Ostbeauftragter Wanderwitz - Anhaltende Wählerbeschimpfung

Für den Ostbeauftragten der Bundesregierung, Marco Wanderwitz, sind viele Ostdeutsche für die Demokratie verlorene AfD-Wähler. Doch vielleicht hat der Erfolg der AfD auch mit Fehlern der etablierten Politik zu tun. Das ist die eigentliche Frage, der nachgegangen werden sollte.

Ein Mann mit AfD-Fahne in Bautzen kommt mit Gegendemonstranten ins Gespräch Foto: Daniel Schäfer/dpa
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Autoreninfo

Mathias Brodkorb ist Cicero-Autor und war Kultus- und Finanzminister des Landes Mecklenburg-Vorpommern. Er gehört der SPD an.

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Als Claus Peymann am 8. Juni 1966 in Frankfurt am Main das Stück eines 23-jährigen Jurastudenten zur Ur-Aufführung brachte, löste es Tumulte aus. Die Rede ist vom heutigen Literaturnobelpreisträger Peter Handke und seiner legendären „Publikumsbeschimpfung“. Handke legte das Werk als reines Sprechstück an und zielte auf zweierlei ab, erstens auf die Überwindung des epischen Theaters, wie es Bertolt Brecht vertrat, und zweitens auf die Kritik des Beschweigens der deutschen Mittäterschaft im Fall Auschwitz.

Der Mechanismus, um beides zu erreichen, bestand darin, nicht irgendeine Handlung, sondern das Publikum selbst und dessen Erwartungen an das Funktionieren von Theater als eine Art Metapher der Selbstreflexion zum Gegenstand des Sprechstücks zu machen. Es endete in einer eruptiven, minutenlangen Publikumsbeschimpfung. Teile des Publikums stürmten während der Ur-Aufführung aus Protest die Bühne.

Kapitulation eines Demokraten

Man könnte meinen, die real existierende Politik dieser Tage hätte von Handke abgekupfert. Am 7. Juli 2021 nämlich stellte die Bundesregierung der Öffentlichkeit ihren alljährlichen Bericht zum Stand der deutschen Einheit vor. Verantwortlich dafür war der Ostbeauftragte der Bundesregierung, Marco Wanderwitz (CDU). Er ist zwar bereits seit Februar 2020 im Amt, wurde der deutschen Öffentlichkeit allerdings erst vor wenigen Wochen näher bekannt. Mit einer Wählerbeschimpfung.

Ein Teil der Ostdeutschen sei aufgrund diktaturbedingter Sozialisationsdefizite für die Demokratie verloren, ließ Wanderwitz die Öffentlichkeit wissen. So jedenfalls erklärt der gebürtige Sachse die anhaltend hohen Wahlergebnisse der AfD im Osten. Auf Nachfrage von Cicero bekennt Wanderwitz, dass das der „Kapitulation“ eines Demokraten gleichkomme. Aber er habe in den vergangenen Jahren „viele Menschen getroffen, mit denen einfach nicht mehr zu reden ist, egal, welche Argumente man vorträgt“.

Sturm der Entrüstung

Allerdings zeigt ein nüchterner Blick auf die Realität, dass an der Weltsicht des Staatssekretärs etwas nicht ganz stimmen kann. Bei der Landtagswahl in Sachsen-Anhalt, bei der die AfD rund 21 Prozent der Stimmen holte, lag sie ausgerechnet bei den unter 30-Jährigen sowie 30-44-Jährigen auf Platz eins. Mit zunehmendem Alter und damit intensiverer diktaturbedingter Sozialisation hingegen verliert sich die elektorale Vormachtstellung der AfD.

Der Sturm der Entrüstung auf Wanderwitz‘ Einlassungen ließ wie im Falle Handkes nicht lange auf sich warten. Selbst seine Chefin, Bundeskanzlerin Merkel, sah sich genötigt, den Ostbeauftragten öffentlich darüber zu belehren, dass man in einer Demokratie Menschen nicht abzuschreiben habe, und versuchte so, den politischen Schaden mitten im Wahljahr zu begrenzen. Seitdem war es wieder ruhig geworden um Wanderwitz, aber nur bis zur Vorstellung des Berichts über den Stand der deutschen Einheit.

Regierungseigene Werbeagentur

In Wahrheit hat der Ostbeauftragte nicht allzu viel zu sagen und auch nicht allzu viel Macht. Seine Organisationseinheit erfüllt eher den Zweck einer regierungseigenen Werbeagentur, die sich um nörgelnde Ossis kümmern soll. Es geht vor allem darum, die Frustrierten symbolisch abzuholen und ihnen ein ums andere Mal zu erklären, warum die Einheit entgegen ihrer eigenen Wahrnehmung als ziemlich gelungen gelten darf. Auf der Pressekonferenz las Wanderwitz die guten Botschaften der Bundesregierung denn auch unfallfrei vom Blatt ab. Erst Nachfragen von Journalisten lockten ihn erneut aus der Reserve.

So fragte Anja Reich von der Berliner Zeitung den Staatssekretär, ob er die „Wut der Ostdeutschen“ durch seine Äußerungen nicht noch vergrößere. Die Nachfrage ließ Wanderwitz an sich abprallen. Für rechtsradikales Wahlverhalten könne es doch nicht auch noch eine „besonders liebevolle Wähleransprache“ als Belohnung geben! Er sei eben bekannt dafür, die Dinge nicht schönzureden. Und das klang dann so: „Wenn ich eine rechtsradikale Partei wähle, dann ist doch was nicht in Ordnung mit mir.“ Das alles sei ein Problem, das an die „Grundfesten der Demokratie“ heranreiche.

Hirte hält nichts von der These

Zu den steilen Thesen seines Nachfolgers will sich der Landesvorsitzende der Thüringen-CDU, Christian Hirte, nicht äußern. Das sei für ihn allein schon eine „Stilfrage“. Hirte musste im Jahr 2020 auf Wunsch Merkels das Amt aufgeben, nachdem er Thomas Kemmerich (FDP) öffentlich zur Wahl zum Ministerpräsidenten Thüringens gratuliert hatte. Von der These allerdings, die AfD sei vor allem oder gar allein ein Ostproblem, hält Hirte nichts. Im Gespräch erinnert er daran, dass die Partei im Westen Deutschlands gegründet wurde, dort bei Landtagswahlen auch schon Wahlergebnisse von bis zu 15 Prozent erreicht habe und zentrale Akteure, auch und gerade im Osten, aus dem Westen stammten.

Für Zweifel an seiner These über den Geisteszustand aller AfD-Wähler sieht Wanderwitz auch Tage nach der Pressekonferenz keinerlei Veranlassung. Er stehe weiterhin zu seinem Urteil. Die AfD-Wählerschaft bestünde nämlich aus zwei Gruppen, „erstens aus Rechtsradikalen und zweitens aus Menschen, die kein Problem haben, sich politisch mit Rechtsradikalen ins Bett zu legen. Und natürlich ist mit beiden etwas nicht in Ordnung.“

„Das macht man nicht“

Wer für sich in Anspruch nimmt, den Ostdeutschen eine Nachhilfestunde in Sachen Demokratiekunde zu geben, sollte allerdings auch selbst wissen, worüber er spricht. Das kann man insbesondere von einem Mann wie Wanderwitz erwarten. Der Jurist war einst auch als Staatssekretär im Bundesinnenministerium tätig.

Für ihn ist die Wahl der AfD deshalb ein existenzielles Problem, weil sie „rechtsradikal“ sei. „Das macht man nicht, denn das gefährdet die Demokratie“, sagte er auf der Pressekonferenz mit Nachdruck. Allerdings steht diese Argumentation in direktem Gegensatz zum gängigen Staatsverständnis. So kann man vom Bundesamt für Verfassungsschutz, das dem Innenministerium unterstellt ist, erfahren, dass diesem radikale politische Ansichten „keinen Anlass“ bieten, aktiv zu werden: „Sie fallen unter die Meinungsfreiheit, sind Ausdruck politischer Teilhabe und somit von der freiheitlichen demokratischen Grundordnung geschützt.“

„Rechtsradikal“ oder „rechtsextrem“?

Erst dann, wenn die Kritik so weit reicht, dass der Kernbestand der verfassungsmäßigen Ordnung in Frage gestellt und aktiv-kämpferisch überwunden werden soll, schlägt das Herz des Verfassungsschutzes höher. Dann nämlich, und nur dann, ist der Tatbestand des verfassungsfeindlichen Extremismus erfüllt.

Wie aber kann die Demokratie eigentlich dadurch gefährdet sein, dass man sich in ihrem Rahmen bewegt? Es gibt nur zwei Möglichkeiten, diese Konfusion aufzulösen: Entweder ist die AfD tatsächlich bloß „rechtsradikal“. Dann allerdings hätte Wanderwitz seine Äußerungen über die angebliche Demokratiegefährdung zurückzunehmen. Oder aber er verwendet „rechtsradikal“ in Wahrheit synonym zu „rechtsextrem“. Dafür spricht viel. Aber dann entstünde das nächste Problem. Bekanntermaßen ist es derzeit selbst dem Verfassungsschutz als zuständiger staatlicher Behörde gerichtlich nicht gestattet, derartiges über die AfD zu verbreiten.

Staatliches Neutralitätsgebot

Wenn ein Abgeordneter in einer Parlamentsrede der AfD vorwirft, extremistisch und damit verfassungsfeindlich zu sein, wird auch sie das als Ausdruck des demokratisch-politischen Meinungskampfes hinnehmen müssen. Ob es ihr nun gefällt oder nicht. Anders ist es hingegen, wenn ein Staatssekretär in Wahrnehmung seines staatlichen Amtes eine solche Äußerung tätigt. Wanderwitz gibt seine Pressekonferenzen nicht als Privatperson und auch nicht als Mitglied der CDU, sondern als Repräsentant des Staates.

In dieser Funktion hat er parteipolitische Neutralität zu wahren und sein Staatsamt nicht dazu zu missbrauchen, eine gegnerische Partei zu bekämpfen – seien die verfolgten Absichten auch noch so ehrenvoll. Das mussten beispielsweise in jüngerer Vergangenheit auch Bundesinnenminister Horst Seehofer (CSU) und NRW-Innenminister Herbert Reul (CDU) schmerzlich erfahren. Beide unterlagen vor Gericht, weil sie gegenüber der AfD das staatliche Neutralitätsgebot in rechtswidriger Weise verletzt hatten.

Politischer Zuchtmeister

Aber der parteipolitische Missbrauch staatlicher Ämter ist nur das eine Problem. Das andere ist die anhaltende Wählerbeschimpfung, die ausgerechnet bei dem Mann ein bemerkenswertes Demokratieverständnis offenbart, der sich zum politischen Zuchtmeister eines Teils der ostdeutschen Bevölkerung aufschwingt. Der Ostbeauftragte geht dabei sogar so weit, AfD-Wählern – und zwar unterschiedslos allen – vor laufenden Kameras zu attestieren, mit ihnen sei „was nicht in Ordnung“. Damit kann wohl nicht gemeint sein, dass sie sich das Handgelenk verstaucht haben. Behauptet wird, es läge ein intellektueller Defekt vor, so etwas wie eine pathologisch-politische Unzurechnungsfähigkeit.

In einer parlamentarischen Demokratie allerdings herrscht der Souverän nicht von oben, sondern verleiht den Herrschenden von unten Legitimität. Die Zeiten eines souveränen Herrschers, der sich über das Volk erheben konnte, sind mit dem Untergang der Monarchie und spätestens seit dem Ende der DDR vorbei. Es verwundert daher, ausgerechnet einen Ostdeutschen daran erinnern zu müssen, was einst Bertolt Brecht meinte, der DDR-Regierung im Angesicht des 17. Juni 1953 sarkastisch ins Stammbuch schreiben zu müssen: „Das Volk hat das Vertrauen der Regierung verscherzt. Wäre es da nicht doch einfacher, die Regierung löste das Volk auf und wählte ein anderes?“

Ursachenforschung betreiben

Vielleicht haben die Gründung der AfD und ihr andauernder Erfolg ja auch mit Fehlern der etablierten Politik zu tun. Dieser Frage nachzugehen könnte am Ende fruchtbarer sein, als die Wählerbeschimpfung unbeirrt fortzusetzen. Der Ostbeauftragte der Bundesregierung hingegen sieht das ganz anders: „Ich kann nichts damit anfangen, den demokratischen Parteien die Schuld an der Entwicklung zu geben.“ Was aber, wenn die Wähler der AfD derjenige Teil des Publikums sind, der aus Empörung über die andauernde Beschimpfung die Bühne stürmt? Oder einfach den Saal verlässt?

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