Wie soll „No-Covid“ funktionieren? - „Ändern wir das Ziel auf: Wir wollen wieder ins Fußballstadion“

„No-Covid“ ist die Strategie einer Gruppe interdisziplinärer Wissenschaftler. Sie wollen die Null-Inzidenz. Im Interview erklären vier ihrer Vertreter, warum dieses Ziel nicht utopisch ist und wie wir es ohne schärfere Lockdowns erreichen können.

Ohne Neuinfektionen könnten wieder Zehntausende ins Fußballstadion / dpa
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Autoreninfo

Jakob Arnold hospitierte bei Cicero. Er ist freier Journalist und studiert an der Universität Erfurt Internationale Beziehungen und Wirtschaftswissenschaften. 

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Dr. Markus Beier ist Hausarzt in Erlangen und Vorsitzender des Bayerischen Hausärzteverband (BHÄV).

Prof. Dr. Elvira Rosert ist Politikwissenschaftlerin. Sie ist Juniorprofessorin für Internationale Beziehungen an der Universität Hamburg und am Institut für Friedensforschung und Sicherheitspolitik an der Universität Hamburg (IFSH).

Prof. Dr. Andreas Peichl ist Professor für Volkswirtschaftslehre an der LMU-München. Er leitet am ifo-Institut das Zentrum für Makroökonomik.

Ass. jur. Denise Feldner ist Wirtschaftsjuristin mit dem Fokus auf Technologierecht und bringt in einer Open-Innovation Platform Wissenschaft und Gesellschaft mit der Wirtschaft zusammen.

Vor ein paar Tagen haben wir mit dem Epidemiologen Markus Scholz von der Universität Leipzig über Ihr Ziel der Null-Inzidenz gesprochen. Er hat das Ziel als utopisch bezeichnet. Versuchen Sie, ihn vom Gegenteil zu überzeugen. 

Beier: Das Wichtige ist, dass die Kommunikation und Motivation klare Ziele haben muss. Wenn Sie mit dem Rauchen aufhören wollen: Ist Ihr Ziel erreicht, wenn Sie noch 100 oder 50 Zigaretten pro Woche rauchen oder 0? Die Motivation der Bevölkerung, sich an die Maßnahmen zu halten, krankt an den sich ständig ändernden Zielen.

Elvira Rosert / privat

Rosert: Ich finde es erstaunlich, dass das Ziel als utopisch betrachtet wird. Inzwischen hat sich empirisch gezeigt, dass es erreichbar ist. Dass manche es als utopisch betrachten, liegt daran, dass Deutschland ein Transitland innerhalb der EU ist. Deshalb streben wir eine einheitliche europäische Strategie an. 

Peichl: Es ist klar, dass das Virus nicht auf einmal verschwinden wird. Aber momentan ist die Situation, dass die Regierungen Maßnahmen beschließen und jeder schaut, wie er drumherum kommt. Die aktuellen Regeln sind ähnlich wie im März. Die Zahlen sind auch deshalb höher, weil die Leute sich jetzt weniger dran halten. Besser wäre es, Positivanreize zu setzen, wenn sich alle an die Regeln halten. Deshalb die No-Covid-Strategie.

Eine Null-Inzidenz will doch jeder. Handelt die Regierung nicht jetzt schon so, als wäre ihr die Null-Inzidenz am liebsten?

Peichl: Das sehe ich nicht. Aktuell heißt es nicht, dass wir eine Null-Inzidenz, sondern eine Inzidenz von 50 anstreben. Aber warum 50? Im Sommer war das noch die Schreckenszahl, jetzt ist es auf einmal die neue Wunderzahl. 

Denise Feldner / privat

Feldner: Das aktuelle Ziel des Gesetzgebers ist die 50. Im Infektionsschutzgesetz steht, dass erst ab einer 50er-Inzidenz umfassende Schutzmaßnahmen zu ergreifen sind. Dies ist nur auf die Handlungsfähigkeit der Gesundheitsämter ausgerichtet und keine ganzheitliche Betrachtung des pandemischen Geschehens.

Beier: Der Gesetzgeber geht davon aus, dass die Gesundheitsämter bei einer 50er-Inzidenz noch die Verbreitung eindämmen können. Dem ist mitnichten so. Bereits im Oktober waren 70 Prozent der Infektionsketten nicht mehr aufzuklären.

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Einverstanden. Wir streben die Null-Inzidenz an. Wie kommen wir da jetzt konkret hin?

Rosert: Es ist erstmal wichtig festzuhalten, dass wir keine Verschärfung der Lockdowns fordern. Wenn wir den Wert erreichen, ab dem die Gesundheitsämter Kontakte nachverfolgen können, werden wir exponentiell sinkende Zahlen sehen. Wir brauchen nicht schärfere Maßnahmen, sondern müssen die Menschen mehr motivieren, die bisherigen einzuhalten - weil das dazu führen wird, dass die Maßnahmen enden.

Markus Beier / privat

Beier: Im Sommer waren wir bereits bei Inzidenzen von 2 bis 3. Wir müssen uns dieses Mal die Mühe machen, auch bis 0 zu kommen. Wir dürfen aber nicht zulassen, dass sich Landkreise mit hohen Inzidenzen vermischen mit Kreisen, die niedrige Zahlen haben. Im Moment gibt der schlechteste den Takt vor. Motivierender wäre es zu sehen: Mensch, im Nachbarkreis haben die Schulen wieder geöffnet, das wollen wir auch.

Feldner: Wichtig ist die Eigenverantwortung jedes einzelnen im Gesamtkontext. Im letzten Lockdown war die Disziplin größer.

Peichl: Wenn alle das Ziel der 0 im Blick haben, motiviert das: Wenn ich beispielsweise sehe, dass in Australien 60.000 Leute ein Fußballspiel im Stadion besuchen, ärgert es mich, dass wir in Deutschland noch längst nicht so weit sind.

An Appellen zur Eigenverantwortung und zum Durchhalten mangelt es nicht. Man hört sie jeden Abend in der Tagesschau.

Rosert: Das langfristige Ziel wurde aber nie vermittelt. Für einige fehlt daher der Grund, sich an die Maßnahmen zu halten.

Feldner: Die bislang ergriffenen politischen Maßnahmen gehen von der Vorstellung aus, die Pandemie verlaufe linear. Wenn wir die 50 erreicht haben, geht es nicht wieder hoch. In Wahrheit entwickelt sich die Pandemie dynamisch.

Halten Sie das Ziel einer Null-Inzidenz für motivierend? Würden nicht viele sagen: Das schaffen wir sowieso nicht. Dann wäre es demotivierend.

Feldner: Dann ändern wir das Ziel auf: Wir wollen wieder ins Fußballstadion. 

Andreas Peichl / privat

Peichl: Es muss richtig kommuniziert werden. Aber andere Länder zeigen, dass es funktioniert. Das aktuelle Hin und Her von Lockdown und Öffnung ist viel schlechter. Diese Unsicherheit führt auch dazu, dass Unternehmen nicht investieren.

Beier: Der Raum, sich nicht an die Maßnahmen zu halten, ist beim Ziel 50 viel größer. Da denkt der einzelne: Da kann ich ja auch eine Ausnahme machen.

Rosert: Die 0 heißt nicht, dass es gar keine Fälle mehr gibt, sondern dass über bestimmte Zeiträume keine lokalen Übertragungen stattfinden. Wenn es dann zu einzelnen Fällen kommt, die importiert werden, sollen Quarantäne-Maßnahmen die Ausbreitung verhindern.

Konkret schärfere Maßnahmen braucht es aber also nicht?

Feldner: Für jeden einzelnen schon. Jeder einzelne muss sich konkret an die Maßnahmen halten. Mich stört der Begriff „Verschärfung“. Er insinuiert, dass ich nicht zu eigenen Entscheidungen in der Lage bin, sondern mich an das Vorgegebene halte. Wirksame Maßnahmen, an die ich mich freiwillig halte, müssen das Ziel sein.

Rosert: Man könnte nachjustieren. So wie aktuell auf andere Masken gesetzt wird. Oder darüber nachzudenken, wie wir in allen geschlossenen Räumen die Standards erhöhen können.

Beier: Wir müssen die Leute mitnehmen, erklären. Mit Verschärfen muss das nichts zu tun haben.

Sie gehen auf Beispiele ein, bei denen „No-Covid“ funktioniert: Australien, Neuseeland und Taiwan. Ist es nicht ein großer Zufall, dass das alles Inseln sind?

Rosert: Sie können gern Vietnam hinzunehmen. Das Land ist keine Insel und hat auch eine Null-Inzidenz geschafft.

Wird dort effektiv getestet?

Beier: Ja, dort wird weiterhin viel und vor allem effektiv getestet.

Rosert: Die Insellage kommt sehr oft als Einwand. Es ist richtig, dass es das einfacher macht, aber macht es das woanders unmöglich? Nein. Epidemiologisch gesehen ist die EU ein Raum.

Sie wollen mit „No-Covid“ „Green Zones“ einrichten, in denen die Null-Inzidenz erreicht ist. Hier können die Leute untereinander wieder frei leben. Wie halten Sie diese Zonen langfristig Covid-frei? Reicht nicht ein Pendler aus dem Ausland und das Virus ist wieder da?

Rosert: Dann konzipiert man die grünen Zonen länderübergreifend. Die Grenzfrage ist eine kritische Frage. Wir haben jetzt die Zeit, uns mit den europäischen Nachbarn abzustimmen, um Grenzschließungen zu vermeiden. Bundeskanzlerin Merkel hat beim letzten EU-Gipfel die richtigen Zeichen gesetzt.

Feldner: Die Grenzfrage ist wichtig, aber nicht die einzige. Mit einem Argument ein so komplexes Geschehen infrage zu stellen, greift zu kurz.

Beier: Für Pendler gibt es bereits Testkonzepte. Bei positiven Tests müssen die Menschen in Quarantäne.

Was ist mit falsch negativen Tests?

Beier: Schnelltests haben einen gewissen Fehlerbereich. Das muss man ins Konzept einpreisen.

Rosert: Das ist eine stochastische Frage. Sie müssen dafür zwei Wahrscheinlichkeiten kombinieren: Dass es zum einen überhaupt einen Infizierten gibt und dass diese Person dazu auch falsch getestet wird. Bei Zonen, die alle nah dran sind, eine Green Zone zu sein, geht die Wahrscheinlichkeit gegen null.

Feldner: Zurzeit erleben wir eine Art Waldbrand. Wenn es aber in einer Green Zone zu einem Fall käme, würde lediglich ein Baum brennen. Den kann die Feuerwehr gezielt löschen. In der Juristerei gibt es den Begriff des „allgemeinen Lebensrisikos“. Weil wir jetzt eine Maßnahme nicht zu 100 Prozent als sicher belegen können, machen wir sie nicht. Das verstehe ich nicht. Es gibt keine 100-prozentige Sicherheit.

Die Fragen stellte Jakob Arnold.

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