Obdachlosigkeit - Unter Brücken

Obdachlosigkeit und Drogensucht werden in Städten wie Stuttgart, Frankfurt und Berlin angesichts von Corona-, Wirtschafts- und Flüchtlingskrise immer sichtbarer. Gerät da etwas außer Kontrolle?

Zelte von Obdachlosen am Spreeufer im Berliner Regierungsviertel, im Hintergrund der Reichstag / Anja Lehmann
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Autoreninfo

Moritz Gathmann ist Chefreporter bei Cicero. Er studierte Russistik und Geschichte in Berlin und war viele Jahre Korrespondent in Russland.

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„Das tut alles weh!“ Der Mann im grauen Trenchcoat mit den ordentlich nach hinten gekämmten grauen Haaren steht an einem Novembermorgen auf dem Gehweg der Kaiserstraße in Frankfurt am Main und zeigt anklagend auf einen Müllhaufen: Corona­-Tests, Dutzende Weinflaschen, Essensboxen aus Pappe, Milchpackungen. „Die Regierung versaut das hier“, sagt er laut und wütend. 

„Das hier“, damit meint der Palästinenser Odeh Ghazi, 69, vor 42 Jahren nach Deutschland gekommen, seine Heimat, das Bahnhofsviertel von Frankfurt, die reiche Bankenmetropole, Verkehrsknotenpunkt Deutschlands. Ghazi meint die schlafenden Obdachlosen, die in den Hauseingängen liegen, die Crack-­Süchtigen, die vor dem Bahnhof gerade Pillen und Drogen tauschen. Ghazi meint die Sinti und Roma, die bettelnd und stehlend zwischen Hauptbahnhof und Kaiserstraße pendeln, viele von ihnen mit kleinen Kindern in Kinderwagen. „Früher“, sagt er, „war das nicht so!“ 

Die Zustände im Frankfurter Bahnhofsviertel sind über die letzten Jahre apokalyptisch geworden. 2016 titelte die New York Times noch: „Frankfurts raues Rotlichtviertel wird cool“. Inzwischen macht sich Leerstand breit, zuletzt hat das hippe Restaurant Stanley geschlossen – nicht nur, aber auch wegen der Zustände. Hunderte Drogensüchtige sind rund um den Bahnhof unterwegs, auf der Suche nach Crack und anderen Drogen. „Fuck you“ – „fick disch doch selbe!“, rufen sie einander zu an diesem Tag, in dunklen Ecken rauchen sie Crack oder setzen sich am helllichten Tag einen Schuss Heroin in die Venen. Zwischendrin die Grashändler, die große Tüten mit Marihuana ungeniert hinter Autoreifen verstecken. 

Verdopplung der Waffendelikte

Diebesbanden ziehen durch Bahnhof und Züge, beobachtet von Zivilfahndern, die zugreifen, wenn Handys oder Geldbeutel gestohlen werden. „Polizei!“, brüllen zwei von ihnen und werfen sich auf einen jungen Nordafrikaner, der einer Frau das Handy aus der Tasche ihres eleganten Mantels gezogen hatte, völlig unbemerkt. „Das tut mir jetzt aber leid, dass der wegen mir in Probleme geraten ist, nur weil ich auf meine Sachen nicht aufpasse“, sagt sie, während der Dieb in Richtung Polizeiwache abgeführt wird. Wer in den Bahnhof einfährt, wo Fernzüge oft länger halten, hört vom Zugführer Warnungen vor Dieben, die auf der Suche nach Handys und Laptops durch die Waggons ziehen.

Die Zahl der Waffendelikte im Viertel hat sich laut Polizei im Vergleich zu 2019 im vorigen Jahr mehr als verdoppelt, auf 239. Die Polizei fordert deshalb die Einrichtung einer Waffenverbotszone. Für 2022 erwartet sie einen Anstieg der Zahlen beim Straßenraub, ein Anzeichen für eine erhöhte Beschaffungskriminalität der Suchtkranken. 

Ein Obdachloser unter einer Brücke am S-Bahnhof
Frankfurter Allee in Berlin / Anja Lehmann

Aber Frankfurt ist kein Einzelfall. In vielen Großstädten stellen Bürger Verwahrlosung fest: in Form von „erlebnis­orientierten Jugendlichen“, die Parks als Partyraum missbrauchen und entsprechend hinterlassen, in Form von offenem Drogenhandel und -konsum, in Form von obdachlosen Menschen, die sich rund um Bahnhöfe häuslich einrichten. 

Der untypische Obdachlose

Die Probleme sind nicht neu, aber die Corona-Krise hat sie verschärft; hinzu kommen jetzt Inflation, steigende Energiekosten und eine neue Flüchtlingswelle aus der Ukraine und den üblichen Flüchtlingsländern, die Wohnraum und andere Ressourcen noch knapper werden lassen. „Das ist eine Stapelkrise“, sagt Jörg Richert, der über drei Jahrzehnte Sozialarbeit in Berlin auf dem Buckel hat. „Und natürlich werden die Zahlen derer steigen, die auf der Straße landen.“

Dabei sind die Zielvorgaben ganz andere: Im vorigen Jahr hat sich nicht nur die EU das Ziel gesetzt, bis 2030 die Obdachlosigkeit zu überwinden, auch die Ampel hat sich das in den Koalitionsvertrag geschrieben. 

Achim hat es vor gut einem Jahr erwischt: Es ist kurz nach neun an einem glücklicherweise noch milden Novembermorgen, der 68-Jährige, in blauer Winterjacke, schwarzer Mütze und Handschuhen, schiebt seinen Einkaufswagen, behängt mit Schlafsack und Plastiktüten, über den Gehweg der Schönhauser Allee in Berlin. U-Bahnen quietschen über die Gleise der Hochbahn, Autos rasen vorüber, aus einer Zeit-für-Brot-Filiale kommt der Geruch von Zimtschnecken, Stückpreis: 3,60 Euro.

Mahlzeit eines Obdachlosen auf einer Bank in der Nähe des
Berliner Kanzleramts / Anja Lehmann

„Ich entspreche nicht dem typischen Bild eines Obdachlosen“, sagt Achim mit hessischem Zungenschlag gleich zu Beginn. Er meint damit, dass er keine Drogen nimmt, keinen Alkohol trinkt, psychisch unauffällig ist. Bis zur Rente hat er bei der Baustellensicherheit der Bahn gearbeitet. „Da galt immer null Promille, die Erfahrung hat mir geholfen“, sagt er. 

Wenn Mitternacht rum ist und der Imbiss unter der Hochbahn schließt, legt sich Achim schlafen. Spätestens 5.30 Uhr, wenn es laut wird, ist er wieder wach. Dann geht er auf Tour: Flaschensammeln rund um die Schönhauser, an sehr guten Tagen bekommt er so 40, an schlechten nur fünf Euro zusammen. Essen und Trinken kauft sich Achim selbst, seine Notdurft verrichtet er auf einer City­Toilette. Kostet zwar 50 Cent pro Besuch, aber das ist es ihm wert.

Alles wird gefährlicher

Die Jahre seit der Verrentung hat Achim halblegal in einer Monteurwohnung gelebt, dann musste er raus. Warum genau, erklärt er nicht. „In der ersten Zeit fand ich’s ganz lustig, immer in Bewegung zu sein“, sagt er. Aber er arbeitet darauf hin, wieder ein Dach über dem Kopf zu bekommen: Seine Rente rührt er nicht an, die spart er für die Zukunft. Und muss gleichzeitig beobachten, wie knapp gerade günstiger Wohnraum durch die Ankunft immer neuer Flüchtlinge geworden ist.

In die Notunterkünfte will er auf keinen Fall: „Da sind nur Alkis und Drogensüchtige. Wer da hingeht, kommt mit der Hälfte seiner Sachen wieder raus“, sagt er lachend. Überhaupt werde es immer gefährlicher, ist Achims Eindruck. Zum einen sind da die verschiedenen Clans, die die Reviere unter sich aufgeteilt haben, zum anderen werden die Verteilungskämpfe unter den Obdachlosen härter: „Man kann nix mehr liegen lassen. Da wird alles geklaut.“ 

Der Palästinenser Odeh Ghazi, seit 42 Jahren in
Deutschland, in seiner Heimat, dem Frankfurter
Bahnhofsviertel / Annette Cardinale

Nicht jeder, der auf der Straße lebt, hat Suchtprobleme, und oft leben Suchtkranke nicht auf der Straße. Doch die Probleme überlagern sich. Unter der Hochbahn in der Mitte der Schönhauser findet sich die gesamte Bandbreite: eine junge Roma-Frau, die auf einer Matratze geschlafen hat und jetzt aufdringlich von einem älteren Berliner mit Zigarre bequatscht wird; ein Pärchen, das sich ein Lager gebaut und auf eine Schaumstoffmatratze die Worte „Peace & Acid“ und psychedelische Zeichnungen gemalt hat; ein paar Schritte weiter eine Frau, die aufgeregt mit sich selbst spricht. Müll und Glasscherben sind auf dem Boden verteilt, über allem liegt der penetrante Geruch von Urin.

Aufgeräumteres Stuttgart

Es ist keine heile Welt, die sich dem Spaziergänger gut 500 Kilometer südwestlich von hier bietet, aber sie ist spürbar aufgeräumter als Berlin oder Frankfurt. An der Brücke über den Neckar von Bad Cannstatt Richtung Stuttgart sammeln gerade zwei Obdachlose ihre Habseligkeiten in ihre Einkaufswagen. Im Biergarten „Flora und Fauna“ im unteren Schlossgarten rauchen zwei Mitarbeiter eine Zigarette. Probleme mit Obdachlosen? Nee, eine Frau übernachte regelmäßig auf den zu Sofas zusammengezimmerten Holzpaletten auf der Terrasse. Morgens mache sie sich aber auf den Weg, bevor das Café öffne. Einem anderen Obdachlosen geben sie im Winter heißes Wasser, laden sein Handy auf. Das größere Problem, sagen sie lachend, sei der Mitarbeitermangel in der Gastronomie. Das größte Problem im ideal aufgeräumten Stuttgarter Schlossgarten, der zum Hauptbahnhof führt, ist der Kot von Hunderten Nilgänsen, die sich hier über die letzten Jahre breitgemacht haben.

In der Stuttgarter Königstraße betteln zwei Roma-Frauen Passanten an, eine in eine Decke gehüllte, ausgezehrte Drogenabhängige schnorrt unter Platanen eine Passantin um Zigaretten an. „Guten Morgen, Schatzi“, ruft sie mit osteuropäischem Akzent einem Passanten zu. Obdachlose findet man auch – zahnlos, mit grauen Haaren und zerknautschten Gesichtern, legen sie sich ihre Pappen zurecht und trinken das erste Dosenbier des Tages. Sie sind da, aber sie dominieren nicht die Szenerie. 

Selbst der Stuttgarter „Brennpunkt“ wirkt nicht wie ein solcher: Rund um die Leonhardskirche, ein paar Gehminuten von der Königstraße entfernt, kommen Obdachlose, Bordsteinprostituierte und Suchtkranke zusammen, weil hier Essen verteilt wird, weil sich Abhängige in Cafés austauschen können. In der Kirche gibt es Vorträge zu Schubert, Klaviermatinees, Oratorien für das bürgerliche Publikum. Und die „Vesperkirche“ für Obdachlose. Das Züblin-Parkhaus gleich daneben, wo sich bis vor wenigen Jahren fast ausschließlich Drogensüchtige, Freier und Dealer trafen, hat jetzt einen Kultur-Kiosk im Erdgeschoss und einen Mitmachgarten auf dem Dach. Vorboten der Gentrifizierung, aber auch eine Möglichkeit, Orte für die Allgemeinheit zurückzugewinnen.

Obdachlose als Teil der Gesellschaft

Aber Daniel Klaus, Redakteur bei der Obdachlosenzeitung Trott-War, erzählt, dass auch hier Corona Spuren hinterlassen habe: Obdachlose seien grundsätzlich misstrauisch gegenüber staatlichen Eingriffen, ganz besonders jene, die unter psychischen Erkrankungen litten. Einrichtungen mussten zudem wegen der Corona-Vorschriften ihre Plätze reduzieren. „Die Sozialstationen haben viele Leute verloren in der Pandemie“, sagt er.

Am Neuknüpfen der Kontakte arbeiten Marvin und seine Mitstreiter in einer Bretterbude neben der Paulinenbrücke am Rande der Innenstadt. Marvin, 35, seit 16 Jahren an der „Paule“, wie die Brücke genannt wird, war heroinabhängig, ist aber schon seit 14 Jahren auf der Ersatzdroge Subutex, vier Gramm pro Tag. „Ich brauch’s, um fit im Kopf zu sein“, sagt er. Mit Beginn der Corona-Krise verteilten sie per Lastenrad Essen an die „gestrandeten Seelen“, seit einem Jahr haben sie nun die Bude hier und geben mittags Essen und neue Spritzen an etwa 50 Suchtkranke aus. „Das ist ihr Wohnzimmer“, sagt Marvin. „Die sitzen zusammen, schwätzen, verticken.“ Vor allem verschreibungspflichtige Beruhigungstabletten wie Lyrika oder Benzodiazepine, aber auch Gras und andere Drogen. Sie sind sichtbar ruhiger als in Frankfurt, doch das könnte sich ändern. „Das Crack schwappt gerade rüber“, sagt Marvin.

Teil des Stuttgarter Modells ist, dass Leute wie Marvin zur Stadtgesellschaft gehören: Zum Beweis zeigt er eine Holzstatue, in deren Sockel eingraviert ist: „10. Stuttgarter Bürgerpreis“. Auf dem Handy hat er Bilder von der Preisverleihung: Er und seine Jungs im Gangsterlook im piekfeinen Porsche-Museum, das Stuttgarter Bürgertum in Smokings. „Wir waren wie die Grünen-Politiker in den 1980ern im Bundestag“, sagt er lachend.

Frankfurter Dilemma

Das Verhältnis zu den „Cops“ dagegen ist nicht gut: Zwar gibt es ein „Gentlemen’s Agreement“, wonach die Polizei nicht kontrolliert, während Essen ausgegeben wird, aber sonst filzen Beamte die Drogenkranken regelmäßig, konfiszieren, erstatten Anzeigen. „Die tun so, als wären wir in Berlin oder Hamburg, wo es richtig gefährlich ist“, sagt Marvin. 

Er würde sich wünschen, dass es auch in Stuttgart Konsumräume gäbe, aber die Kommunalpolitiker fürchteten, dass so etwas „das Bild von Stuttgart kaputtmachen könnte“. Frankfurter Verhältnisse will man hier vermeiden. Fragt man die Suchtkranken, hört man zwar auch Beschwerden über zu wenig Sozialarbeiter und das Problem, dass sie keine Arbeit bekommen. Die Antwort auf die Frage, warum es hier nicht so aussehe wie in Frankfurt, überrascht aber: Die haben es doch komplett aufgegeben.

Annette Rinn (FDP) ist seit 2021 Ordnungsdezernentin in
Frankfurt am Main / Annette Cardinale

Annette Rinn, seit gut einem Jahr Ordnungsdezernentin in Frankfurt, will das nicht gelten lassen. Eine Maßnahme der FDP-Politikerin war, dass die Reinigungskräfte jetzt wieder von Polizei begleitet werden, was sie vor Angriffen schützt. „Aber wenn wir um neun sauber machen, ist der Dreck mittags trotzdem wieder da“, sagt die 62-Jährige etwas verzweifelt in ihrem Büro im Frankfurter Rathaus. Ein Grund dafür seien die vielen privaten Spender, die seit der Corona-­Krise selbst Essen verteilen. „Das ist zwar gut gemeint, aber die Verpackungen, oft auch das Essen selbst, landen gleich wieder auf dem Boden.“

Vorbild Zürich?

Bis zu 350 Suchtkranke leben ständig im Viertel, hinzu kommen unzählige Menschen, die hier Drogen kaufen oder konsumieren. Besonders an Frankfurt ist, dass sich mit der Einrichtung der Konsumräume alles rund um den Bahnhof konzentriert hat. Über die letzten Jahre wurde die Szene zudem auf die Straße gespült, weil die untere Ebene des Bahnhofs renoviert wird und damit Rückzugsräume verloren gingen. Einen wirklichen Plan, wie man die Lage wieder in den Griff bekommt, gibt es nicht. „Wir haben wenig Handhabe. Es ist ja nicht verboten, krank und elend auszusehen. Wir können niemanden in die Einrichtungen zwingen“, sagt Rinn. Sie spricht von einer „Weiterentwicklung“ des Frankfurter in Richtung des Zürcher Modells. Dort hat die Stadt vor zwei Jahrzehnten mit dem SIP Züri eine Behörde geschaffen, die das öffentliche Drogenelend domestiziert hat. SIP (Sicherheit, Intervention, Prävention) bedeutet: Der „Ameisenhandel“ und Konsum in den Einrichtungen ist erlaubt, dadurch bekommt man die Menschen von der Straße weg. Zudem können die Menschen dort hin, ohne beweisen zu müssen, dass sie suchtkrank sind, müssen sich aber registrieren; in der Schweiz hat die Polizei damit die Möglichkeit, Ortsfremde in ihre Kantone zurückzubringen.

Rinn hofft auch auf die auf Bundes­ebene beschlossene Legalisierung von Cannabis ab 2024: „Marihuana ist für Crack-Abhängige die richtige Droge, um ruhiger zu werden“, sagt sie. Ein Problem ist, dass das Zürcher Modell eine Mischung aus Sozialarbeit und Repression bedeutet: Die SIP-Mitarbeiter, uniformiert und eine Mischung aus Ordnungsamt und Sozialarbeitern, arbeiten Hand in Hand mit der Polizei. Auf den Straßen Zürichs gilt: null Toleranz für Konsum und Handel. Für Repression sind insbesondere die Grünen in der Frankfurter Stadtregierung aber nicht zu haben.

Hinzu kommt ein Personalproblem. Zwar zeigt die Polizei in den vergangenen Wochen wieder mehr Präsenz im Bahnhofsviertel. Aber die Frankfurter Stadtpolizei etwa ist nachts nur mit vier Mann unterwegs. „Frankfurt hat viel Geld, aber die Stadt wächst und wächst, und die Verwaltung kommt nicht hinterher“, sagt Rinn. 

Arbeit ist der Schlüssel

Jörg Richert, Ostberliner, ist schon seit mehr als 30 Jahren in der Obdachlosen- und Drogenhilfe tätig. Der 59-Jährige ist einer der Geschäftsleiter von Karuna, ein großer Träger in der Berliner Sozialhilfe. Seit einigen Jahren hat Karuna eine „Taskforce“ aus ehemaligen Obdachlosen, die das Ordnungsamt anruft, wenn es Beschwerden von Bürgern gibt: Sie machen sich auf den Weg zu den Problemstellen und versuchen, mit den Obdachlosen eine Lösung zu finden. Das kann heißen, den Ort aufzuräumen, an dem sie kampieren, oder den Ort ganz zu verlassen.

Für die Zusammenarbeit mit der Stadt wird er von linken Aktivisten angefeindet: 2021 begleiteten Karuna-Leute die Räumung eines großen Lagers im Berliner Osten, als eiskalte Wintertage bevorstanden. Sie überzeugten die meisten Bewohner, in ein von der Stadt gemietetes Hostel umzuziehen. Aus Rache verklebten Aktivisten die Schlösser mehrerer Karuna-Fahrzeuge mit Bauschaum.

Richert wünscht sich neue Wege im Umgang mit Obdachlosen und Suchtkranken, vor allem die Entstigmatisierung der Klientel, an der auch die Träger arbeiten müssten: „Außenstehende sind oft überrascht, wie viele der Obdachlosen bei näherer Betrachtung Berufe haben“, sagt er. Eine Lösung wäre, den Menschen niederschwellig Arbeit zu vermitteln, zum Beispiel bei der Parkpflege oder in Reparaturcafés. „Wenn du verstehst, warum du morgens aufstehen sollst, dann verändert das sehr viel.“

„Die Menschen werden in Würdelosigkeit gehalten“

Neue Wege müsste eine Stadt wie Berlin auch beim Wohnraum gehen. In Finnland gebe es große Erfolge mit dem Konzept der Tiny Houses, kleine Holzhäuschen mit dem Allernötigsten auf Rädern, Kostenpunkt: 30.000 bis 40.000 Euro. Wo Wohnungen knapp seien, müssten es eben mobile Einheiten tun. „Das große Problem von Obdachlosen ist der Schlaf. Wenn du genug geschlafen hast, bist du zu viel mehr fähig“, sagt er. In Berlin stellen sich dagegen aber die Grünen: Sie befürchten eine „Verslummung“ durch das Konzept der Tiny Houses.

Neue Wege wünscht sich auch Tom Holz, 46 Jahre alt, der zwei Jahrzehnte im Frankfurter Bahnhofsviertel verbracht und sich dabei auch mal bei einer Schießerei unter Albanern eine Kugel gefangen hat. „Es ist auf die Dauer schwer auszuhalten. Die Menschen werden in Würdelosigkeit gehalten“, beklagt er. „Die Vereine müssten sagen: Das geht so nicht mehr. Oft heißt es aber: Dafür gibt’s Geld, also machen wir weiter.“

Mehr Repression an sich löse keine Probleme, sagt Holz, in Verbindung mit dem Zürcher Weg aber schon. „Man muss Räume schaffen – dann macht Repression auch Sinn“, sagt er. Und auch wenn es eine rechtliche Grauzone ist: Den „Ameisenhandel“ in Einrichtungen zu erlauben, hält er für den richtigen Weg. 

Berlin fehlen schlicht die Wohnungen

Zudem brauche es mehr Forschung über Substitute für Kokain, aus dem das Teufelszeug Crack gemacht wird. „Das große Problem an Crack ist, dass die Leute schnell in ein tiefes Loch rutschen“, sagt Holz. Für die Sozialarbeiter eine Riesenaufgabe: „Es gibt nur wenige Momente, in denen man an die Menschen rankommt.“ Es mag überraschend klingen, aber unter Einfluss von Heroin sind Menschen vergleichsweise arbeitsfähig.

Auf Veränderungen in der Berliner Sozialpolitik hofft Tobias Bauschke, seit 2021 für die FDP im Berliner Abgeordnetenhaus. Nach der Katastrophenwahl im letzten September wird wohl im Februar neu gewählt, womöglich steht die rot-rot-grüne Koalition, die seit 2016 die Stadt regiert, vor dem Aus. Bauschke wirft der linken Koalition Heuchelei vor: „Sie predigen: Wohnen ist ein Menschenrecht. Aber 2022 wurde in Berlin keine einzige Sozialwohnung auf den Weg gebracht“, sagt er. Dabei sei die Lage dramatisch: 100.000 Geflüchtete gebe es in der Stadt, es fehlten etwa 125.000 Wohnungen. Berlin will die Hauptstadt der Solidarität und Menschlichkeit sein, aber kann den Ankommenden keine menschenwürdigen Lebensbedingungen mehr bieten. „Wenn ich Schutz und Sicherheit geben will, dann muss ich auch den Raum dafür bieten“, sagt Bauschke.

Der Obdachlose Achim auf der Schönhauser Allee in Berlin. Er lebt seit gut einem Jahr auf der Straße / Anja Lehmann

Langjähriger Streitpunkt in Berlin ist etwa die Bebauung des Tempelhofer Feldes, das Flugfeld des ehemaligen Innenstadtflughafens. „Auf einen Schlag hätten wir da Zehntausende Wohnungen. Aber da gibt es eine klassische linke Verweigerungshaltung“, sagt Bauschke. Er lobt zwar das vom Senat geförderte Projekt „Housing First“, bei dem Obdachlose ohne Bürokratie in Wohnungen kommen – und alle anderen Fragen erst danach geregelt werden. „Aber da sprechen wir von 96 Wohnungen. Vergleichen Sie das mal mit der Dimension des Problems!“ Die Dimension, das sind 5000 bis 10.000 Obdachlose in der Stadt. 

Auf und Ab des Bahnhofsviertels

Daran, dass Berlin ein Magnet sei, werde sich nichts ändern, ist Bauschke überzeugt: Die Hauptstadt hat eine relativ breit aufgestellte Versorgungsstruktur für Obdachlose, darunter das deutschlandweit einzigartige Hygienecenter am Bahnhof Zoo, in dem Obdachlose duschen können. Berlin zieht auch Obdachlose aus Polen, Belarus und Rumänien an: Etwa zwei Drittel der Menschen auf der Straße sind heute Ausländer, Tendenz steigend. Der Grund: Hier lässt sich mit Betteln oder dem Sammeln von Pfand mehr verdienen als in Bukarest oder Minsk. Und, wie ein Sozialarbeiter mit jahrzehntelanger Erfahrung sagt: In Moskau sterben 100 Obdachlose im Winter, in Warschau 50 und in Berlin fünf. 

Nazim Alemdar will sich nicht geschlagen geben. „Wir müssen um unser Bahnhofsviertel kämpfen“, sagt der Kioskbesitzer und Vorsitzende des Gewerbevereins im Frankfurter Bahnhofsviertel. Alemdar, vor 42 Jahren aus der Türkei nach Frankfurt gekommen, steht in seinem Yok-Yok-Kiosk, der Treffpunkt schlechthin im Viertel. Ein Mann kommt vorbei, fragt, ob er hier ein Plektrum für eine Oud bekomme. „Nein, kann ich dir leider nicht helfen“, sagt Alemdar. Vor zwei Jahren hätte er den Mann noch ins Traditions-Musikgeschäft Cream geschickt, aber auch das ist aus dem Viertel nach Sachsenhausen gezogen: andere Seite des Mains, raus aus der Problemzone.

„Ich will nichts schönreden“, sagt er, und wünscht sich mehr Fußstreifen der Polizei, mehr Therapiemöglichkeiten für Suchtkranke. Und doch will Alemdar lieber über die guten Seiten des Viertels sprechen, über die App „Auf ins Viertel“, die zeigt, was es hier alles gibt: Kunstgalerien, Restaurants mit Essen aus aller Herren Länder, die hippe Werbeagentur Vier für Texas. Alemdar sagt, in seinem Leben sei das schon der dritte Abstieg des Viertels – aber immer habe es sich wieder gefangen. Und dann hat er noch ein Angebot für alle, die Angst haben: „Gib ihnen meine Nummer: Ich hol sie am Bahnhof ab und führ sie durchs Viertel!“

 

Dieser Text stammt aus der Dezember-Ausgabe des Cicero, die Sie jetzt am Kiosk oder direkt bei uns kaufen können.

 

 

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