Europaweite Öffnungsstrategien - „Die Notbremse in Deutschland ist nicht notwendig“

Viele europäische Länder warten nicht länger und fahren langsam das öffentliche Leben wieder hoch. In Deutschland hingegen greift weiterhin die „Bundes-Notbremse“. Der Epidemiologe Stefan Willich erklärt im Interview, warum auch Deutschland jetzt schon lockern könnte.

Der Außenbereich der Gastronomie in den Niederlanden öffnet wieder / dpa
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Autoreninfo

Sina Schiffer studiert an der Rheinischen Friedrich-Wilhelms-Universität in Bonn Politik und Gesellschaft und English Studies. Derzeit hospitiert sie bei Cicero. 

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Stefan Willich ist Direktor des Instituts für Sozialmedizin, Epidemiologie und Gesundheitsökonomie an der Charité – Universitätsmedizin Berlin und seit Beginn der Pandemie in viele Covid-19-Projekte eingebunden.

Deutschland zieht die Notbremse, und viele andere Länder Europas lockern. Warum wir nicht auch? 

Nach meiner epidemiologischen Einschätzung ist die Notbremse in Deutschland nicht notwendig. Anstatt dessen wären auch hier vorsichtige Öffnungsschritte und Lockerung möglich.

Wie bewerten Sie die Öffnung der anderen Länder aus epidemiologischer Sicht? Bei einer so hohen Inzidenz tut man sich damit doch keinen Gefallen? 

Die Öffnung in einigen europäischen Ländern orientiert sich maßgeblich an den jeweiligen intensivmedizinischen Kapazitäten und nicht an dem sogenannten „Inzidenz-Wert“. Denn dieser ist nur begrenzt aussagekräftig, zum Beispiel, weil er auch davon abhängt, ob mehr oder weniger getestet wird, und weil viele positiv getestete Personen gar nicht erkranken. Viel relevanter ist die Aufnahmerate in den Krankenhäusern und speziell auf den Intensivstationen, um daraus im Notfall restriktive Maßnahmen abzuleiten. Öffnungen können auch zur Vermeidung der potentiell gravierenden gesundheitlichen Lockdown-Schäden gerechtfertigt sein.

Was heißt das wiederum für deutsche Reiserückkehrer? Können sie so das Virus leichter wieder mit nach Deutschland bringen?

Entscheidend für sichere Reiseaktivitäten ist ein konsequent vorsichtiges Verhalten sowie Testung. Man kann durchaus zum Urlaub nach Mallorca fliegen oder in den Niederlanden einkaufen und Kaffee trinken – wenn Abstände eingehalten werden beziehungsweise Mund-Nasen-Schutz getragen wird. Oder bei Außengastronomie an der frischen Luft. Allerdings sollte vor dem Rückflug ein negatives Testergebnis vorliegen, und in Deutschland sind die Quarantäne-Vorschriften einzuhalten. 

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Das heißt, aus Ihrer Sicht könnte Deutschland auch weitere Öffnungen vornehmen? 

Ich plädiere für differenzierte Öffnungskonzepte mit sicheren Hygienekonzepten. Gute Beispiele dafür sind regionale Öffnungsstrategien für kommunale Aktivitäten, Schulen und Kitas, Kulturveranstaltungen und Tourismus. Solche Öffnungsschritte sollten am besten unter wissenschaftlicher Begleitung erfolgen, um Lerneffekte auf neue Freiheiten übertragen zu können und die konsequente Rückkehr zur Normalität zur ermöglichen. Ich finde es sehr bedauerlich, wenn solche Initiativen durch eine Notbremse abgewürgt werden.

Wird denn dann die deutsche „Bundes-Notbremse“ überhaupt positive Auswirkungen haben? 

Die „Bundes-Notbremse“ wird das Infektionsgeschehen vermutlich kaum beeinflussen; bisherige Studien zeigen nur sehr geringe Effekte durch nächtliche Ausgangssperren oder Schulschließungen. Es könnte sogar gefährlich sein, wenn als Reaktion auf Ausgehsperren Aktivitäten in Innenräume verlagert werden, wo die Infektionsgefahr bekanntermaßen viel höher ist.  

Stefan Willich
(Foto: Thomas Farr)

Wie lange wird es noch dauern, bis wir wieder in ein „normales“ Leben zurückkehren können? 

Entscheidend sind die Impfungen. Die Experten sind sich weitgehend einig, dass die meisten Einschränkungen entfallen können und werden, sobald ein großer Anteil der Bevölkerung geimpft ist. Die Impfprogramme in Deutschland sind leider sehr verzögert und schleppend angelaufen. Hoffentlich geht das in den nächsten Monaten zügiger. In Ländern, wo bereits ein Großteil der Bevölkerung geimpft ist, wie zum Beispiel in Israel, Großbritannien oder den USA, hat sich das Leben schon in vielen Bereichen normalisiert.

Was verstehen Sie unter „normalem Leben“? 

So, wie vor der Pandemie wird es vermutlich in diesem und auch den nächsten Jahren nicht sein. Je nachdem, wie sich das Virus weiter verhält und welche Mutationen auftreten, könnten sich längerfristige Vorsichtsmaßnahmen wie auch erneute Impfungen als sinnvoll erweisen.

Es werden fast täglich bis zu einer Million Menschen in Deutschland geimpft. Können Geimpfte denn auch aus epidemiologischer Sicht „bevorzugt“ werden? 

Ja, nach abgeschlossener Impfung gilt man, ebenso wie Personen nach überstandener Covid-19 Infektion, als immun, so dass Restriktionen nicht mehr nötig sind. Das gleiche gilt übrigens auch für tagesaktuell negativ getestete Personen. Im übrigen scheint mir der Ausdruck „Bevorzugung“ missverständlich, denn es geht um Normalisierung und Rückgabe der Bürgerrechte. 

Das hieße, man stellt vollständig Geimpfte und negativ Getestete auf eine Stufe? 

Aus epidemiologischer Sicht ist das plausibel. 

Vielen brennt nur eine Frage unter den Nägeln: Was ist mit Reisen im Sommer? Können wir uns wieder vermehrt auf Flugreisen einstellen? 

Flugreisen sind auch jetzt schon ungefährlich, vorausgesetzt, die Passagiere werden vor dem Flug getestet, und Rückkehrer aus anderen Ländern beachten die Quarantäne-Vorschriften. Weil außerdem immer mehr Menschen geimpft sind, werden touristische Aktivitäten im Sommer möglich sein.

In Indien spitzt sich die Lage bei Corona-Neuinfektionen immer weiter zu. Was bedeutet die indische Mutante für uns in Europa?

In Indien sind die Infektionszahlen vermutlich wegen vieler religiöser und politischer Großveranstaltungen steil angestiegen, außerdem sind die dortigen Impfprogramme langsam. Die indische Mutante ist bisher zu wenig untersucht für eine sichere Beurteilung einer möglichen erhöhten Ansteckungsgefahr. Bei konsequenter Testung und Quarantäne für Flugpassagiere besteht in Europa bisher aber kein Grund zu erhöhter Sorge. 

Die Fragen stellte Sina Schiffer

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