Mitgliederbefragung für CDU-Vorsitz - Notwendige Medizin, aber kein Allheilmittel

Die CDU-Kreisvorsitzenden haben sich zur Kür des neuen Parteichefs für eine Mitgliederbefragung ausgesprochen. Dieses Verfahren war nach der Kanzlerkandidatur Armin Laschets unausweichlich, denn der Frust an der Basis ist enorm. Die eigentliche Frage aber lautet: Wer ist der Aufgabe gewachsen, die Christdemokraten zu retten?

Noch nicht auf Halbmast: CDU-Fahne vor dem Adenauer-Haus in Berlin / dpa
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Alexander Marguier ist Chefredakteur von Cicero.

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Nach mehr als anderthalb Jahrzehnten mit Angela Merkel im Kanzleramt und zwei erfolglosen Versuchen, die Partei mit einer neuen Führungspersönlichkeit in die Zukunft zu führen, muss die CDU wieder laufen lernen. Diese Erkenntnis ist zwar nicht neu. Aber am Ende hat es dann eben doch einer verlorenen Bundestagswahl bedurft, um den Reset-Knopf zu drücken. Nach der Kreisvorsitzenden-Konferenz von diesem Samstag steht also fest: Es soll eine Mitgliederbefragung über die künftige Vorsitzende oder den künftigen Vorsitzenden der deutschen Christdemokraten geben. Ein bundesweit einheitliches Verfahren dazu wird nun „entwickelt“, wie es heißt. Die „ganz überwiegende Mehrheit“ der 325 Kreisvorsitzenden hatte sich am Samstag in Berlin für dieses Verfahren ausgesprochen.

Desillusioniert sei die Partei, habe es vonseiten der Konferenzteilnehmer geheißen – wie übrigens das Konrad-Adenauer-Haus selbst freimütig mitteilt: An Geschlossenheit habe es gemangelt. Man hätte dem Kanzlerkandidaten bei den vielen Angriffen im Internet „deutlicher zur Seite stehen“ müssen. Eine Wahl zu verlieren sei für die CDU „wie ein Trauma“, das es zu überwinden gelte. „Wir waren mutlos und gleichzeitig ideenlos“, brachte es demnach ein Kreisvorsitzender auf den Punkt. „Viele der Aussagen der rund 50 Rednerinnen und Redner spiegelten die Stimmung an der Basis wider. Einige stellten Umfrageergebnisse aus ihren Kreisverbänden vor, andere das ihnen aufgetragene Votum. Viele machten auch Vorschläge, wie die CDU sich inhaltlich und organisatorisch neu aufstellen sollte“, so das offizielle CDU-Statement. So viel Selbstkritik, so viel Ehrlichkeit hat es lange nicht gegeben bei der Union. Was deutlich macht, wie bitter die Lage ist.

Entfremdete Basis

Die Entfremdung der Basis, der einfachen Mitglieder und kleinen Funktionäre also, von der Parteielite war ein langer und schleichender Prozess, der zum Großteil ein Ausfluss des Regierungsstils der nun scheidenden Bundeskanzlerin und langjährigen CDU-Vorsitzenden Merkel war. Für die Partei hat sie sich letztlich nie wirklich interessiert, sondern lediglich für deren funktionierende Strukturen, die dem Machterwerb und Machterhalt zu dienen hatten. Wahlniederlagen wurden stets kleingeredet oder beschwiegen, Analysen für den schleichenden Niedergang der Christdemokraten fanden hinter fest verschlossenen Türen statt. Wenn überhaupt. 

Kein Wunder also, dass viele an der Parteibasis schon lange frustriert waren und allenfalls noch stillhielten, weil es eben die Kanzlerschaft als vermeintlichen Preis dafür gab. Ein anderer Teil der Partei war wegen Merkels Politikstil der größtmöglichen Beliebigkeit und des geradezu besessenen Bloß-Nicht-Anecken-Wollens ohnehin schon vor Jahren abgewandert: zu den Nichtwählern, zur AfD und wer weiß wohin sonst noch alles.

Der Wahltag am 26. September war dann gewissermaßen Ground Zero für die CDU: ein historisch schlechtes, besser gesagt ein desaströses Wahlergebnis mit einem Kandidaten, den die Parteigremien gegen den Willen der Basis durchgesetzt hatten. Wer während des Bundestagswahlkampfs mit CDU-Leuten aus den Kreisverbänden sprach, hatte den Eindruck, die organisierte Christdemokratie wäre praktisch kollabiert. Dass Armin Laschet der falsche Frontmann war, galt als Binsenweisheit. Der eigentliche Frust entlud sich aber nicht wegen des Aacheners, der nach überwiegender Meinung trotz seiner Fehltritte (Lachen während der Flut etc.) einen mindestens passablen Bundeskanzler abgegeben hätte. Es war schlich das Ausleseverfahren, mit dem die einfachen Unionsmitglieder vor den Kopf gestoßen worden waren: Die intransparente und mehr als holprige Kür Laschets durch einige CDU-Granden – noch dazu gegen die verbreitete Anti-Armin-Stimmung in der eigenen Partei – hatte das Fass zum Überlaufen gebracht. Mit dem bekannten Ergebnis einer verlorenen Wahl.

„Letzte Volkspartei Europas“?

Es war also schon vor diesem Samstag völlig klar, dass die CDU nicht einfach so weitermachen kann. Eine Partei, die sich bis vor kurzem noch stolz als „letzte Volkspartei Europas“ bezeichnet hat, aber nicht einmal auf ihre eigene Basis Rücksicht nimmt, dürfte tatsächlich wenig Aussichten auf eine gedeihliche Zukunft haben. Natürlich gilt auch innerhalb von Parteien das Prinzip der Repräsentation, allein schon um die Arbeitsfähigkeit und die politische Schlagkraft zu gewährleisten. Aber das setzt eben voraus, dass die Repräsentanten nicht immer wieder und beinahe schon systematisch gegen Meinungen und Stimmungen derer handeln, die sie vertreten sollen. Deswegen wird sich der Delegiertenparteitag, der trotz Mitgliederbefragung das letzte Wort über den neuen Vorsitz hat, auch an das Votum der Basis halten müssen. Wohl oder (aus Sicht einiger Funktionäre) eben auch übel.

Ein Allheilmittel ist die Kür eines oder einer neuen Parteivorsitzenden qua Mitgliederbefragung allerdings nicht. Um das zu wissen, reicht ein Blick auf die SPD, die mit Saskia Esken und Norbert Walter-Borjans an der Spitze am 26. September stärkste Partei wurde. Aber eben nur, weil das per Mitgliederentscheid ausgewählte Führungsduo hinter dem Kanzlerkandidaten Olaf Scholz regelrecht versteckt wurde. Die Tatsache, dass Walter-Borjans soeben seinen Rückzug von der SPD-Spitze verkündet hat, spricht Bände. Wenn der Parteichef vier Wochen nach einem angeblich fulminanten Wahlsieg den Weg für jemand anderen freimacht, kann vorher nicht alles in Ordnung gewesen sein.

Ritt auf der Rasierklinge

Natürlich bedeutet auch für die CDU der jetzt eingeschlagene Weg der Mitgliederbefragung einen Ritt auf der Rasierklinge. Denn der Streit über die christdemokratische Deutungshoheit ist ja trotz der aktuellen Katharsis längst nicht beigelegt: Der wirtschaftsliberale Law-and-Order-Flügel um Friedrich Merz hält die „Merkelianer“ weiterhin für mindestens so problematisch wie dies auch umgekehrt der Fall ist. Aber weil der Zusammenhalt der Partei jetzt endgültig oberste Priorität hat, dürfen die Sollbruchstellen nicht noch einer weiteren Belastungsprobe ausgesetzt werden. Womöglich läuft es also zunächst auf einen Interimsvorsitzenden hinaus, der die Lager befrieden muss.

Sollte dieses Versöhnungsprojekt allerdings gelingen, dann wäre das gleichzeitig auch Ausweis von Führungsqualität. Womöglich könnte also ein Kompromisskandidat nicht nur der Mann oder die Frau der Stunde sein – sondern noch lange darüber hinaus. Es wäre jedenfalls kein Wunder, wenn plötzlich jemand das Rennen macht, der sich aus den bisherigen Diadochenkämpfen herausgehalten hat. Warum eigentlich nicht der Ministerpräsident eines ostdeutschen Bundeslandes?

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