Landrat Stefan Kerth tritt aus der SPD aus - „Viele Bürger fühlen sich an DDR-Zeiten erinnert“

Stefan Kerth, Landrat in Vorpommern-Rügen, hat am Montag seinen Austritt aus der SPD verkündet. Als Grund führte er die verfehlte Migrationspolitik an. Im Cicero-Interview nennt Kerth weitere Politikfelder, die ihn von seiner Partei entfremdet haben. Dazu gehören das Bürgergeld und der Umgang mit der Polizei.

Der Landrat und frühere Sozialdemokrat Stefan Kerth / dpa
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Alexander Marguier ist Chefredakteur von Cicero.

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Stefan Kerth ist seit 2018 Landrat von Vorpommern-Rügen. Der 47-Jährige war mehr als 20 Jahre lang Mitglied der SPD, bevor er am Montag seinen Parteiaustritt bekanntgab.

Herr Kerth, Sie sind Landrat im Landkreis Vorpommern-Rügen und waren mehr als 20 Jahre lang Mitglied der SPD. Jetzt treten Sie aus der Partei aus. Was ist da passiert? 

Ich habe schon über längere Zeit das ungute Gefühl, dass wir realpolitische Sachzwänge in einigen Politikfeldern stark vernachlässigen. Und wir sind gesinnungspolitisch unterwegs. Was dann eben dazu führt, dass man in der realen Welt Dinge anrichtet, die mitunter nicht so gut sind. Ich hatte gehofft, dass die SPD – und das ist bei mir schon ein längerer Prozess – auch wieder ein stückweit die andere Seite zu bedienen vermag. Das ist nicht eingetreten, und deswegen habe ich nach sehr langen, intensiven Überlegungen mich zu diesem Schritt entschlossen – der mir sehr schwerfällt. Aber er ist für mich unvermeidlich gewesen.

Wie lange hat denn dieser Entfremdungsprozess von Ihrer früheren Partei gedauert?

Mein Erstaunen begann schon bei der ersten Flüchtlingskrise im Jahr 2015, die ich als Bürgermeister der Kleinstadt Barth, in der ich übrigens lebe, mitbekommen habe. Damals habe ich als Bürgermeister auf eigene Faust einfach recherchiert und mich schlau gemacht: Was bedeutet das alles, welche Fakten gibt es da? Und ich habe dadurch festgestellt, dass in der öffentlichen Diskussion bestimmte Themen einfach vermieden oder kleingeredet wurden. Natürlich erinnere ich mich auch noch an die Silvesternacht 2015 in Köln und andere ähnliche Ereignisse. Und habe immer gehofft, dass da eine Nachdenklichkeit eintritt, auch in meiner Partei. Ich bin in der SPD übrigens von sehr vielen Leuten umgeben, die mir bei diesen Gedanken auch sehr nahestehen und zustimmen. Aber der große politische Kurs ist eben anders. Ich nenne das Gesinnungspolitik. 

Wie sind Sie als Landrat mit der aktuellen Migrationsproblematik konkret konfrontiert? 

Als Landrat ist man die zuständige Behörde in der Region für die Ausländerangelegenheiten und damit eben auch für alle Asylangelegenheiten. Und da geht es mir so ähnlich wie vielen Landräten in ganz Deutschland. Ich denke, man muss noch ein bisschen unterscheiden zwischen Oberbürgermeistern in den klassischen Hotspots wie Berlin und ländlichen Regionen. Bei uns ist das alles rein von der schieren Anzahl der ankommenden Menschen nicht ganz so schwierig zu bewältigen wie anderswo. Was meine Kritik ist und was mir fehlt, das ist schlicht und ergreifend die Perspektive. Deswegen auch dieser Schritt des Austritts. 
 

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Wie nehmen Sie die Stimmung in der Bevölkerung wahr? 

Viele Bürger, besonders die Älteren, fühlen sich an DDR-Zeiten erinnert. Es liegt einfach in der Luft, dass es so nicht weitergehen kann und dass im Grunde auch die Integration in vielerlei Hinsicht nicht erfolgreich war. Es gibt an allen Ecken und Kanten Probleme im Bereich Asyl und Migration. Das sind zwar nicht völlig deckungsgleiche Sachen, aber jeder weiß, was gemeint ist: Dass nämlich, wenn man hinter die Kulissen guckt, es unglaublich viele Missstände gibt, über die man unbedingt reden müsste. Die Bürger nehmen wahr, dass darüber aber eher nicht geredet wird. Und so entsteht das Gefühl der Tabuisierung. Genau das führt aus meiner festen Überzeugung zu den Wahlergebnissen und zu den hohen Umfrageergebnissen der AfD. 

Sie erwarten einen echten Kurswechsel in der Migrationspolitik. Wie sollte der Ihrer Ansicht nach aussehen? 

Das ist natürlich eine schwierige Frage, auf die es keine einfachen Antworten gibt. Ich mache es mal an einem konkreten Beispiel fest. Eigentlich dürfte mir das als ehemaligem Sozialdemokraten gar nicht über die Lippen gehen. Aber wir müssen tatsächlich darüber nachdenken, die Migration nach Deutschland auch unattraktiver zu machen. Ich muss das so klar und deutlich sagen. Ansonsten wird die Magnetwirkung erhalten bleiben. Auf diesem Gebiet sind gesetzgeberische Änderungen vorzunehmen.

Ich finde es sehr sinnvoll, dass jetzt darüber nachgedacht wird, kein Bargeld mehr an Asylbewerber auszuzahlen. Ich finde es umgekehrt wenig sinnvoll, dass man das Staatsangehörigkeitsrecht jetzt ändern will und den Erwerb der Staatsbürgerschaft noch erleichtert. Das ist keine Prinzipienfrage bei mir, aber ich habe mich etwas intensiver mit dem Gesetz befasst und festgestellt, dass sich dadurch mit hoher Wahrscheinlichkeit schon wieder neue Räume, juristische Öffnung entwickeln, die dann möglicherweise auch ausgenutzt werden. Und dass am Ende also gerade nicht das passiert, was wir alle wollen, nämlich eine Ordnung des Integrationsprozesses. Weitere Schritte müssen folgen.

Warum trauen Sie der SPD auf diesem Gebiet keine wirklich tiefgreifenden Schritte zu? 

Wir erleben seit längerer Zeit, dass wir wieder eine Flüchtlingskrise haben. Die war ja einige Jahre in Vergessenheit geraten. Für mich war es übrigens sehr erstaunlich, dass das Thema in dieser Zeit wirklich komplett weggelegt wurde. Ich habe immer befürchtet, dass es uns dann irgendwann kalt erwischen wird, wenn die Krise wieder da ist. Nicht zuletzt und ganz besonders in der SPD wurde aber eine Debatte darüber verweigert. Es wurden diese wirklich schlimmen Missstände auch in Regionen ignoriert, die vor einigen Jahren noch keine Hotspots waren und wo sich jetzt auch Kriminalitätsprobleme entwickeln. Es entsteht zwangsläufig der Eindruck, dass das alles in der SPD, also zumindest auf Parteitagen und in Parteirunden, niemanden wirklich interessiert. Wir haben da ein inakzeptables Schweigen in der Partei. 

Sie sprechen selbst von einer Kultur des Wegschauens bei Problemen der Migration insbesondere aus dem islamischen Kulturkreis. Und Sie kritisieren, dass beim Thema Gleichberechtigung von Frauen weggeschaut wird. Woher kommt denn diese Kultur des Wegschauens? 

Woher kommt die Kultur des Wegsehens? Das ist für mich ein Ausdruck der genannten Gesinnungspolitik. Wir wollen die bunte Gesellschaft und Migration als Bereicherung – und sind dafür augenscheinlich bereit, auch bei anderen Themen Kompromisse zu machen. Es würde natürlich nie ein Sozialdemokrat sagen: „Ich mache einen Kompromiss beim Thema Gleichberechtigung“, weil das ein Sakrileg ist und das auch keiner denkt. Aber es ist nun mal ein Fakt, dass es die Gesellschaft erheblich verändert, wenn wir in hoher Anzahl Migranten aufnehmen aus dem islamischen Raum, wo es keine Reformation im Sinne der Aufklärung gegeben hat. Gleichberechtigung von Mann und Frau, dieses Thema wurde in meiner Partei immer vor sich hergetragen – und zwar völlig zurecht. Aber wenn dann das Thema Migration dazu kommt, dann ist es plötzlich nicht mehr so wichtig. Das ist für mich keine überzeugende Haltung. Und macht mich einfach wütend. 

Sie kritisieren auch ein gestörtes Verhältnis in Teilen des linken politischen Lagers zur Polizei. Was meinen Sie konkret damit? 

Das ist relativ einfach zu erklären. Wir haben uns binnen weniger Jahren leider daran gewöhnen müssen, dass die Polizei als Garantin für das Gewaltmonopol des Staates und damit als Garantin für den Schutz der Schwächeren aktiv angegriffen wird. Wir haben uns im Zeitraffer daran gewöhnt! Das passiert nicht nur auf linken Kundgebungen oder gewalttätigen Veranstaltungen wie bei den sogenannten Chaostagen. Sondern eben auch aus migrantischen Milieus heraus, teilweise sogar direkt von Asylbewerbern. Dass solche Vorfälle dann in der Sozialdemokratie und im linken Spektrum totgeschwiegen oder verharmlost werden und man oft schon gleich am nächsten Tag die Frage stellt, ob da aufseiten der Polizei nicht doch struktureller Rassismus eine Rolle gespielt habe, ist in höchstem Maße befremdlich. Nur zur Klarstellung: Ich will keinen Polizeistaat haben und bin mir sehr wohl bewusst, dass es bei der Polizei auch Leute gibt, die sich mit einem gewissen Rassismus durch die Gesellschaft bewegen. Aber mir wird angst und bange, wenn wir am Ende keine starke Polizei haben. Das meine ich wirklich so, wie ich es sage: eine Polizei, die sehr stark und robust auftritt und knallhart Recht und Ordnung durchsetzt. Ansonsten sehe ich schwarz für die Schwächeren in unserer Gesellschaft. Und das kann kein Sozialdemokrat wollen. Für mich war das ein Grund, in die SPD einzutreten. Aber inzwischen ist die Partei auf diesem Auge völlig blind. Und das halte ich eben nicht mehr aus.

Das Bürgergeld wird von der SPD als großer politischer Sieg gefeiert. Sie selbst sehen diese Transferleistung kritisch. Warum? 

Ich sehe diese Transferleistungen kritisch vor dem Hintergrund der Zeit, in der wir leben. Wir haben einen dramatischen Arbeitskräftemangel in allen möglichen Berufszweigen, und wir können uns in keiner Weise leisten, Leute künstlich aus dem Arbeitsmarkt zu verlieren. Nicht nur in den hoch qualifizierten, sondern auch niedrig qualifizierten Bereichen. Ich bin in meiner Funktion auch Chef eines kommunalen Jobcenters; dadurch habe ich einen direkteren und tieferen Einblick in diese Dinge. Meine Mitarbeiter in diesem Bereich haben vorausgesehen und davor gewarnt, dass sie infolge des Bürgergelds gar keine Möglichkeit mehr haben, Leute ein stückweit dazu zu bewegen, eine Tätigkeit aufzunehmen. Und dass es starke Auswirkungen haben wird, die massiv in den Arbeitsmarkt hineinreichen. So höre ich es übrigens auch aus Unternehmen und aus dem Gewerbe bei mir in der Region – dass also diese Wirkung tatsächlich eintritt. Natürlich wird niemand vom Bürgergeld reich, aber wenn dann noch Kinder im Spiel sind und bestimmte Lebenssituationen, dann kann sich der Bezug von Bürgergeld einfach mehr rechnen, als arbeiten zu gehen. Solche Anreizsysteme können wir uns gerade in Zeiten wie diesen unmöglich leisten. 

Wenn man Ihnen zuhört, dann könnte man glauben, dass Sie sehnsüchtig auf eine Art Neuauflage der Agenda 2010 warten, wie sie einst der Bundeskanzler und SPD-Vorsitzende Gerhard Schröder auf den Weg gebracht hat. 

Ich bin mir ziemlich sicher, dass zu Zeiten Gerhard Schröders jedenfalls mein Parteiaustritt nicht stattgefunden hätte, weil damals nicht das gesinnungspolitische Moment so sehr die Politik dominiert hat, sondern eher das realpolitische. 

Gibt es denn schon Reaktionen aus der SPD auf Ihren Parteiaustritt? 

Ja, die gibt es selbstverständlich. Das ist eine bunte Mischung: Traurigkeit, teilweise natürlich auch Entsetzen. Und es gibt viele Leute, die das auch teilen können. Es wäre unseriös, eine bestimmte Prozentzahl zu nennen, aber ich bin überhaupt nicht allein mit meiner tragischen Einschätzung, dass wir eine sehr schwierige Situation im Land haben – auch in der SPD. 

Sehen Sie sich derzeit nach einer neuen politischen Heimat um? 

Nein, das tue ich nicht. Ich bin ausgetreten und habe meine Gründe dafür genannt. Ich habe seit Jahren auch immer öffentlich wieder Stellung bezogen, so wie damals zu diesen Vorfällen in Köln. Man kann in Deutschland zum Glück seine Meinung sagen und über diese Themen reden. Aber allein das Gefühl, dass man das letztlich nicht wirklich offen tun kann, treibt aus meiner Sicht sehr viele Leute stark in Richtung AfD. Und wir geben ja alle immer vor, dass wir die AfD verhindern wollen. Insofern machen wir aus meiner Sicht einiges verkehrt, wenn wir die Probleme nicht klar benennen und diskutieren. 

Das Gespräch führte Alexander Marguier.

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