Migration und Sozialstaat - Deutschland ist am Ende der langen Leitung angekommen

Plötzlich kommen deutsche Regierungspolitiker zu der Erkenntnis, dass der Sozialstaat für Zuwanderer attraktiv ist - und grundsätzlich begrenzt. Die professionellen Profiteure haben daran kein Interesse. Zum Beispiel die EKD-Ratsvorsitzende Annette Kurschus.

Landesaufnahmebehörde Niedersachsen am Standort Braunschweig / dpa
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Autoreninfo

Ferdinand Knauß ist Cicero-Redakteur. Sein Buch „Merkel am Ende. Warum die Methode Angela Merkels nicht mehr in unsere Zeit passt“ ist 2018 im FinanzBuch Verlag erschienen.

 

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In der deutschen Öffentlichkeit und vor allem in den oberen Sphären des Politikbetriebs geschieht etwas ebenso Erstaunliches wie längst Überfälliges: Die Erkenntnis hat sich Bahn gebrochen, dass die Versorgungsleistungen des deutschen Sozialstaats für Armutsmigranten erstens sehr anziehend auf immer neue Migrationswillige wirken, also einen selbstverstärkenden Rückkopplungseffekt haben, und zweitens die Leistungsfähigkeit dieses Sozialstaats ebenso wie die anderen Belastungsfähigkeiten dieses Staates und dieser Gesellschaft begrenzt sind.

Der Kanzler ruft also per Spiegel-Interview eine neue Migrationshärte aus, die Innenministerin inszeniert sich als Rückführungsverbesserungsgesetz-Initiatorin (es geht um ganze 600 Abschiebungen zusätzlich!), und nun verkündet per „Bericht aus Berlin“ und Twitter auch der Finanzminister Sätze, die eigentlich nichts als Selbstverständlichkeiten enthalten, aber im Land der Migrationsillusionen geradezu revolutionär erscheinen.

Natürlich war das alles schon 2015 der Fall und auch schon Jahre und Jahrzehnte zuvor. Doch damals und bis vor kurzem galt es als mindestens unanständig, darauf hinzuweisen. Der Kanzlerinnen-Ukas „Wir schaffen das“ bedeutete eben auch die unbedingte Priorität des Prinzips Hoffnung vor dem Prinzip der Vorsicht. Ein ganzes Land, vor allem aber seine politischen Elite, entschied sich, auf der langen Leitung zu stehen. Ob aus echter Erkenntnisunfähigkeit oder purem Opportunismus, ist egal. Eines wäre so peinlich wie das andere.

 

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Nun sind wachsende Teile der deutschen Politik und veröffentlichten Meinung endlich am Ende der langen Leitung angekommen. Aber wie schwierig und langwierig es sein wird, von dort nun zu tatsächlich wirksamen Veränderungen der Praxis in der deutschen Migrations- und Sozialpolitik zu kommen, zeigt beispielhaft ein aktuelles Interview einer auf diesem Feld nicht ganz unmaßgeblichen Akteurin, nämlich der EKD-Ratsvorsitzenden Annette Kurschus.

Kurschus steht als ranghöchste evangelische Pfarrerin in Deutschland nicht nur einer schmelzenden (man könnte auch sagen: in beschleunigter Selbstauflösung befindlichen) Kirche vor, sondern auch einem mit dieser organisationsidentischen De-facto-Unternehmen, das auf den „Wachstumsfeldern des Sozialstaates“ seit Jahren eifrig ackert und eine reiche Ernte einfährt. Die Einwanderung von versorgungsbedürftigen Armutsmigranten auf dem Wege des Asylrechts ist spätestens seit 2015 der alles überragende Wachstumstreiber in diesem Geschäft. Kurz: Kurschus’ Aussagen sind nicht diejenigen einer eigeninteresselosen Ethikerin, sondern einer Profiteurin der bisherigen Praxis.

Kurschus: Hilfe bis zur Selbstaufgabe

Kurschus behauptet in dem FAZ-Interview, die Grenze der Aufnahmekapazität für „Geflüchtete“ liege da, „wo es zur Selbstaufgabe kommt“, und die sei  „noch lange nicht erreicht“. Und: „Grundsätzlich müsste unser reiches Land in der Lage sein, noch mehr Menschen aufzunehmen.“ Kurschus scheint also dafür zu plädieren, diese Grenze auszutesten, an der sich Deutschland für die Versorgung von Migranten selbst aufgibt. Nimmt man ernst, was sie fordert, so bedeutete dies letztlich: Wir sollen Migranten aufnehmen und versorgen, bis unser Land eben kein reiches mehr ist.

Geben, bis man nicht mehr geben kann – das ist eine christliche Botschaft, die man mit Jesus-Worten belegen kann. Zum Beispiel diesem: „Geh hin, verkaufe alles, was du hast, und gib’s den Armen, so wirst du einen Schatz im Himmel haben, und komm, folge mir nach!“ Das empfiehlt Jesus aber einem einzelnen Mann, der ihm zuvor gesagt hatte, er habe alle Gebote befolgt, und wohl ein Lob hören wollte. Es ist eine der Stellen, wo Jesus den Hochmut der selbstgerechten Moralisten bloßstellt.

Kurschus dagegen fordert dieses Geben bis zur Selbstaufgabe von der gesamten deutschen Gesellschaft, jedenfalls den Steuer- und Sozialabgabenzahlern. Und die haben bekanntlich keine Wahl, wenn der (Sozial-)Staat sie zur Kasse bittet.

Professionelle Profiteure des Sozialstaats

Man könnte diese Forderung der ranghöchsten evangelischen Pfarrerin, um in der Wortwahl des Neuen Testaments zu bleiben, als pharisäerhaft bezeichnen: Während man sich selbst als moralische Instanz inszeniert, verlangt man von allen anderen Zahlungen, die nicht nur den „Geflüchteten“ zugutekommen, sondern auch der eigenen Kirche. Einer Kirche nämlich, die sich immer weniger mit der Verkündung der „frohen Botschaft“ befasst, sondern sich stattdessen immer mehr auf die professionelle Teilhabe am sozialstaatlichen Versorgungsbetrieb verlegt hat.

Die Attraktivität des deutschen Sozialstaates für versorgungssuchende Armutsmigranten auf dem Asylweg wirksam zu mindern, bedeutet für die politisch Verantwortlichen also nicht nur, den Empfängern die Versorgung zu beschneiden, sondern auch die Besitzstände der Akteure des Versorgungsbetriebes zu mindern. Wer mit dem Helfen seinen Lebensunterhalt verdient und moralische Wertschätzung gewinnt, hat kein Interesse, die Zahl der Hilfsempfänger dauerhaft zu senken. Und diese professionellen Helfer, beziehungsweise ihre Interessenvertreter, zu denen auch Kurschus gehört, sind mit den politischen Entscheidern meist gut verdrahtet, erst recht in zwei von drei der Ampel-Parteien.

Dieses strukturelle Dilemma jedes ausgeprägten Sozialstaates, das außerdem noch durch die Moralisierung des dazugehörigen Diskurses meist vollständig vernebelt wird, ist das größte Hindernis auf dem Weg zu einer effektiven Wende in der Migrationspolitik. Dass ausgerechnet eine Bundesregierung mit Sozialdemokraten und Grünen hier effektiv sein wird, ist zwar schwer vorstellbar. Aber zu wünschen wäre es jedenfalls. Bei der Bewertung der neuen Aussagen von Regierungspolitikern zu Einwanderung und Sozialstaat sollte man es deswegen auch so halten, wie Jesus empfiehlt: „An ihren Früchten sollt ihr sie erkennen.“

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