Lockdown verlängert - Wie man Bürger nicht erzieht

Der harte Lockdown geht in die Verlängerung. Grund dafür ist auch, dass zu viele Bürger sich nicht an die Regeln gehalten hätten. Warum eine solche Haltung der Regierenden aus erziehungswissenschaftlicher Sicht pures Gift ist.

Die Regierenden sind keine Eltern schwer erziehbarer Kinder / dpa
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Autoreninfo

Ewald Kiel ist Ordinarius für Schulpädagogik an der LMU München und war Direktor des Departments für Pädagogik und Rehabilitation sowie Mitglied des Universitätssenats. Zur Zeit ist er Dekan der Fak. 11 der LMU.

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Die Corona-Pandemie wird üblicherweise als ein medizinisch – epidemiologisches, wirtschaftliches oder juristisches Problem betrachtet. Dabei wird übersehen, dass im Zuge der steigenden Infektionszahlen ganz nebenbei das größte Erziehungsexperiment in der Geschichte der Bundesrepublik stattfindet. Die Kanzlerin, bisweilen liebevoll als „Mutti“ bezeichnet, und die 16 Ministerpräsidentinnen und Ministerpräsidenten möchten nämlich – so eine wissenschaftliche Definition von Erziehung – psychische Dispositionen der Bevölkerung so verändern, dass die Menschen endlich das Richtige tun.

Also machen sie Vorschriften und beklagen sich dann lauthals, wenn die uneinsichtigen Bürgerinnen und Bürger trotzdem unvernünftig handeln. Eltern kennen dieses Problem: Das, was Kinder tun sollen, ist nicht das, was die Kinder wollen! Deswegen tun es die Kinder häufig nicht. Wissenschaftlich spricht man hier von Reaktanz: Auf die Einschränkung von Entscheidungsspielräumen reagieren die Kinder und Jugendliche mit Widerstand. Wie müsste man die Bürgerinnen und Bürger erziehen, damit es nicht zu diesem Widerstand kommt oder sich mit dem Widerstand zumindest leichter umgehen lässt?

Autoritäre versus autoritative Erziehung

Seit mehr als 40 Jahren wird in der Wissenschaft international ein autoritativer Erziehungsstil befürwortet. Die Grundidee ist folgende: Man fordert von den Kindern und Jugendlichen etwas, formuliert diese Forderung klar und deutlich, gewährt aber auch Entscheidungsspielräume und verhandelt gegebenenfalls über die Forderungen. Man spricht auch von sogenannten Verhandlungshaushalten.

Ein Beispiel: Eine Zwölfjährige möchte bis 24 Uhr auf eine Party, die Eltern verweigern dies, halten sie grundsätzlich für zu jung für Partys, lassen sich dann auf eine Verhandlung ein und einigen sich auf 21:30 Uhr. Demgegenüber steht ein eher autoritärer Erziehungsstil, bei dem die Eltern nicht mit sich verhandeln lassen und gegebenenfalls mit Gewalt ihre Vorstellungen durchsetzen.

Man weiß, dass autoritäres Verhalten zu besonders großer Reaktanz führt. Daher wird lediglich bei sogenannten verhaltensauffälligen Kindern und Jugendlichen ein autoritäres Regeleinhalten gefordert, um einen klaren Strukturierungsraum zu geben. Die Kanzlerin und die Ministerpräsidentinnen und Ministerpräsidenten der Länder mögen zwar miteinander verhandeln – aber sie verhandeln nicht mit denjenigen, denen sie Vorschriften machen. Sie verbieten die Party grundsätzlich.

„Es ist alternativlos“

Man könnte fast meinen, als ob sie diejenigen, denen sie Vorschriften machen, für verhaltensauffällig halten. Dabei ist das Argument, etwas sei alternativlos, kein Ausgangspunkt für Verhandlungen und vergrößert den Widerstand. Auch dies kennen Eltern gut. Der Hinweis auf Alternativlosigkeit führt meist nicht zur Befriedung der Situation, selbst wenn gute Argumente vorgebracht werden – deswegen die Empfehlung, in Verhandlungen einzutreten. Das gilt ganz besonders, wenn es Alternativen gibt, zum Beispiel vulnerable Gruppen besonders zu schützen, wie es etwa die Stadt Tübingen getan hat.

Verhandeln heißt, sich ernsthaft auf Argumente einzulassen und Gegenpositionen, auch wenn sie einem nicht gefallen, ernsthaft anzuhören. Stattdessen werden solche Gegenpositionen als nicht vereinbar mit dem Christentum, so Söder, oder als „Wegsperren“, so die Kanzlerin, bewusst verzerrt und möglichst unattraktiv gemacht. Warum wurde nicht im Sommer offen debattiert, wie ein Weihnachten mit Corona aussehen könnte? Aus Angst vor den Meinungen der Bürger? Angst ist, auch das werden viele Eltern wissen, nur selten ein guter Ratgeber, wenn es um die Erziehung geht.

Legitimität von Erziehung

Eine zentrale Frage im Kontext der Erziehungswissenschaft lautet unter anderem: „Woher haben Erwachsene Legitimität, Kindern und Jugendlichen Vorschriften zu machen?“ Üblicherweise verweist man hier auf die Anthropologie des Menschen. Das Kind werde hilflos geboren, könne sich nicht artikulieren, sei nicht beweglich, sein Geist nicht entwickelt, es sei ein „Mängelwesen“, das ohne die Hilfe seiner Eltern oder anderer Kümmerer nicht existieren kann. Gilt das auch für die Bürgerinnen und Bürger dieser Republik?

Ist der Geist der Erwachsenen so unterentwickelt, ihre Artikulation so eingeschränkt, dass man sie bevormunden muss? Dem kann man entgegenhalten, dass diejenigen, denen man Vorschriften macht, ein komplexes demokratisches System haben. Innerhalb dieses Systems gibt es ein Parlament. Die Regierung steht nicht wie ein König an der Spitze des Parlaments, sondern ist dem Parlament verantwortlich. Dabei gehen die Bürgerinnen und Bürger davon aus, dass die von Ihnen gewählten Vertreterinnen und Vertreter im Parlament über ihre Bedürfnisse verhandeln – als Stellvertreter der Interessen derjenigen, die sie gewählt haben. Ein Kind im Elternhaus kann mit den Eltern verhandeln.

Verhandlung sieht anders aus

Wir Erwachsene in unserer parlamentarischen Demokratie haben Repräsentanten, die für uns im Parlament verhandeln können. Eine solche Verhandlung findet nicht statt. Eine Verhandlung nach dem Verkünden der Vorschrift ist keine Verhandlung, ein Regieren auf dem Verordnungswege ohne eine parlamentarische Debatte über ein Gesetz ist ebenfalls keine Verhandlung. Regierende verhandeln mit Regierenden, aber nicht mit den Bürgerinnen und Bürgern.

Mir kommt es so vor, als ob eine Gruppe von Eltern, die Schwierigkeit mit der Disziplin ihrer Kinder haben, sich gegenseitig beraten, aber nie die Kinder selbst anhören. Was fehlt, sind echte Debatten, in den Parlamenten und mit den Bürgern, bevor neue Maßnahmen beschlossen werden. Auch hierfür wäre im Sommer viel Zeit gewesen: Warum wurde, obwohl die meisten Virologen von einem erneuten Ansteigen der Zahlen im Herbst ausgingen, nie offen debattiert, wie sich die Gesellschaft in diesem Fall verhalten will?

„Die Wissenschaft“

Ohne solche Debatten steht die Legitimität des Erziehungshandelns der Regierung infrage. Erziehen ist übrigens ein geplantes Verhalten und nicht ein immer wieder sich wiederholendes ad hoc-Verhalten. Legitimität erhält das Erziehungshandeln der Regierung auch nicht dadurch, dass man sich allgemein auf die Wissenschaft beruft. 

Es gibt eine Reihe unterschiedlicher Positionen, die gegeneinander abgewogen werden sollten. Jeweils diejenige zu zitieren, die gerade in den eigenen Verordnungswillen passt, ist noch nicht einmal eine geborgte Autorität, sondern Manipulation. Die Leopoldina zum Beispiel wird gern zitiert, wenn ihre Äußerungen zum Konzept der Erziehenden passen, im Frühjahr, als es nicht so passte, hat man gern darüber hinweggehört.

Reziprozität und Konsequenz

Man kann mit den Theorien der sozialen Reziprozität davon ausgehen, dass Menschen, wenn sie sich anstrengen, sich engagieren, etwas tun, dafür eine Gegenleistung haben wollen, zum Beispiel eine Belohnung. Gibt es keine Belohnung für Anstrengungen, lässt die Anstrengungsbereitschaft nach. Das gilt auch in Erziehungsprozessen. Wenn man einem Jugendlichen in Aussicht stellt, ab dem 16 Lebensjahr zwei Stunden länger außer Haus bleiben zu dürfen, wenn er mit 15 nicht immer wieder quengelt und man mit dem 16 Lebensjahr sagt, er sei doch nicht reif dafür, dies müsse er einsehen, wird kein Wohlverhalten eintreten.

Der überwiegende Teil der Bevölkerung strengt sich im Lockdown an, manche müssen finanzielle Einbußen ertragen, manche verlieren ihre Existenz, manche geliebte Angehörige. Alle geben einen großen Teil Ihrer individuellen Freiheit auf. Was kann man als Belohnung dafür erwarten? Immer wieder wird als Belohnung versprochen, die Freiheitsgrade würden vergrößert, zum Beispiel zu Weihnachten.

Immer wieder wird das Versprochene zurückgenommen, weil die Bürgerinnen und Bürger nicht die gewünschte Einsicht gezeigt haben und sich nicht so verhalten haben, wie die Regierenden es wünschen. So ähnlich äußern sich zumindest einige Ministerpräsidenten! Stellt man sich das Verhältnis von Anstrengung und Belohnung wie eine Balkenwaage vor, dann neigt sich die Waage für immer mehr Menschen gefühlt immer nur zu Ungunsten des Bürgers: Es gibt neue Anstrengungen, für die es keine ausreichende Belohnung gibt. Besser wäre es, keine Versprechungen zu machen, die man nicht einhalten kann.

Fazit

Der Mensch, so Immanuel Kant, ist ein Tier, welches eines Herren bedarf, „der ihm den eigenen Willen breche und ihn nöthige, einem allgemeingültigen Willen, dabei jeder frei sein kann, zu gehorchen.“ Das ist ungefähr die Position der Bundesregierung, die sich damit auf die Anthropologie des vielleicht größten deutschen Philosophen berufen kann.

Dieser kannte jedoch eher absolute Herrscher, ein demokratisches Staatswesen mit demokratischen Grundsätzen der Erziehung war ihm zumindest praktisch fremd. Heute bricht man autoritär keinen Willen mehr. Man ist autoritativ, verhandelt, ist transparent und verlässlich, in dem man sich an das hält, was man verspricht und bietet Alternativen an.

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