Wahlen in Hessen - Vor dem Knall

In Hessen findet am Sonntag nicht irgendeine Landtagswahl statt. Es wird ein politisches Erdbeben geben, die Auswirkungen wird vor allem Berlin spüren. Die Frage ist nur noch, ob es zuerst die SPD oder die CDU erreicht. Die Große Koalition steht vor dem Ende, das Land vor einer Zeitenwende

Bouffier, Merkel: In Hessen geht es um jede Stimme / picture alliance
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Christoph Seils war Ressortleiter der „Berliner Republik“ bei Cicero bis Juni 2019. Im Januar 2011 ist im wjs-Verlag sein Buch Parteiendämmerung oder was kommt nach den Volksparteien erschienen.

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In Berlin sind diese Woche Herbstferien, die Stadt ist leerer als sonst, auch die Politiker sind ausgeflogen. Die einen atmen noch mal durch, bevor eine Landtagswahl die Republik erschüttern wird, wie wohl noch nie zuvor in der bundesdeutschen Geschichte. Die anderen machen Wahlkampf in Hessen. Es geht um jede Stimme. Das politische Berlin ist extrem nervös. 

Folgt man den aktuellen Umfragen der Meinungsforschungsinstitute, könnte der Wahlausgang in Hessen extrem knapp werden. CDU und SPD drohen gleichermaßen starke Verluste, die Grünen hingegen könnten ihr Ergebnis von 2013 verdoppeln und sogar in der Wählergunst an den Sozialdemokraten vorbei ziehen. Auch AfD, FDP und Linke würden in den Landtag einziehen. 

Viele Konstellationen denkbar

Für die Regierungsbildung sind somit noch die unterschiedlichsten Optionen möglich. Hessen steht vor einem Kopf-an-Kopf-Rennen um die Macht. Drei Politiker können sich Hoffnungen machen, Ministerpräsident zu werden: Amtsinhaber Volker Bouffier (CDU), Herausforderer Thorsten Schäfer-Gümbel (SPD) und als möglicher lachender Dritter Tarek Al-Wazir (Grüne). Dazu sind mindestens sieben verschiedene Regierungsbündnisse noch möglich: Dass Schwarz-Grün die Macht verteidigt, ist genauso realistisch, wie Jamaika, eine rot-rot-grüne Koalition genauso möglich wie eine Ampel-Koalition. Ein Linksbündnis oder eine Ampel unter einem Ministerpräsidenten Tarek Al-Wazir könnte es auch geben, wenn die Grünen im Wahlkampfendspurt noch an der SPD vorbei ziehen. Und natürlich ist zu guter Letzt eine Große Koalition eine Option für die Regierungsbildung in Hessen. Am Ende hängt es von minimalen Verschiebungen in der Wählergunst ab, welche Machtoptionen auch am Sonntagabend noch bestehen.

Die Lage ist zwei Tage vor dem Wahlsonntag also extrem unübersichtlich und stellt vor allem die taktischen Wähler vor ein schier unlösbares Rätsel. Zumal auch die bundespolitischen Auswirkungen der Hessen-Wahl dramatisch sein könnten. Jeder Wahlausgang in Hessen wird die Stimmung in der SPD oder der CDU bestimmen und damit die Zukunft der Großen Koalition. Ob sie Hessen überlebt, scheint völlig offen. Zumal auch das Ergebnis der bayerischen Landtagswahl vom 14. Oktober bundespolitisch noch längst nicht aufgearbeitet ist. Auch die CSU wird also ab Sonntagabend nicht mehr stillhalten.

Doch wie könnte es nach der Wahl weitergehen? Denkbar sind drei Szenarien.

Verliert die SPD, wackelt die Bundesregierung

Erstens: Die SPD verliert die Wahl in Hessen, das heißt, sie bricht nicht nur in der Wählergunst ein, sondern bleibt auch in der Opposition. Der Worst Case wäre es dabei, wenn die Grünen wie zuletzt in Bayern auch in Hessen an der SPD vorbei ziehen würden. Im Fall der Niederlage knallt es in der SPD. Viele Sozialdemokraten werden sich dann schon in der kommenden Woche dafür aussprechen, die Bundesregierung zu verlassen. Für die Sozialdemokraten ist Hessen somit eine Schicksalswahl. Längst machen in der SPD nicht nur jene Genossen Stimmung gegen die Groko, die schon Anfang des Jahres dagegen waren, dass die SPD weiter als Juniorpartner an der Seite der Union regiert. Auch auf dem rechten Parteiflügel sind mittlerweile viele Sozialdemokraten davon überzeugt: So kann es nicht weitergehen, in der Regierung könne der freie Fall der SPD nicht mehr gestoppt werden. Es ist also nicht ausgeschlossen, dass CDU und CSU in Berlin schon bald ohne Regierungspartner und Mehrheitsbeschaffer dastehen. Ob Kanzlerin Merkel dann noch die Kraft hat, in einer Minderheitsregierung erst einmal weiterzuregieren oder ob es schon bald Neuwahlen gibt, wäre völlig offen. 

Verliert die CDU, wackelt die Kanzlerin

Zweitens: Die CDU verliert die Wahl. Das heißt, Schwarz-Grün verliert angesichts zweistelliger Verluste der CDU im Landtag die Mehrheit und die CDU muss nach 19 Jahren an der Macht wieder in die Opposition. Viele Christdemokraten werden dann nach der Verantwortung der Bundeskanzlerin und Parteivorsitzenden Angela Merkel für das hessische Wahldesaster und den Absturz ihrer Partei fragen. Ihre innerparteiliche Demontage würde an Fahrt gewinnen, ihr Sturz wäre nicht mehr ausgeschlossen. Den CDU-Parteitag Anfang Dezember in Hamburg könnten die Merkel-Kritiker zur Abrechnung mit ihr nutzen. Nicht mehr ausgeschlossen wäre, dass Merkel auf eine erneute Kandidatur für den Parteivorsitz verzichtet und damit auch ihren Abschied vom Kanzleramt einleitet. 

Unklar wäre die Lage, wenn sich CDU und Grüne in eine Jamaika-Koalition retten können. Dann gäbe es in Hessen nach Schleswig-Holstein die zweite Länderkoalition von CDU, FDP und Grünen und damit das zweite Referenzprojekt für Jamaika im Bund. Nur: Jamaika im Bund gibt es nur ohne Angela Merkel, das hat der FDP-Vorsitzende Christian Lindner in den vergangenen Monaten mehr als einmal deutlich gemacht. Die FDP könnte also der CDU in Hessen trotz eines Absturzes in der Wählergunst vor dem Machtverlust bewahren. Würde damit aber den Druck auf Merkel im Bund noch einmal erhöhen.

Was, wenn CDU und SPD beide verlieren?

Drittens könnten die Stimmenverluste bei der Wahl in Hessen auch für CDU und SPD so dramatisch sein, dass diese sowohl für viele Christdemokraten als auch für viele Sozialdemokraten als Niederlage empfunden wird. Unabhängig davon, welche der beiden Partei letztendlich die Chance erhält, eine Landesregierung zu führen und welche der beiden Parteien in der Opposition landet. Und unabhängig davon, dass bei einem unübersichtlichen Wahlergebnis mit vielen Optionen für die Regierungsbildung, der Wahl einer längere Phase der Sondierung folgen könnte. 

Die Schlüsselrolle der FDP

Klar ist allerdings eines, unabhängig davon, wie viel unübersichtlicher die politische Lage in Hessen nach der Landtagswahl sein wird, wie viel schwieriger die Regierungsbildung werden wird, welche unmittelbaren bundespolitischen Konsequenzen es geben wird und auch unabhängig vom Höhenflug der Grünen: Der FDP könnte im hessischen Machtpoker eine Schlüsselrolle bekommen. Verliert Schwarz-Grün im Hessen die Mehrheit, wäre die FDP der Königsmacher. Sie stünde vor der Alternative: Jamaika oder Ampel, könnte SPD und Grüne aber mit einer kompromisslosen Haltung auch in die Arme der Linken treiben und dem Land eine rot-rot-grüne Landesregierung bescheren. Die FDP hätte es nicht nur in der Hand, wer Hessen in den kommenden fünf Jahren regiert, sondern sie könnte auch das Ende der Großen Koalition und das Ende der Ära Merkel in Berlin beschleunigen.  

Der Ausstieg aus den Jamaika-Sondierungen hat die FDP im vergangenen Herbst in eine machtstrategische Falle manövriert und viele ihre Wähler frustriert. Für die Grünen hingegen begann als einzige verbliebene Regierungspartei im Wartestand ein völlig unerwarteter Höhenflug. In Hessen könnte sich die FDP aus dieser Falle befreien und somit zusammen mit den Grünen zum Kristallisationspunkt der Berliner Zeitenwende werden. 

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