Das RKI und Corona - Die Folgen der Verharmlosung

Schon vor der plötzlichen Neubewertung zum Mundschutz war die Krisenkommunikation des RKI mangelhaft. Damit beförderte man die Tatenlosigkeit der Bundesregierung, anstatt das Land frühzeitig auf die Coronakrise vorzubereiten.

Lothar H. Wieler ist das Sprachrohr des Robert-Koch-Instituts / picture alliance
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Frank Lübberding ist freier Journalist und Autor.

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Es gibt mehrere Möglichkeiten der Kommunikation. So kann man Inhalte bekömmlich verpacken, damit die schlechte Nachricht nicht allzusehr auf das Gemüt der Leser schlägt. PR-Experten kennen sich damit aus, nicht zuletzt auch die Politik. Deren Aktivitäten bestehen schließlich vor allem darin, staatliche Handlungen zu begründen, um sie vor dem Bürger zu legitimieren. Oder sie als Opposition zu kritisieren, um sich in zukünftigen Wahlen als bessere Alternative zu profilieren.

Eine andere Möglichkeit besteht allerdings darin, die programmatische Unklarheit hinter wohlgesetzten Worten zu verschleiern. Das dort verwendete Vokabular ist zumeist verräterisch. Dann will man stets Gefahren ernstnehmen, warnt aber zugleich vor Panik.

Das ungewisse Schicksal der Wissenschaft

Wahrscheinlich kommt das den meisten Lesern bekannt vor: Es war der Tonfall von Bundesgesundheitsminister Jens Spahn (CDU) und des ihm unterstehenden Robert-Koch-Institut (RKI) seit dem Ausbruch der Coronavirus-Epidemie in China. Dazu gehörte zudem der Hinweis „auf die gute Vorbereitung“ der Bundesregierung bei einer Verschärfung der Krise, oder die hohe Qualität unseres Gesundheitssystems im Vergleich zu anderen Industriestaaten.

Ungewissheit ist dabei das Schicksal der Wissenschaft, weil sie niemand mehr bräuchte, wenn es auf jede Frage schon eine Antwort gäbe. Das gilt nicht zuletzt beim Umgang mit einem neuen Virus, dessen Gefährlichkeit am Beginn einer Epidemie niemand realistisch einschätzen kann. Das unterscheidet sein Bedrohungspotential von der saisonalen Grippe. Dessen Letalität schwankt zwar, bewegt sich aber in einem definierbaren Rahmen.

Szenarien sind keine Prognosen

In solchen Situationen operieren Wissenschaftler mit Szenarien, um Handlungsmöglichkeiten aufzuzeigen. Sie sind nicht mit Prognosen zu verwechseln, sondern Gedankenspiele. Das Szenario vom denkbar schlimmsten Fall hat die Funktion, sich vor bösen Überraschungen zu bewahren. Dessen geringe Eintrittswahrscheinlichkeit korrespondiert deshalb mit den dramatischen Ergebnissen.

Vor diesem Hintergrund gab es in den vergangenen Wochen bisweilen Hinweise auf ein früheres Szenario des RKI. Es erschien im Rahmen eines „Bericht zur Risikoanalyse im Bevölkerungsschutz 2012“, publiziert als Bundestagsdrucksache am 3. Januar 2013. Dort werden Annahmen getroffen, die auf viele Leser verblüffend wirken. Ein Coronavirus mutiert dort zum Modi-SARS und entwickelt sich zu einer weltweiten Pandemie.

Das Modi-SARS 

Seit dem SARS-Virus der Jahre 2002/2003 galt ein solches Szenario allerdings keineswegs als ungewöhnlich. Dass es sich um den denkbar schlimmsten Fall handelt, zeigte sich bei den unterstellten Bedingungen. Modi-SARS verbindet eine mörderische Letalitätsrate mit einer hohen Infektionsfähigkeit. Mit einer Sterblichkeit von zehn Prozent aller Infizierten übertrifft das Virus sogar die Spanische Grippe um das Vierfache. Gleichzeitig hat es eine famose Infektionsfähigkeit: Jeder Infizierte steckt drei weitere Menschen an; selbst bei der Umsetzung klassischer Seuchenmaßnahmen lässt sich die Infektionsrate lediglich auf 1,6 senken.

Entsprechend rechnet das RKI in diesem Szenario mit drei Infektionswellen, die bis zum Ende der Epidemie 7,5 Millionen Menschen das Leben kosten würden. Es wäre ein Superkiller, beispiellos in der bisherigen Geschichte. Entsprechend klassifizierte das RKI die Eintrittswahrscheinlichkeit. Es handele sich um „ein Ereignis, das statistisch in der Regel einmal in einem Zeitraum von 100 bis 1.000 Jahren eintritt.“

Covid-19 ist kein Superkiller 

Im Gegensatz dazu rechnen Epidemiologen wie Alexander Kekule bei Covid-19 in entwickelten Gesundheitssystemen mit einer Letalitätsrate von 0,5 Prozent. Zwar überleben damit fast alle, aber bei 40 Millionen Infizierten wäre immer noch mit 200.000 Todesfällen zu rechnen. Wobei sich die endgültigen Zahlen erst nach dem Ende der Epidemie ermitteln lassen. Epidemiologen nennen das die sogenannte Überschusssterblichkeit: Wieviele Menschen starben mehr als in einer Situation ohne Pandemie?

Bei der jährlichen Grippe werden die Totenzahlen übrigens ebenfalls auf diesem Weg ermittelt. Ein Superkiller ist Covid-19 nicht, soviel ist mittlerweile sicher. Trotzdem sehen alle mit Erschrecken die Bilder von überforderten Krankenhäusern, dem verzweifelten Krankenhaus-Personal und den vom Militär abtransportierten Leichnamen. Es grassiert eine Unsicherheit, die mit der zwischen Januar und März zu findenden Gelassenheit nichts mehr zu tun hat.

Gestern ausgeschlossen, morgen umgesetzt

Aus der Warnung vor Panik ist die Panik selbst geworden. Weite Teile des öffentlichen Lebens stehen still. Die Volkswirtschaft erlebt einen beispiellosen Rückgang, den es in dieser Form noch nie gegeben hat. Dabei verfestigt sich seit dem 7. März der Eindruck, was gestern noch ausgeschlossen wurde, schon morgen umgesetzt wird.

Das Tragen von Schutzmasken in der Öffentlichkeit ist lediglich das jüngste Beispiel für diese Logik. Wer zweifelt noch an die Einführung dieser Vorschrift, selbst wenn alle Schutzmaterialien längst zum knappen Gut geworden sind? Notfalls müssen sich die Bürger mit Improvisationen helfen. Warum aber der Hinweis auf den 7. März? An diesem Tag fand die Fußball-Bundesligabegegnung zwischen Borussia Mönchengladbach und Borussia Dortmund statt.

Ein Fußballspiel stellt Weichen

Mönchengladbach grenzt an den Landkreis Heinsberg. Dieser hatte sich seit dem 25. Februar zum Mittelpunkt des Epidemiegeschehens in Deutschland entwickelt. Die konfuse Debatte über dieses Spiel änderte zwar nichts an seiner Austragung in einem vollbesetzten Stadion. Aber kurze Zeit später fand ein rabiater Kurswechsel in der Politik und in der beratenden Wissenschaft statt.

Vorbereitet wurde darauf niemand, wenigstens gab es keine entsprechenden Hinweise aus dem RKI, oder den Gesundheitsministerien in Bund und Ländern. Dort hatte man sich vielmehr angewöhnt, bis Ende Februar vor der Gefährlichkeit der saisonalen Grippe zu warnen.

Tonfall der Verharmlosung

Damit wurde ein Tonfall der Verharmlosung angeschlagen, dessen Folgen immer noch zu spüren sind. Das setzt sich bis heute fort, etwa wenn es um die bisher im Vergleich zu anderen Staaten wenigen Todesfälle geht. Das führt man auf die hohen Fallzahlen beim Testen zurück, obwohl das lediglich die Letalitätsrate zwischen Todesfällen und Infizierten ausdrücken kann.

Die im Vergleich niedrigeren absoluten Todeszahlen erklären die vermeintlich hohen Testzahlen dagegen nicht. Vielmehr hatte Deutschland am Beginn der Epidemie schlicht Glück gehabt. Eine chinesische Mitarbeiterin des bayerischen Automobilzulieferers Webasto war nach ihrer Rückkehr nach China erkrankt.

Ein geringes Risikobewusstsein

Über das positive Testergebnis informierte sie ihren Arbeitgeber. Nur deshalb kam man überhaupt auf die Idee, die Grippesymptome bei einem deutschen Arbeitskollegen auf das neue Coronavirus zu testen. Bei einem milden oder symptomfreien Verlauf der Infektion bei der chinesischen Kollegin hätte es diese Information wohl nicht gegeben. Den bayerischen Behörden wäre dann auch nicht der Bruch der Infektionskette gelungen, wodurch sie eine frühzeitige unkontrollierte Ausbreitung verhindern konnten.

Das geringe Risikobewusstsein zeigte sich zudem beim Skitourismus. Ischgl in Österreich entwickelte sich zur Drehscheibe im europäischen Epidemiegeschehen, trotz der Nähe zur eskalierenden Lage in Norditalien. So wurden Fussballstadien, der Karneval und die Skiurlauber zu epidemiologischen Brandbeschleunigern.

Warnung vor Panikmache

Konkrete Warnungen auf der Behördenebene durch die Gesundheitsministerien im Bund und in den Ländern gab es nicht. In manchen Gesundheitsämtern vor Ort warnte man Ende Februar lieber vor Panikmache, wenn Ärzte Vorbereitungsmaßnahmen auf eine mögliche Pandemie verlangten. Diese Sorglosigkeit hatte mit der Kommunikation des RKI zu tun: Rhetorisch schloss es zwar nichts aus, aber es sah keinen Anlass zu konkreten Handlungsempfehlungen.

Außer auf die obligatorischen Hygienetipps namens Hände waschen und Niesetikette hinzuweisen. Dabei hatte das RKI in seinem Bericht von 2012 bemerkenswerte Aussagen über die Kommunikation im Pandemiefall gemacht. Es sei „von einer vielstimmigen Bewertung des Ereignisses auszugehen, die nicht widerspruchsfrei ist.“ Das RKI rechnete mit der „Verunsicherung der Bevölkerung“, nicht zuletzt über soziale Medien.

Kommunikationsleitfaden des RKI

In der Anfangsphase, so heißt es dort, „werden das Auftreten der Erkrankung und die damit verbundenen Unsicherheiten kommuniziert.“ Wobei das vom RKI konkretisiert wurde. So müsse von einem unbekannten Erreger gesprochen werden. Das Ausmaß, die Herkunft oder die Gefährlichkeit sollten aber nicht genau beschrieben werden, und „Gegenmaßnahmen sind nur allgemein zu formulieren.“

Neue Erkenntnisse würden „zeitnah weitergegeben“, wobei den „Fragen und Ängsten der Bevölkerung adäquat begegnet“ werden müsse. Trotzdem sei „anzunehmen, dass die Krisenkommunikation nicht durchgängig angemessen gut gelingt. So können beispielsweise widersprüchliche Aussagen von verschiedenen Behörden/Autoritäten die Vertrauensbildung und Umsetzung der erforderlichen Maßnahmen erschweren.“

„Dornröschenschlaf“ der Behörden

Das liest sich wie eine Blaupause in der gegenwärtigen Krise, ist es aber nicht. Im Szenario hatte es das RKI mit einem Virus zu tun, dessen Gefährlichkeit es selber definiert hatte. So hielten sich das RKI und andere Berater der Bundesregierung in der Anfangsphase der Krise zwar an der selbst verordneten Unverbindlichkeit. Nur war das keine Kommunikationsmethode, sondern programmatische Überzeugung.

Über das Ausmaß der sich entwickelnden Pandemie wussten sie nichts, und die Gefährlichkeit verglichen sie mit der saisonalen Grippe. Ansonsten ist es nicht zu erklären, warum niemand bis Ende Februar die Gesundheitsbehörden in den Ländern und in den Kommunen aus ihrem „Dornröschenschlaf“ (Kekule) geweckt hat.

Opfer eines Gedankenspiels

Aber das RKI könnte auch seinem eigenen Gedankenspiel zum Opfer gefallen sein: Im Vergleich zu Modi-SARS wirkt selbst die Spanische Grippe wie ein Kindergeburtstag. Eine positive Botschaft bietet dieser „Bericht zur Risikoanalyse im Bevölkerungsschutz 2012“ aber doch. Die Bevölkerung müsse „von der Sinnhaftigkeit von Maßnahmen (z. B. Quarantäne) überzeugt“ sein, so ist dort zu lesen.

Nur dann „werden sich diese umsetzen lassen.“ Das funktioniert zur Zeit besser als gedacht. Das ist nicht das Verdienst des RKI und der anderen wissenschaftlichen Berater der Bundesregierung. Vielmehr grenzt es an ein Wunder, dass es trotzdem klappt. Die können wir allerdings auch brauchen.

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