Nationaler Bildungsbericht - Viel Geld für ein paar Binsen

Heute wurde in der Bundespressekonferenz der „Nationale Bildungsbericht“ vorgestellt. Statt Zeugnis von der Bildungssituation in Deutschland abzulegen, verzichtet der Bericht auf Bewertungen und lässt damit viel Raum für politische Interpretation. Die Zurückhaltung kommt nicht von ungefähr.

Viel Lärm um nichts: Präsidentin der Kultusministerkonferenz Karin Prien (CDU) und Bildungsministerin Bettina Stark-Watzinger (FDP) / dpa
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Mathias Brodkorb ist Cicero-Autor und war Kultus- und Finanzminister des Landes Mecklenburg-Vorpommern. Er gehört der SPD an.

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Alle zwei Jahre dasselbe Spiel: Der amtierende Bundesbildungsminister und der Präsident der Kultusministerkonferenz (KMK) stellen den „Nationalen Bildungsbericht“ vor. So geschehen am heutigen Tag. Diesmal mit dabei: Bettina Stark-Watzinger (FDP) und Karin Prien (CDU). „Nationaler Bildungsbericht“, das klingt bedeutungsschwer. So, als würde Rechenschaft abgelegt über den Zustand des deutschen Bildungssystems und als würden zumindest theoretisch strategische Pflöcke eingeschlagen für dessen Zukunftsweg. Und tatsächlich haben unzählige Bildungswissenschaftler und Statistiker mehr als 400 Seiten zu Papier gebracht. Der Darstellungsdrang der Autoren überstieg dabei wieder einmal jenes Maß, das man dem Publikum zumuten zu können glaubte. Zahlreiche Datensätze und Diagramme sind in der voluminösen Printfassung daher nicht einmal enthalten, sondern ins www ausgelagert.

Undurchsichtig und Uneindeutig

Der Bericht soll vor allem Politikern, Journalisten, Wissenschaftlern und Interessierten einen Überblick über den Zustand des deutschen Bildungssystems geben. Eines darf man indes mit Gewissheit annehmen: Man wird in Deutschland am Ende so gut wie keinen Politiker oder Journalisten finden, der sich den Gesamttext zu Gemüte führt. Und das im Grunde mit Recht.

Das liegt nicht nur an seinem Umfang, sondern auch an seiner Machart. Der Leser wird nicht nur von am Ende tausenden Einzelstatistiken erschlagen, sondern die Bildungsberichte beanspruchen ausdrücklich nur, Statistiken zusammen getragen zu tragen. Mehr nicht!

Im ersten „Nationalen Bildungsbericht“ aus dem Jahre 2006 haben die Verantwortlichen das auch noch ganz ausdrücklich zugegeben: „Der Bericht ist eine datengestützte Analyse von Bildung in Deutschland; er verzichtet auf Wertungen und Empfehlungen.“ Das ist deshalb bemerkenswert, weil sich der Bericht damit im Grunde zur politischen Bedeutungslosigkeit degradiert.  

Wenig erhellende Erkenntnisse

Noch bemerkenswerter ist nur, wie die Präsidentin der KMK den Bericht heute offiziell bewertet hat: „Der Bericht zeigt sehr klar, dass die Kultusministerien in Deutschland den richtigen Weg eingeschlagen haben.“ Allerdings kann das der Bericht definitionsgemäß gar nicht zeigen. Dazu müsste er ja eine Bewertung enthalten. Was er nicht tut und ja auch gar nicht darf. Kein Wunder daher, dass die Bundesbildungsministerin ein ganz anderes Fazit zieht. „Der Bildungsbericht zeigt einmal mehr: Unser Bildungssystem muss besser werden.“ Allerdings ist auch das ihre eigene Interpretation.
 
Wenn die haute volée der empirischen Bildungswissenschaft darauf verzichtet, die Entwicklung des Bildungssystems zu bewerten und der Politik Empfehlungen zu geben: Wozu gibt es den Bericht dann eigentlich – und wozu empirische Bildungswissenschaft? Die Autoren begnügen sich damit am Ende mit der Rolle bloßer empirischer Bildungshistoriker. Für diese Aufgabe, also das Zusammentragen von Zahlen aus der Vergangenheit, hätten indes ein paar Statistiker und ein guter Grafiker gereicht.

Und so ist man bei dem Bericht Kapitel um Kapitel mit ungefähr folgenden, rückblickenden Weisheiten konfrontiert: Die Zahl der Kinder, die einen Kindergarten besuchen, ist in den letzten Jahren gestiegen. Das liegt daran, dass mehr Kinder geboren wurden und der Staat daraufhin die Kapazitäten ausgebaut hat. Oder: In der Pandemie wurden Schulen und Hochschulen im Lockdown geschlossen. Und das hat die jungen Leute nach einschlägigen Umfragen frustriert und wahrscheinlich auch ihre Lernentwicklung beeinträchtigt. Oder: Der Umgang mit Corona in den Schulen war von Land zu Land und Region zu Region, häufig auch von Schule zu Schule sehr, sehr unterschiedlich. Potzblitz! 

Erinnerungen an PISA

Dabei hat die Zurückhaltung in Sachen eigener Meinung nicht nur einen Grund, sondern auch eine Geschichte. Es war das Jahr 2000, als ein internationales Konsortium die berühmte PISA-Studie veröffentlichte. Die Ergebnisse waren für Deutschland ernüchternd: bloß Mittelmaß, eigentlich noch etwas schlechter.

Seinerzeit allerdings gab es nicht nur die internationale PISA-Studie, sondern auch PISA-E. Und diese Teilstudie beinhaltete einen repräsentativen Vergleich der deutschen Bundesländer. Also hatte die KMK nicht nur die Debatte am Hacken, warum das Land der Dichter und Denker offenbar keine besonders guten Schüler mehr hervorbringt. Hinzu kam der Umstand, dass der oft lobgepriesene Bildungsföderalismus das erste Mal eine Studie in der Hand hielt, um einzuhalten, was er seit fünf Jahrzehnten ganz unberechtigt versprochen hatte: nämlich einen Wettbewerb um die besten Konzepte zu ermöglichen. Um in diesen überhaupt sinnvoll eintreten zu können, braucht es ja einen übergreifenden Vergleichsmaßstab. Und das war PISA-E.

Aber dieser Vergleichsmaßstab hatte auch so seine Kollateralschäden: Plötzlich nämlich war wissenschaftlich bewiesen, was der Volksmund ohnehin schon seit Jahrzehnten wusste: dass Bayern und Baden-Württemberg vergleichsweise leistungsstarke Schulsysteme haben, während vor allem Bremen und Berlin um ein bis zwei Schuljahre zurück hängen.

Symbolpolitik, erwachsen aus einer Kompromisslösung

Weil das für einige Bildungsminister eine ziemlich unangenehme Angelegenheit war, gab es in den zurückliegenden zwei Jahrzehnten keine zweite PISA-E mehr. Denn in der KMK gilt das Prinzip der Einstimmigkeit. Es herrscht eine ähnliche Blockadesituation wie in der Europäischen Union. Also einigte man sich auf den kleinsten gemeinsamen Nenner.

Um den Widerspruch der empirischen Bildungswissenschaft möglichst gering zu halten und gleichzeitig der Öffentlichkeit zu vermitteln, man nähme die PISA-Ergebnisse furchtbar ernst, wurden allerlei Alternativformate der Testung erfunden. Die sind aber entweder nicht repräsentativ (so dass man die Bundesländer nicht miteinander vergleichen kann) oder deren Ergebnisse werden häufig geheim gehalten. Und in diesen großen Zusammenhang gehört auch die Entstehungsgeschichte des „Nationalen Bildungsberichts“.

Im Jahr 2004 gab die KMK dem Drängen der Bildungswissenschaftler nach, legte aber mit einem Beschluss nach dem Motto „Wer bezahlt, bestimmt!“ die Marschroute für alle Nationalen Bildungsberichte fest: „Die Besonderheit des Berichts liegt in einer problemorientierten Darstellung auf der Grundlage von statistisch gesicherten Kennziffern (Indikatoren); auf Wertungen und Empfehlungen wird daher verzichtet.“ 

Verstecken hinter vermeintlicher Objektivität

Mit anderen Worten: Die KMK verschob etwas den Duktus der Wissenschaftler durch die Einfügung des Wortes „daher“. Die Behauptung ist also tatsächlich: Weil der Bericht auf empirischen Daten basiert, ist er einer kritischen Stellungnahme ebenso unzugänglich wie wissenschaftlich begründeten Veränderungsvorschlägen. Bisher hatte man ja eigentlich gedacht, die empirische Bildungswissenschaft würde genau das für sich in Anspruch nehmen und für den Qualitätssprung ihres Ansatzes halten: dass ihre Analysen und Änderungsvorschläge nicht gefühlt werden oder aus dem Bauch kommen, sondern auf exakten Daten und damit der Realität beruhen.

Wie sehr die Autoren des Berichtes die politische Vorgabe einhalten, den Ministern keine Schwierigkeiten durch transparenten Vergleich zu bereiten, wird nicht zuletzt im Kapitel über frühkindliche Bildung deutlich. Eine Autorengruppe hat die Qualität der frühkindlichen Bildungspläne der Länder anhand der Frage untersucht, wer welche Wissensgebiete verbindlich vorschreibt. Das wäre gut zu wissen, wenn man das Bildungsniveau der Länder beurteilen wollte. Aber Genaueres verraten die Autoren dem Leser nicht: Stattdessen werden je Wissensgebiet die anonymen Ländergruppen „alle, manche, keiner“ gebildet, um die konkrete Realität dahinter verschwinden zu lassen. 

Eine halbe Million Euro für dünne Ergebnisse 

Jeder Nationale Bildungsbericht hat außerdem ein Schwerpunktthema. In diesem Jahr: Das Personal in den Bildungseinrichtungen. Und Sie werden die Botschaft wohl schon ahnen: Es könnte knapp werden mit dem Lehrpersonal in den nächsten Jahren. Der Grund: der demografische Wandel. Wer hätte das gedacht! Die KMK hat übrigens in ihrer Mittelfristigen Finanzplanung für die „Bildungsberichterstattung“ knapp eine halbe Million Euro eingestellt. Aber das sind nicht alle Kosten, die mit dem Bericht verbunden sind. Hinzu kommen Detailstudien und vor allem indirekte Kosten, die durch die Einbindung zahlloser Wissenschaftler und Statistiker entstehen. Der Gesamtbetrag je Bericht dürfte letztlich in die Millionen gehen.

Auf die Frage übrigens, wieviel ein Bericht, der weder Bewertungen noch Vorschläge enthält und gleichwohl die Bildungspolitik voranbringen soll, eigentlich so kostet, konnte das im Konsortium führende Leibniz-Institut für Bildungsforschung (DIPF) nicht zeitnah antworten.

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