Pandemiebekämpfung - „Es gibt nicht die eine Strategie“

In einigen Ländern scheint die Pandemie unter Kontrolle zu sein, in anderen Ländern aber ist das Ausmaß der Infektionen nicht mehr in den Griff zu bekommen. Der Schweizer Epidemiologe Christian Althaus über länderspezifische Faktoren, die bei der Pandemiebekämpfung zu berücksichtigen sind.

Menschen in Indien stehen Schlange für eine Corona-Impfung / dpa
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Autoreninfo

Sina Schiffer studiert an der Rheinischen Friedrich-Wilhelms-Universität in Bonn Politik und Gesellschaft und English Studies. Derzeit hospitiert sie bei Cicero. 

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PD Dr. Christian Althaus ist Epidemiologe an der Universität Bern. 

Herr Althaus, die Expertise der Epidemiologen ist während der Pandemie fast wie zu einem Gesetz geworden. Haben sie zu viel Macht bekommen? 

Das sehe ich nicht so. Mir scheint eher, dass es von Seiten der Bevölkerung – aber auch der Politik – ein sehr großes Interesse an der Wissenschaft und an der Epidemiologie gibt. Das ist sicher positiv. Politiker können frei entscheiden, sollten jedoch im Idealfall begründen, warum sie sich dann und wann auch entgegen wissenschaftlichen Empfehlungen entscheiden. 

Was hat die Schweiz in der Pandemiebekämpfung richtig gemacht? 

Die Schweiz hat zu Beginn der Pandemie relativ schnell gehandelt und konnte mit einem verhältnismäßig milden Shutdown die Zahl der Neuninfektionen bis im Juni im letzten Jahr auf ein sehr tiefes Niveau drücken. Während des Sommers hat man jedoch entgegen den Empfehlungen der unabhängigen wissenschaftlichen Task Force die Maßnahmen sehr schnell und weitreichend gelockert. Das hat dazu geführt, dass die Zahl der täglich bestätigten Fälle bis zum Herbst bereits wieder auf ein beträchtliches Niveau gestiegen ist. 

Und dann? 

Ausgerechnet auf den Oktober erlaubte man in der Schweiz wieder Großveranstaltungen. Obwohl man ganz genau wusste, dass sich virale Atemwegserkrankungen wie das Coronavirus in der kälteren Jahreszeit besser ausbreiten können. Dieser Entscheid hat mitunter dazu geführt, dass die Zahl der Neuinfektionen im Oktober sehr rasch angestiegen ist und die Schweiz im Vergleich zu ihren Nachbarländern die höchste Übersterblichkeit hatte.

Der Bundesrat hat in dieser Zeit sehr lange gezögert, bis wieder vernünftige Obergrenzen für Versammlungen und Veranstaltungen eingeführt wurden. Seit Beginn dieses Jahres wurde in meinen Augen jedoch sehr umsichtig gehandelt, sodass die Schweiz mit relativ milden Maßnahmen gut durch den Rest des Winters gekommen ist.<p>%paywall%</p>

Christian Althaus / Mirjam Herrmann

In Deutschland greift seit einem Monat die „Corona-Notbremse“ – andere Länder hingegen fahren schon seit Monaten das öffentliche Leben wieder hoch, so auch die Schweiz. Was ist die richtige Strategie?

Es gibt nicht die eine Strategie, denn die Pandemiebekämpfung muss auf die Gegebenheiten in den einzelnen Ländern ausgerichtet sein. Die Schweiz hat gegenüber Deutschland, vermutlich aufgrund der Kleinräumigkeit, einige Vorteile. Wir haben hier keine Millionenstädte und insgesamt vielleicht etwas weniger enge Arbeits- und Wohnverhältnisse. Man muss sich bewusst sein, dass diese Pandemie stark sozioökonomisch getrieben ist. Dieser Faktor wurde meiner Ansicht nach in den meisten Ländern zu wenig beachtet.

Was meinen Sie damit? 

In Deutschland hat man sich sehr stark auf die Inzidenz fokussiert, was an sich klug ist. Aber dabei hat man vielleicht etwas aus den Augen verloren, wo genau die Infektionen auftreten und wie man an diesen Orten spezifischer vorgehen könnte. Man muss jedoch festhalten, dass Deutschland das einzige bevölkerungsreiche Land in Europa ist, welches während dieser Pandemie nur eine sehr niedrige Übersterblichkeit aufweist. Und dies mit ähnlich strengen Maßnahmen wie in anderen bevölkerungsreichen Ländern. Einige Dinge haben also offenbar auch funktioniert, wenn auch zu einem hohen Preis.

Sollten sich andere Länder Deutschland dann nicht als Vorbild nehmen?

Wie erwähnt muss man bei solchen Ländervergleichen vorsichtig sein, aber man sollte sich schon anschauen, welche Faktoren die unterschiedlichen Erfolge erklären können. 

Von welchen Ländern kann man lernen?

Es gibt eine Reihe von Ländern, die die Pandemie sehr gut unter Kontrolle haben, wie zum Beispiel Taiwan, Singapur oder Australien. Diese Länder gehen sehr gezielt gegen das Virus vor, weisen aber natürlich auch geografische Vorteile auf. In Europa sind Dänemark, Norwegen und Finnland sehr erfolgreich – sie haben ebenfalls die guten Voraussetzungen genutzt, immer frühzeitig und konsequent agiert, und weisen deshalb während der Pandemie keine Übersterblichkeit auf. Ohne die Versäumnisse im letzten Oktober könnte sich vielleicht auch die Schweiz zu diesen Ländern zählen.

Eines der weltweit am schlimmsten betroffenen Länder ist Indien. Wie kam es dazu?

Indien hat eine Bevölkerung von knapp 1,4 Milliarden Menschen, weshalb es natürlich zu einer großen Anzahl an Todesfällen kommen kann. Gewisse Regionen in Indien sind jetzt aber in der Tat sehr schwer betroffen. Wie übrigens auch Länder wie Polen und Tschechien, welche über das letzte halbe Jahr eine sehr hohe Übersterblichkeit aufweisen. Das genaue Ausmaß der Übersterblichkeit in Indien ist vorläufig noch schwierig abzuschätzen.

Gibt es noch weitere Gründe? 

Der rasche Anstieg der Neuinfektionen in Indien könnte mit dem Auftreten einer neuen Variante – B.1.617 – zusammenhängen. Diese Variante weist vermutlich eine erhöhte Übertragbarkeit auf und entweicht vielleicht auch der bisher aufgebauten Immunität in der indischen Bevölkerung. Deshalb wurde sie als besorgniserregende Variante eingestuft. Gleichzeitig zum Auftreten dieser Variante kam es in Indien auch zu einer Lockerung der Maßnahmen und einer Zunahme an Mobilität, was die rasche Ausbreitung wohl noch weiter begünstigt hat.

Was heißt das für die weltweite Pandemiebekämpfung? 

B.1.617 zirkuliert bereits in England, Deutschland und der Schweiz. Wenn sie also gegenüber den anderen Varianten einen Übertragungsvorteil besitzt, dann wird sie sich auch hier durchsetzen. In Deutschland oder der Schweiz wäre dies vermutlich erst im Juli der Fall. Und bis dahin sollte ein großer Anteil der Bevölkerung bereits geimpft sein. Von daher bin ich zuversichtlich, dass wir auch diese Variante gut im Griff haben werden.

Es zeigt sich jedoch, dass man immer wieder gegenüber dem Auftreten neuer Mutationen gewappnet sein muss. Deshalb braucht es die genomische Überwachung, um solche Varianten frühzeitig zu erkennen. Wenn die Zahl der Infektionen niedrig ist, erhält man damit einen sehr guten Überblick und kann – falls nötig – viel schneller und gezielter reagieren. 

Bleiben die Impfstoffe gegenüber neuen Varianten wirksam?

Einige der neuen Varianten scheinen der durch Impfstoffe aufgebauten Immunantwort teilweise zu entweichen. Die Impfstoffe weisen also eine etwas verringerte Wirksamkeit auf. Trotzdem gehe ich davon aus, dass man mit einer hohen Durchimpfung auch neue Varianten unter Kontrolle halten kann. Man arbeitet auch bereits an sogenannten Booster-Impfungen, welche spezifisch auf neue Varianten angepasst werden können. Vielleicht benötigen wir in Zukunft also alle 1-2 Jahre eine Impfauffrischung – ähnlich wie dies bei Influenza praktiziert wird, damit wir auch gegen neue Varianten des Coronavirus bestens geschützt sein werden. 

Die Fragen stellte Sina Schiffer

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