukraine nicht wieder in seiner Einflusssphäre liegt.“ Seine Klassenkameraden applaudieren.

Kretschmer ist nicht der einzige ostdeutsche Landeschef, der mit derartigen Stimmungslagen zu kämpfen hat: Die Angst vor den Folgen eines russischen Gasstopps und eines Ölembargos ist hier größer, weil man stärker von russischer Energie abhängt. Es reicht ein Blick auf die für den Osten lebenswichtige PCK-Raffinerie im brandenburgischen Schwedt, die bislang nicht nur zu 100 Prozent mit russischem Öl beliefert wird, sondern auch noch Rosneft gehört. Aber nicht nur von Reiner Haseloff, Landeschef von Sachsen-Anhalt und CDU-Parteikollege von Kretschmer, hört man keine Forderungen nach einer Öffnung von Nord Stream 2 oder einem „Einfrieren“ des Konflikts, auch Thüringens Bodo Ramelow von der Linken zeigt klare Kante. 

Jürgen Elsässer auf der Kundgebung der Freien Sachsen in Leipzig Anfang September

In Brandenburg an der Havel, im Speckgürtel von Berlin, erlebt man im September das Gegenprogramm zu Kretschmer. Dietmar Woidke, seit 2013 Ministerpräsident von Brandenburg, sucht kaum die große Bühne, man sieht ihn selten in Talkshows. Stattdessen betritt der 60-Jährige, der seit 2019 einer Kenia-Koalition aus SPD, CDU und Grünen vorsteht, an einem Dienstag Anfang September das St. Paulikloster, begleitet von der Hälfte seiner Minister, um mit etwa 50 Bürgern das Gespräch zu suchen. 

Woidke plädiert für die Erneuerbaren

Woidke, groß gewachsen, Typ Ordnungsamtsleiter, steigt mit einem ausführlichen Vortrag über die Lage auf dem Energiemarkt ein, spricht von den Ängsten der Menschen vor Rechnungen, Arbeitsplatz- und Wohlstandsverlust. Das Wichtigste sei es nun, bei Gas, Öl und Strom die Menge zu erhöhen. „Wir brauchen die Mengen. Wir müssen die Preise runterbekommen.“ Brandenburg leistet seinen Beitrag: Ab 1. Oktober laufen zwei Blöcke des Braunkohlekraftwerks Jänschwalde wieder, zweimal 500 Megawatt. 

Die Maßnahmen der Bundesregierung zeigen derweil erste Wirkung: Seit Oktober 2021 stieg der Gaspreis beständig: Für Neukunden sind im September 2021 um die 6 Cent pro Kilowattstunde fällig, ein Jahr später sind es um die 36. Seit Anfang September sinkt der Preis aber wieder. Treten die schlimmsten Prognosen möglicherweise doch nicht ein,  beruhigt sich der Markt angesichts voller Gasspeicher und Erfolgen bei der Umstellung auf andere Energieträger? 

Woidke spart gleichzeitig nicht mit Kritik an der Bundesregierung, obwohl die ihm näher nicht sein könnte: Vor ihm sitzt mit Bildungsministerin Britta Ernst die Ehefrau von Bundeskanzler Scholz. Das „Gießkannenprinzip“ bei den Energiehilfen, die Entscheidung, die AKWs nicht weiterlaufen zu lassen, all das müsse überdacht werden. Bei aller Kritik sät er aber keine Zweifel an der Sanktionspolitik: Es gehe darum, unabhängiger vom Ausland zu werden, denn das bedeute „weniger Erpressbarkeit“. Woidke verbindet damit ein Plädoyer für mehr Erneuerbare, das auch unter seinen Brandenburgern Gehör findet, alles andere als traditionelle Grünen-Wähler: Die Region hat aber schwer gelitten unter diesem Rekordsommer, Waldbrände inklusive. Woidkes Botschaft für die PCK-Raffinerie in Schwedt ist denn auch: „Jetzt ist der Zeitpunkt für die Transformation.“ Dort könne in Zukunft synthetisches, klimaneutrales Kerosin hergestellt werden.

Michael Schlegel, Werkleiter von Linde + Wiemann, am Standort Elstra  in Sachsen

Das europäische Ölembargo gegen Russland soll phasenweise kommen – und der Ersatz mit Öl aus anderen Ländern scheint technisch machbar. Große Sorgen macht den Bürgern aber die Frage, wie man – trotz voller Speicher – ohne russische Gaslieferungen über den Winter kommt. Laut „Deutschlandtrend“ gingen im September 83 Prozent der Deutschen davon aus, dass wegen hoher Gas- und Strompreise Arbeitsplätze verloren gehen, 39 Prozent glauben, dass sie ihre Energierechnung nicht oder nur schwer zahlen können. Die Sorgen gibt es, zusammen mit Nachrichten über die ersten Firmenpleiten, gleichermaßen in Ost und West.

Enttäuscht von Robert Habeck

Ganz im Westen Deutschlands, wo keine russischen Gas- und Ölrohre ankommen, ist die Lage dennoch ruhiger. Hier, zwischen Aachen und Köln, gibt es kaum Querfrontler, die vom Systemsturz träumen. Und doch machen sich die Menschen Sorgen. Wilhelm Schauff etwa, Geschäftsleiter des Mittelständlers FreChem, der Polyurethan-Systeme zum Verkleben und Verdichten herstellt – für Europa und die ganze Welt. Die Auftragsbücher sind voll, die gut 20 Mitarbeiter haben viel zu tun. Gewinne gibt es aber schon seit zwei Jahren nicht mehr: Zuerst brachte Corona die Lieferketten durcheinander, jetzt kommt die Energiekrise. Der drahtige 55-Jährige hat durchgerechnet, welche Energiekosten im nächsten Jahr auf ihn zukommen: Es werden wohl 200.000 Euro sein, doppelt so viel wie 2022. Hinzu kommen explodierende Preise bei den Komponenten: Ruße etwa, die aus Russland kamen,  kosten heute das Zwei- bis Vierfache, Silane aus China sind jetzt doppelt so teuer, Polyole und Isocyanate: 50 bis 75 Prozent Preiszuwachs. „Das kriegst du nicht mehr gepuffert“, sagt Schauff. Er wird einen Energieaufschlag auf die Produkte draufschlagen müssen – den Geschäftspartnern aber aufschlüsseln, wie der zustande kommt, „damit der Kunde nicht auf den Gedanken kommt, wir wollten uns bereichern“.

Die Politik der Bundesregierung sieht Schauff kritisch. Wie Woidke in Brandenburg sagt auch er: „Die 300 Euro brauche ich persönlich doch nicht.“ Der Staat solle lieber den Arbeitern stärker bei den Energiekosten helfen, das würde auch die Unternehmer entlasten. Denn Forderungen nach höheren Löhnen kann er angesichts der wirtschaftlichen Lage heute nicht nachkommen. Zumal diese die Inflationsspirale weiter antreiben würden. 

Mitarbeiter des Chemie-Unternehmens
FreChem in der Nähe von Köln

Enttäuscht ist Schauff von Wirtschaftsminister Robert Habeck, den er früher erfrischend fand: Seine Aussage, Firmen könnten angesichts der Energiepreise aufhören zu produzieren, ohne insolvent zu werden, lässt Unternehmer und Handwerker landesweit ratlos zurück. So auch Schauff: „Die letzten Wochen haben gezeigt, dass ihm die Qualifikation fehlt. Wenn wir hier für drei Monate zumachen, dann versorgen sich unsere Kunden beim Mitbewerber – und kommen nicht wieder!“ 

Sorgen um die Energierechnung

Panik bricht bei FreChem und den Branchenkollegen dennoch nicht aus, aber Unruhe, sagt Schauff: „Es ist dieses Gefühl der Ohnmacht. Man macht morgens die Nachrichten an und fragt sich: Kommen wir durch die Woche?“ Einem Mitarbeiter, der sogar noch einen Nebenjob hat, musste er einen Gehaltsvorschuss geben, weil der kurzfristig eine Abschlagszahlung an seinen Energieversorger für mehrere Monate leisten musste. 

Leute wie diesen Mitarbeiter treibt es auch hier im westlichsten Westen der Republik auf die Straße: Sascha Böker zieht mit seiner Frau Beate an einem warmen Montagabend in einem Demonstrationszug durch die Innenstadt von Aachen. „Ich hab vom Energieversorger meine Abschlagsrechnung für Gas bekommen. Und dann hab ich geschaut: Wann ist die nächste Demo“, sagt der 37-Jährige, die zweijährige Tochter auf der Schulter. Statt 7 Cent pro Kilowattstunde sollte er 24 zahlen. Er wechselte den Energieversorger, der 12 Cent bietet – aber ist das das Ende der Fahnenstange? Böker zahlte in seinem Haus bislang für Gas 140 Euro monatlich, in diesem Winter wird es wohl das doppelte. Die 300 Euro seien da zu wenig, sagt er. 

Auf dem Poloshirt trägt er den Namen seines Arbeitgebers: „Kuttig Electronic“ ist ein florierender 60-Mann-Platinenhersteller in Aachen. Aber das Energiethema bereitet auch hier Sorgen. „Wir haben schon länger Solarzellen auf dem Dach, jetzt wird noch schnell eine Pelletheizung eingebaut. Aber das reicht hinten und vorne nicht. Die Fertigung schluckt viel Strom“, erzählt Böker. Sorgen um den Arbeitsplatz macht sich in der Belegschaft aber kaum jemand – dafür aber um die Energierechnung.

Die Linke versucht es auch im Westen

Von einem heißen Herbst mit Krawallen und Aufständen ist Aachen jedoch weit entfernt. „Genug ist genug heißt die Devise, wir zahlen nicht für eure Krise“, versucht die ehemalige Landtagskandidatin Sunaja Baltic es vor dem Elisenbrunnen unweit des Domes mit einem Sprechchor, aber die etwa 100 Zuhörer zeigen wenig Bereitschaft, in den Chor einzustimmen. Linke Splittergruppen aller Couleur sind dem Aufruf von Andrej Hunko gefolgt, der für die Linke im Bundestag sitzt. Der Plan, hier die Protestwelle von 2004 wiederzubeleben, muss erst noch mit Inhalt gefüllt werden. Bei der letzten NRW-Wahl verschwand die Linke mit gut 2 Prozent praktisch in der Bedeutungslosigkeit. 

Baltic bläst zum Angriff. „Jede andere Regierung handelt besser als unsere“, schimpft sie über die Ampel. „Ihr habt uns ein Jahr in den Ruin regiert.“ Hunko redet ebenfalls den Niedergang herbei: Die „soziale und wirtschaftliche Katastrophe“, die uns bevorstehe, könne man gar nicht übertreiben. Immerhin stellt er klar, dass er den russischen Angriffskrieg verurteile. Aber auch Hunko fordert im Wagenknecht-Duktus ein Ende des „Wirtschaftskriegs“ gegen Russland: Später, nicht mehr am Mikrofon, spricht auch er sich für die Öffnung der Pipeline Nord Stream 2 aus.

Hunko wirkt am Ende des Abends etwas enttäuscht. Immerhin, ein Anfang ist gemacht: Die Linke versucht, die Protestbewegung anzuführen, bevor andere es tun: Vor zwei Wochen hatte Hunko noch bei einer „Anti-Kriegsdemo“ im Aachener Querdenker-Umfeld gesprochen.

Die Lust am Systemzusammenbruch

Was dem Westen fehlt – oder was dort kaum zu Tage tritt –, ist ein Milieu, das sich über Flüchtlingskrise, Corona und den Ukrainekrieg von den Mainstream-Medien und -Parteien verabschiedet hat, dessen Angehörige geradezu eine Lust darauf verspüren, das System zusammenbrechen zu sehen. Dieses Milieu ist in Sachsen allgegenwärtig – und besonders stark von rechtsaußen instrumentalisiert. Und es bringt in Kleinstädten über 5000 Menschen auf die Straße, so geschehen im September in Plauen im sächsischen Vogtland.

Zu beobachten ist das auch im Umfeld der Stadt Bautzen, wo sich seit einem Jahrzehnt rund um den Bauunternehmer Jörg Drews eine Szene etabliert hat, in der Verschwörungstheorien aller Couleur verbreitet werden: Es ist der Kosmos von Elsässers Compact-Magazin und des Kopp-Verlags, in dem Flüchtlingskrise, Corona und der Ukrainekrieg am Ende immer eine Verschwörung der „globalen Eliten“ sind.

Demonstration der Partei Die Linke in Aachen Mitte September

Im Städtchen Neukirch, eine halbe Stunde außerhalb von Bautzen, hat sich die Szene Anfang September im Saal Zur Deutschen Eiche versammelt, vor allem Rentner aus der Umgebung, aber auch eine Gruppe Rechtsextremer, einer von ihnen mit dem SA-Spruch „Alles für Deutschland“ auf dem Hemd. „Es geht nicht um Corona, um Energiepolitik oder Krieg. Es steht alles in Zusammenhang – man muss die wichtigen Finanzkräfte verfolgen“, stimmt eine Rednerin das Publikum ein. „Es wird ein heißer Herbst auf uns zukommen. Wir wollen, dass es friedlich bleibt. Aber wir suchen den Weg in eine neue Welt.“

Aufgeheizte Stimmung in Bautzen

Das Spektrum ist breit: Der Autor Michael Wolski behauptet, die Wende sei ein Werk der Freimaurer-Urlogen gewesen, Wolfgang Effenberger sieht die Schuld für den Ukrainekrieg bei den USA: Putin hätte sich im „Würgegriff“ befunden. Und der Unternehmer Drews erinnert an 1923, die Hyperinflation, die zu innenpolitischen Unruhen geführt hatte, und schließt süffisant: „Die Geschichte wiederholt sich.“ Ein Zuschauer will wissen: Wer ist die Krake, wo das Zentrum des Bösen? Wolski antwortet: „Jesuiten und Freimaurer, aber wem dienen sie? Da muss man eine Etage höher gehen: Die das Geld verwalten, und das seit 3000 Jahren.“ Niemand steht auf, um gegen diese Art kaum noch verpackten Antisemitismus zu protestieren. Stattdessen zerbricht man sich vergeblich den Kopf darüber, ob Putin nun „Teil des Systems“ ist oder nicht.

Karsten Vogt, Bürgermeister von Bautzen, ist nicht zu beneiden: Unlängst ins Amt gewählt, muss der CDU-Politiker in dieser Gemengelage seine Stadtgesellschaft zusammenhalten. Gerade kommt der Bauunternehmer Drews aus seinem Büro; der sitzt im Bautzner Stadtrat, zusammen mit fünf Mitgliedern seines „Bürgerbündnisses“. „Wir brauchen hier in der Stadt Kompromisse, einen Konsens. Anders geht’s ja nicht.“ 

Vogt kennt aus seinen 1200 Einzelgesprächen im Wahlkampf all jene Menschen, denen dringend geholfen werden muss, für die eine Einmalzahlung von 300 Euro zu wenig ist. Vor dem Fenster seines Büros im Rathaus wehen aber weiter zwei ukrainische Flaggen: Vogt sät keine Zweifel daran, dass die Sanktionspolitik gegen Russland angesichts des Ukraine­kriegs Sinn macht.
Fürchtet er in seiner Stadt eine Eskalation der Proteste? Vogt sagt: „Wenn die gestiegenen Energiekosten existenzbedrohend für die Menschen werden, dann werden viel mehr Menschen Protest ausüben. Das ist vorhersehbar.“

Die Bilder dieses Textes stammen von Anja Lehmann.

Dieser Text stammt aus der Oktober-Ausgabe des Cicero, die Sie jetzt am Kiosk oder direkt bei uns kaufen können.

 

 

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