„Neue Grundsicherung“ statt Bürgergeld - Die CDU schwimmt sich in der Sozialpolitik frei

Die CDU hat erkannt: Solidarität in Zeiten des Arbeitskräftemangels erfordert nicht mehr, sondern weniger Umverteilung. SPD und Grüne geben sich empört. Willkommen im Zentrum des kommenden Bundestagswahlkampfs.

CDU-Chef Friedrich Merz und CDU-Generalsekretär Carsten Linnemann / dpa
Anzeige

Autoreninfo

Ferdinand Knauß ist Cicero-Redakteur. Sein Buch „Merkel am Ende. Warum die Methode Angela Merkels nicht mehr in unsere Zeit passt“ ist 2018 im FinanzBuch Verlag erschienen.

 

So erreichen Sie Ferdinand Knauß:

Anzeige

Die CDU hat nun also getan, was von ihr als Oppositionspartei schon längst zu erwarten war und auch breit angekündigt wurde. Sie präsentiert ein Alternativ-Programm für eine der zentralen Taten der Ampelkoalition. Statt des „Bürgergeldes“ soll es also, wenn die Unionsparteien dereinst wieder eine Bundesregierung anführen, eine „Neue Grundsicherung“ geben. Wie radikal der Widerspruch gegen die Ampel und ihre expansive Umverteilungspolitik ist, machte CDU-Generalsekretär Carsten Linnemann schon am Sonntag im ZDF-Interview deutlich, als er sagte, es gehe darum, „das komplette System vom Kopf auf die Füße zu stellen“.

Die deutsche Politik der Gegenwart trägt teilweise absurde Züge, vor allem in den Begrifflichkeiten. In der klassischen Bundesrepublik hätte man davon ausgehen können, dass in der politischen Kommunikation der Begriff des „Bürgers“ eher von den als „bürgerlich“ bekannten Parteien, also von CDU/CSU und von der Bürgerrechte-Partei FDP, verwendet worden wäre. Dass nun aber ausgerechnet regierende Sozialdemokraten die fortgesetzte Expansion des umverteilenden Sozialstaates mit dem PR-Begriff „Bürgergeld“ versehen haben, kann man durchaus als verwirrend bezeichnen. 

Und das wirft die Union der Regierung auch zu recht vor. „Der Name ,Bürgergeld‘ führt in die Irre und ist Ausdruck des politischen Konzepts eines bedingungslosen Grundeinkommens“, heißt es in einem Papier der CDU, das schon vor der offiziellen Pressekonferenz bekannt wurde. Und auch der Vorsitzende des CDU-Arbeitnehmerflügels (CDA), Karl-Josef Laumann, glaubt, „dass auch SPD und Grüne einsehen müssen, dass das jetzige Bürgergeld vom Namen her falsch ist, falsche Anreize setzt“. Allerdings ist die Benennung der Union für ihr alternatives Gegenkonzept spiegelverkehrt eine sprachliche Anleihe bei der SPD, allerdings der von Saskia Esken und Lars Klingbeil vergessen gemachten SPD der Schröder-Ära: „Agenda 2030“ soll das CDU-Konzept nämlich heißen, das Generalsekretär Carsten Linnemann am Montag vorstellte. 

Die CDU will Sanktionen schneller, einfacher und unbürokratischer durchsetzen. Wenn ein arbeitsfähiger Grundsicherungsempfänger ohne Grund eine zumutbare Arbeit ablehnt, solle künftig davon ausgegangen werden, dass er nicht bedürftig ist. „Wir werden ein gerechtes System schaffen, indem wir vor allen Dingen für die Menschen da sind, die der Hilfe bedürfen“, sagte Generalsekretär Carsten Linnemann nach Sitzungen der CDU-Spitzengremien am Montag in Berlin. „Auf der anderen Seite werden Menschen, die arbeiten können, auch arbeiten gehen müssen, ansonsten entfallen Sozialleistungen.“ Dies sei gesunder Menschenverstand und „CDU-pur“. 
 

Mehr zum Thema:


Nach dem CDU-Papier soll jeder, der zu Terminen bei der Arbeitsagentur ohne sachlichen Grund mehr als einmal nicht erscheint, zunächst keine Leistungen mehr bekommen. „Diese einbehaltenen Leistungen sollen erst dann ausgezahlt werden, wenn der Gesprächsfaden wieder aufgenommen wird“, fordert die Union. Karenzzeiten zur Schonung von Privatvermögen sollen abgeschafft und die Grenzen für Schonvermögen gesenkt werden. 

Union adressiert diejenigen, die Solidarität leisten

„Ein Sozialstaat, der die Leute nicht integriert in Arbeit, ist ein schlechter Sozialstaat“, sagte Laumann.  Beim Sozialstaat gehörten Solidarität und Eigenverantwortung zusammen. Die Union kehrt – das ist der eigentliche Unterschied zur SPD – die Betrachtungsperspektive um. Die Union adressiert diejenigen, die Solidarität leisten. Laumann: „Natürlich dürfen diejenigen, die das System finanzieren, auch erwarten, dass Menschen, die in diesem System vorübergehend leben müssen, es auch wirklich nur vorübergehend tun und selber so viel beitragen wie es geht zum eigenen Lebensunterhalt.“

Diese Wendung ist – um eine Vokabel zu gebrauchen, mit der sonst vor allem linke Politiker ihre Haltungen kennzeichnen – zeitgemäß. Denn die Zeiten sind eben nicht mehr geprägt von Arbeitsplatzmangel. Der alte Solidaritätsbegriff sozialdemokratischer Sozialpolitik ist immer noch geprägt vom historischen Trauma der Massenarbeitslosigkeit. Aber heute steht niemand mehr mit einem Plakat „Suche Arbeit jeder Art“ vor der Brust auf der Straße. Im Gegenteil: Heute hängen Arbeitsangebote an jeder Plakatwand und ertönen aus jeder Werbepause im Radio. Arbeitgeber schmeicheln den potentiellen Arbeitnehmern. Doch die haben eben im gering bezahlen Segment de facto die Wahl zwischen allenfalls etwas mehr Geld mit Arbeit und höchstens etwas weniger Bürgergeld. 

Deutschland leidet an einem Arbeitswilligenmangel

Deutschland leidet nicht nur an einem Fachkräftemangel, sondern zunehmend auch an einem Arbeitswilligenmangel. Und letzterer wird vom Bürgergeld noch verstärkt. Das führt zu der absurden Lage, dass im Namen der vermeintlichen Solidarität auch Kassiererinnen und Briefboten unter anderem deswegen so hohe Abgaben und Steuern auf ihre bescheidenen Einkommen entrichten müssen, weil damit auch Menschen alimentiert werden, die auf ebensolche Tätigkeiten wenig Lust verspüren, da sie vom Umverteilungsapparat kaum weniger bekommen können, ohne zu arbeiten. 

Wenn eine Sozialstaatsquote von deutlich über 30 Prozent – Tendenz steigend dank Bürgergeld – einhergeht mit einem allerorten sicht- und spürbaren „Fachkräftemangel“, der längst nicht mehr nur hochqualifizierte Spezialisten betrifft, sondern auch von der Supermarktkasse bis zur Klempnerwerkstatt reicht, dann ist eben offenkundig, dass ein solches Ausmaß der Umverteilung bei teilweise kaum spürbarer finanzieller Besserstellung der Arbeitenden gegenüber den Bürgergeldempfängern wenig bis nichts mit Solidarität zu tun hat. Die CDU und gerade ihr Arbeitnehmerflügel haben offenbar verstanden: Gerade das Prinzip der Solidarität erfordert heute angesichts dieser soziodemografischen Radikalverschiebung eine Beschneidung des Umverteilungsstaats, damit arbeitende Geringverdiener arbeitsfähige aber arbeitsunwillige Nichtarbeitende nicht finanzieren müssen. 

Transferleistungen für „Totalverweigerer“

In dem am Montag veröffentlichten Papier heißt es: „Lehnt ein arbeitsfähiger Grundsicherungsempfänger ohne sachlichen Grund eine ihm zumutbare Arbeit ab (,Totalverweigerer‘), soll zukünftig davon ausgegangen werden, dass er nicht bedürftig ist.“ Das klingt nach der kompletten Einstellung sämtlicher Transferleistungen für solche „Totalverweigerer“. Ob die Union das tatsächlich mit eiserner Konsequenz umsetzt, sollte man aber vielleicht nicht unbedingt erwarten. Das verhält sich ähnlich mit den Forderungen nach konsequenter Abschiebung abgelehnter Asylbewerber. Den Staat, der seit Jahrzehnten zu einer Milchkuh umfunktioniert wurde, nun wieder zum harten Leviathan umzuwandeln, ist ein schwieriges Geschäft, das Politikern im konkreten Fall wenig Lob und viel Ärger einbringt.

Die Grünen jedenfalls bemühen sich schon jetzt, Linnemanns Grundsicherungskonzept als erbarmungslose, unmenschliche Härte darzustellen. Deren Sozialpolitiker Andreas Audretsch twitterte: „Die CDU-#Grundsicherung ist eine Bedrohung für Familien, vor allem für Selbstständige, für die Altersvorsorge, das Häuschen. Und sie bedeutet bittere Armut für Kinder.“ 

Wie er darauf kommt, dass ausgerechnet Selbstständige ein Interesse am jetzigen Bürgergeld haben sollen, bleibt schleierhaft. Audretsch malt tatsächlich das Horrorbild von Kindern, die „hungrig“ in die Schule gehen müssten und „aller Chancen beraubt“ wären, weil Merz und Linnemann „das Lebensnotwendige für Menschen, Familien, Kinder in Frage stellen“ würden. Das ist eine groteske, unsachliche Überzeichnung. Man könnte es auch Sozialstaatspopulismus nennen.

Das Signal, das von solchen überzogenen Reaktionen ausgeht, ist eindeutig: Mit den Grünen als potentiellem Koalitionspartner wird eine solche „Neue Grundsicherung“ nicht zu machen sein. Und mit der SPD natürlich auch nicht. Beide sind eben offenkundig aus ihren Erfahrungen in der Merkel-Ära nicht gewöhnt, mit CDU-Konzepten konfrontiert zu werden, die den eigenen wirklich diametral widersprechen. Mit diesem neuen Konzept beweisen CDU-Chef Friedrich Merz und sein Generalsekretär Carsten Linnemann insofern tatsächlich einen grundlegenden Wandel ihrer Partei. Sie haben die Sozialpolitik als ein großes Schlachtfeld für den nächsten Bundestagswahlkampf bereitet.  

Anzeige