Neue Migrationskrise - „Die Signale stehen absolut auf Alarm“ - Teil 1

Die Flüchtlingskrise von 2015 dürfe sich nicht wiederholen, hieß es in den vergangenen Jahren immer wieder. Doch der Migrationsdruck steigt – und im Herbst 2022 wissen Kommunen, Länder und Sicherheitskreise nicht mehr weiter. Was kommt da auf uns zu? Die Titelgeschichte unserer aktuellen Printausgabe.

In den Unterallgäuer Aufnahmeeinrichtungen bereitet man sich derzeit auf den Ansturm vor / Florian Generotzky
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Die eigenen vier Wände sind vier Bauzäune ohne Dach. Im bayerischen Kneipp-Kur­ort Bad Wörishofen steht ein großes graues Viereck mit verdeckten Schaufenstern neben einem Supermarkt. Früher wurden darin Möbel verkauft, das leer stehende Gebäude später zur Flüchtlingsunterkunft umgebaut, danach zum Impfzentrum. Jetzt ist es wieder eine Erstaufnahmeeinrichtung des Landkreises Unterallgäu. 

Mehr als 300 Menschen könnten hier vorübergehend Unterschlupf finden. Derzeit sind es zehn Personen, die in ihren Parzellen wohnen, die für ein bisschen Privatsphäre mit Bauzäunen abgetrennt sind, hier schlafen und warten auf die Zukunft unter einer hohen schwarzen Decke mit Neonleuchten. Wie ein mondloser Nachthimmel schwebt sie starr und drückend über ihren Köpfen. Niemand soll hier lange bleiben. Nur für wenige Wochen, um anschließend verlegt zu werden an einen Ort, der sich auf Dauer besser eignet. 

Eine Halle in Bad Wörishofen

Während Landrat Alex Eder (Freie Wähler Unterallgäu) durch die Räume führt, fallen ihm Anekdoten der vergangenen Monate ein. Eine handelt von einer riesigen Catering-Rechnung für Ukraineflüchtlinge, weil die schlagartig versorgt werden mussten. Eine andere von einer Gruppe Geflüchteter, im eigenen Schicksal vereint, die unbedingt zusammenbleiben wollten. Und noch eine handelt von viel Ärger zwischen Ukrainern und Sinti und Roma, die hier gemeinsam einquartiert waren und ihre Konflikte aus der Heimat plötzlich in einer Halle in Bad Wörishofen austrugen. Schon ein Bobby Car, erzählt Eder, wurde da zum Pulverfass, wenn sich das falsche Kind darauf setzte. 

Seit 2020 ist Eder im Amt. Er sagt über die Erstaufnahmeeinrichtung in Bad Wörishofen: „Schön ist das nicht, und es kann auch eine gewisse Eigendynamik entstehen, die bestimmt alles andere als lustig ist. Aber andererseits: Es ist sicher, warm und trocken, diese Menschen haben etwas im Bauch und erst mal eine Stelle, wo sie schlafen können.“ Ohne die große Lüftung, die immerzu brummt, wäre es an diesem Donnerstagvormittag im Oktober ganz still in der Halle. Die meisten Stockbetten sind noch leer. Doch auf jeder Matratze wartet bereits frisches Bettzeug auf die nächste Seele, die hier vorübergehend stranden wird. Nach der Flucht vieler Ukrainer aus ihrer Heimat könnte es die Ruhe vor dem nächsten Sturm sein. 

„2015 darf sich nicht wiederholen“, hieß es mit Blick auf die Flüchtlingskrise von damals zuletzt immer wieder. Ein Mantra, das die deutsche Bevölkerung nicht als politische Absichtserklärung verstanden haben dürfte, sondern als klares Versprechen, dass es nicht erneut zu einem deutschen Kontrollverlust bei der Migration kommen wird. Doch während die Nächte länger und die Tage kälter werden, spricht einiges dafür, dass sich dieses Versprechen nicht oder nur schwer wird halten lassen. 

Millionen kommen tröpfchenweise

Wir schreiben den Herbst des Jahres 2022, und erneut sind Kommunen, Landkreise, Bundesländer und Sicherheitsbehörden alarmiert. Sollten die derzeitigen Flüchtlingsströme nicht abreißen, könnte einmal mehr das deutsche Asylsystem kollabieren, fürchten sie. Heiko Teggatz, Bundesvorsitzender der Bundespolizeigewerkschaft, sagt gegenüber Cicero: „Wir stecken schon mittendrin in der nächsten Flüchtlingskrise.“ Die Zahlen sprechen für sich. 

In diesem ehemaligen Möbelhaus in Bad Wörishofen (alle Bilder auf dieser Seite) wäre theoretisch Platz für über 300 Menschen

Während in den Jahren 2015 und 2016 rund 1,1 Millionen Flüchtlinge nach Deutschland einreisten, sind es dieses Jahr nach Schätzungen bereits zwischen 1,4 und 1,6 Millionen. Allein mehr als eine Million Ukrainer sind seit dem russischen Überfall im Februar nach Deutschland gekommen. Aber auch der Migrationsdruck aus den Maghreb-Staaten, aus Syrien, dem Irak und Afghanistan nimmt zu. Kriegsvertriebene aus der Ukraine brauchen für einen legalen Aufenthalt keinen Asylantrag zu stellen. Dennoch sind zwischen Januar und September rund 135.000 Erstanträge auf Asyl beim Bundesamt für Migration und Flüchtlinge (BAMF) eingegangen. Eine Steigerung von gut 35 Prozent zum Vorjahr. 

Viele Migranten fallen derweil unter das, was im Beamtensprech „Sekundärmigration“ heißt. In anderen Ländern der Europäischen Union sind sie, so sieht es das Dublin-­Verfahren vor, bereits als Asylbewerber registriert, sollten auch dort bleiben, machen sich aber dennoch auf den Weg nach Deutschland. Der größte Unterschied zur Flüchtlingskrise ab 2015 ist dieser: Es stehen nicht Tausende Flüchtlinge aus dem Süden gleichzeitig an den Grenzen und bitten um Einlass. Stattdessen kommen die Menschen „Tröpfchen für Tröpfchen“, wie es Polizeigewerkschafter Teggatz formuliert. Aber sie kommen. 

Das – dieses Langsame, aber Stetige – dürfte der Grund dafür sein, warum es in der Medienberichterstattung – abgesehen von den Kriegsvertriebenen aus der Ukraine – noch halbwegs ruhig ist bei dem Thema. Der Grund, warum viele Menschen in Deutschland noch kaum Notiz vom neuen Migrationsdruck nehmen. Die Asylunterkünfte laufen trotzdem voll, weshalb in manchen Kommunen bereits Zelte aufgestellt werden, damit die Ankommenden wenigstens im Trockenen sitzen. Und immer emsiger wird nun überall in der Bundesrepublik nach neuen Unterkünften gesucht.

Polizeilicher Shuttle-Service

Mit Blick auf die Kriegsvertriebenen aus der Ukraine, die in Deutschland gestrandet sind, war und ist die Hilfsbereitschaft der Bevölkerung immer noch groß, was sich etwa daran zeigt, dass viele deutsche Haushalte Ukrainer aufgenommen haben und sie weiterhin beherbergen. Ein Ende des Ukrainekriegs ist nicht in Sicht, im Gegenteil ist der Konflikt mit den jüngsten Raketenangriffen auf ukrainische Städte erneut eskaliert. Auch Kiew wurde wieder zum Ziel, obwohl dort zuletzt ein halbwegs normales Leben möglich war. 

Zur Wahrheit gehört aber auch, dass die finanziellen Anreize, explizit nach Deutschland zu gehen, groß sind. Kriegsvertriebene aus der Ukraine bekommen in der Bundesrepublik seit Juni sofortigen Zugriff auf Leistungen nach dem SGB2, die zu den höchsten Sozialleistungen der Welt zählen. Als CDU-Chef Friedrich Merz deshalb vor einem „Sozialtourismus“ aus der Ukraine warnte, war die Aufregung dennoch groß. Über die Wortwahl mag sich streiten lassen, aber sicherlich nicht über die Magnetwirkung des Geldes. Außerdem sollen sich bereits zahlreiche Trittbrettfahrer unter die Ukrainer gemischt haben. Menschen, die laut Polizeigewerkschafter Teggatz behaupten, in der Ukraine zu studieren, aber „kein Wort Englisch oder Russisch sprechen, sondern nur ihre Heimatsprache“. 

In solchen Fällen sind den Beamten an der Grenze zu Tschechien aber die Hände gebunden. Anders als an der Grenze zu Österreich hat die Bundespolizei dort, Stand Mitte Oktober, keine Befugnisse einer Grenzbehörde. Die Beamten können kontrollieren, unerlaubte Einreisen feststellen und Strafverfahren einleiten, zurückweisen dürfen sie die Menschen aber nicht. Seit Monaten fungiert die Bundespolizei an der deutsch-tschechischen Grenze deshalb eher als Shuttle-­Service in Uniform, der Flüchtlinge in die Zuständigkeit des BAMF übergibt. Das muss dann jeden Fall einzeln prüfen, und sei er noch so offensichtlich. Und irgendwo müssen diese Menschen in der Zwischenzeit untergebracht werden. 

Landrat Alex Eder musste zuletzt 1000 Flüchtlinge im
Landkreis Unterallgäu unterbringen

Déjà-vu im Unterallgäu

Wie viele Flüchtlinge welcher Landkreis aktuell aufnehmen muss, ergibt sich aus dem Königsteiner Schlüssel, der sich zu zwei Dritteln aus dem Steueraufkommen und zu einem Drittel aus der Bevölkerungszahl zusammensetzt. Spricht man mit jenen, die sich dann vor Ort kümmern müssen, scheint die konkrete Berechnung aber nicht sonderlich transparent zu sein. Überdies gibt es auf der nächsten Ebene – bei der Verteilung auf die Städte und Dörfer – keinen solchen Schlüssel. Die Landratsämter sind deshalb auf die Kooperationswilligkeit der Kommunen angewiesen. Manche ziehen mit, andere nicht. 

Im Unterallgäu müssen derzeit auf Weisung der bayerischen Landesregierung insgesamt 1000 Flüchtlinge untergebracht werden. Je nach weiterem Flüchtlingsaufkommen könnte die Zahl aber morgen schon deutlich höher sein. Dabei wähnt sich der Landkreis bereits jetzt am Limit. Ein Déjà-vu erleben deshalb Tobias Ritschel, Leiter der Ausländerbehörde des Landkreises Unterallgäu, und Doris Back, Abteilungsleiterin öffentliche Sicherheit und Ordnung. Auch sie sind zum Termin mit Cicero und Landrat Eder gekommen. Back warnt: „In den Unterkünften wird es sehr eng.“ Und Ritschel sagt: „Eigentlich erleben wir dieselbe Situation wie 2015 und 2016.“ 

Die Herausforderungen, denen das Unterallgäu heute gegenübersteht, decken sich mit jenen vieler anderer Landkreise: Der Migrationsdruck hat nach Ausbruch der Corona-Pandemie deutlich abgenommen. In der Folge sind Mietverträge ausgelaufen, manche Gebäude wurden abgerissen oder werden heute anderweitig genutzt. Denn Flüchtlingsheime vorzuhalten, ist teuer und aufwendig – und kaum jemand hat im vergangenen Jahr den russischen Überfall kommen sehen.

Die ideale Unterkunft ist schwer zu finden

Aber es gibt auch Hausbesitzer, die damals, ab dem Jahr 2015, noch halfen und sich heute verweigern, weil ihre Immobilie durch Flüchtlinge verunstaltet wurde. Das ist nicht die Regel, aber es kommt vor. Gebäude für die Erstaufnahme zu mieten, ist da fast noch das kleinere Problem. Noch schwieriger ist es, Unterkünfte zu finden, in denen Flüchtlinge für länger bleiben können. Etwa, bis ihr Asylverfahren abgeschlossen ist. 

Eine solche Unterkunft steht im Landkreis Unterallgäu in Trunkelsberg, gut 30 Kilometer von der Erstaufnahmehalle in Bad Wörishofen entfernt. Für Eder, Ritschel und Back ist sie im Prinzip der Idealfall. Der weiße Modulbau mit ein bisschen roter Farbe sieht auf den ersten Blick aus wie ein gewöhnlicher Sozialbau. Die Unterkunft steht direkt neben dem örtlichen Sportplatz. Einmal über die Straße liegt ein Spielplatz unter schönen großen Bäumen. Die Erwachsenen und Kinder leben hier nicht isoliert von der heimischen Bevölkerung, was nicht nur bei der Integration hilft, sondern auch Ängste vor den Fremden nimmt. 

Illegale Einwanderung nimmt zu

Hier würden die drei vom Landkreis deshalb gerne sofort einige der Menschen aus den Erstaufnahmeeinrichtungen unterbringen. Doch Wohnraum ist auch im Unterallgäu knapp, und Flüchtlinge sind als Mieter eher zweite oder dritte Wahl. In der Folge könnten viele anerkannte Asylbewerber zwar ausziehen aus derlei Einrichtungen, finden aber keine Wohnung. Im Beamtendeutsch heißen sie „Fehlbeleger“, weil sie solche Bauten für Neuankömmlinge blockieren. Anders formuliert: Hinten rücken immer mehr Menschen nach, während es sich vorne längst staut. Landrat Eder sagt: „Die Signale stehen absolut auf Alarm.“ 

Der Hauptstrom an Migranten kommt derzeit aus Richtung der Türkei. Der türkische Präsident Recep Tayyip Erdogan hat wegen zunehmender gesellschaftlicher Spannungen zwischen Türken und Flüchtlingen in seinem Land angekündigt, eine Million Syrer in ihre Heimat rückführen zu wollen. Zudem sind im nächsten Jahr wichtige Wahlen in der Türkei. Viele Menschen kommen deshalb nun über die türkisch-bulgarische oder die griechisch-türkische Landesgrenze, um von dort weiter gen Westen zu ziehen.

Illegale Einwanderung, zu der auch Sekundärmigration zählt, sowie Duldungen bilden die Achillesferse der deutschen Asylpolitik. Eine groteske Gemengelage entsteht: Hunderttausende Menschen, die nicht in Deutschland sein dürften, sind es trotzdem – und die Bundesrepublik bekommt sie nicht mehr los. Etwa, weil ein Oberverwaltungsgericht entscheidet, dass ein Mensch nicht in sein Heimatland abgeschoben werden darf, weil dort Krieg herrscht. Dabei ist Krieg kein Asylgrund. Ebenso wenig wie eine wirtschaftliche Notlage. Und insbesondere Flüchtlinge aus afrikanischen Staaten haben häufig keine Papiere. 

Lesen Sie morgen Teil 2.

Die Fotos dieses Textes stammen von Florian Generotzky.

Dieser Text stammt aus der November-Ausgabe des Cicero, die Sie jetzt am Kiosk oder direkt bei uns kaufen können.

 

 

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