Kommunalwahlen in NRW - Herzflimmern der Sozialdemokratie

Am 13. September wählen die Menschen in Nordrhein-Westfalen Bürgermeister und Stadträte. Der SPD drohen in der ehemaligen Herzkammer der Sozialdemokratie massive Verluste. Erfolge bei einzelnen Oberbürgermeisterwahlen können den Niedergang nicht kaschieren.

Die Dortmunder Nordstadt hat sich zu einem sozialen Brennpunkt entwickelt / Marcus Simaitis
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Autoreninfo

Stefan Laurin ist freier Journalist und Herausgeber des Blogs Ruhrbarone. 2020 erschien sein Buch „Beten Sie für uns!: Der Untergang der SPD“.

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Es sind noch über drei Monate bis zur Kommunalwahl in Nordrhein-Westfalen, als Thomas Westphal an einem Samstag im Juni den Straßenwahlkampf eröffnet. Am 13. September will der Sozialdemokrat Oberbürgermeister von Dortmund werden. Doch Straßenwahlkampf ist in Corona-Zeiten keine einfache Sache. 

Der Stand der SPD zieht sich entlang einer Hecke, den Parkplatz des Supermarkts im Stadtteil Eving dürfen die Wahlkämpfer nicht betreten, und dann muss auch noch der Abstand zu den Menschen gewahrt bleiben. Gut ein Dutzend Sozialdemokraten begleiten Westphal, die Stimmung ist so gut wie das Wetter, doch das Interesse der Bürger gering. 

Die Wahl, obwohl die bundesweit wichtigste in diesem Jahr, ist noch weit weg. Und Corona nach wie vor das alles bestimmende Thema. Der 53-jährige Westphal steht für einen neuen Typus des sozialdemokratischen Politikers, eher Manager als Kumpeltyp. Ein Spruch wie „Datt beste am Wein is datt Pils danach“, mit dem Günter Samtlebe, Dortmunds Oberbürgermeister von 1973 bis 1999, einst ein Weinfest eröffnete, käme ihm nicht über die Lippen. 

Westphal siegesgewiss

Thomas Westphal weiß, dass er wohl in einen zweiten Wahlgang muss, an seinem Sieg zweifelt er aber nicht. Auch seinem Vorgänger Ulrich Sierau (SPD), der auf der „Höhe der Zeit“ abtreten will und dessen Wunschnachfolger Westphal ist, gelang bei den vergangenen Wahlen trotz Amtsbonus kein Sieg in der ersten Runde. Zweifel an seinem Sieg hat Westphal auch deshalb nicht, weil er nach einer Forsa-Umfrage von Ende Mai mit 35 Prozent vor seinem CDU-Konkurrenten Andreas Hollstein mit 31 Prozent liegt.

Hollstein, der Bürgermeister der sauerländischen Stadt Altena, wurde bundesweit bekannt, als er vor drei Jahren wegen der Unterstützung der Flüchtlingspolitik Angela Merkels mit einem Messer angegriffen und verletzt wurde. In der Corona-­Krise musste er sich um seine Stadt kümmern und konnte kaum Wahlkampf in Dortmund machen. Für Westphal ist das ein Vorteil. 

„Ich glaub“, sagt der Sozialdemokrat, „die Zahlen kann man noch weiter nach oben drehen.“ Dass die SPD-Vorsitzenden Saskia Esken und Norbert Walter-­Borjans ihm und seiner Partei bei der Wahl schaden werden, glaubt Westphal nicht: „Wir haben als Dortmunder gelernt, auf uns selbst zu zählen. Auch wenn die Großwetterlage im Bund anders wäre, wir schauen auf uns. Dortmund liegt deutlich über dem Bundestrend – somit war diese Formel richtig.“ 

Die SPD wird zur Dame ohne Unterleib

2014 kamen die Sozialdemokraten bei der Kommunalwahl im Ruhrgebiet auf 39 Prozent und landeten deutlich vor der Union mit 30 und den Grünen mit 10 Prozent. Doch das ist lange her. Damals lag die SPD in den Umfragen bundesweit noch bei weit über 20 Prozent. Bei der Europawahl 2019 konnte die SPD im Ruhrgebiet bei starken Verlusten mit 23 Prozent ihre Spitzenposition noch knapp vor der CDU behaupten. Die Grünen lagen mit 21 Prozent auf Augenhöhe und wurden in Städten wie Bochum und Dortmund zur stärksten Kraft. Im Mai-Ruhrtrend des Berliner Instituts Wahlkreisprognose, das allerdings nur das Wahlverhalten bei einer Bundestagswahl abfragte, lag die Union mit 29 Prozent deutlich vor der SPD mit 24 und den Grünen mit 15 Prozent. 

Es kann gut sein, dass die SPD-Spitze am 13. September der Partei zu „sehr guten Wahlergebnissen“ gratulieren wird, wie sie es nach den Kommunalwahlen in Bayern getan hat – ungeachtet der Wirklichkeit. Etliche SPD-Oberbürgermeister werden wie in Bayern ihre Ämter verteidigen können. Aber wie im März in Bayern werden die Sozialdemokraten auch im Ruhrgebiet zahlreiche Mandate in Stadträten und Kreistagen verlieren, in einigen vielleicht sogar hinter die Grünen zurückfallen. Die SPD, sie wird auch im Ruhrgebiet zur Dame ohne Unterleib.

Im Kreis der einstigen SPD-Hoffnungsträger

Der Dortmunder OB-Kandidat Thomas Westphal, der bislang Chef der lokalen Wirtschaftsförderung war, setzt auf klassische sozialdemokratische Themen: Den Nahverkehr will er ausbauen und im Bildungsbereich Schulen mit Vereinen, Ärzten, Kirchen und Wohlfahrtsverbänden vernetzen. In den kommenden zehn Jahren sollen 20 000 Wohnungen gebaut werden, neue Jobs entstehen und die Arbeitslosenquote auf 6 bis 8 Prozent gesenkt werden. Ein anspruchsvolles Ziel: Im Juni lag sie bei 11,8 Prozent. 

Über die Bundes-SPD mag Thomas Westphal nicht reden. Er konzentriert sich ganz auf Dortmund. Das war nicht immer so. 1993 wurde Westphal zum Bundesvorsitzenden der Jusos gewählt, galt als Hoffnungsträger. Auf eine Wiederwahl verzichtete er 1995 und schlug Andrea Nahles als Nachfolgerin vor. 

Wie Nahles gehört Westphal bis heute zu den Herausgebern der Zeitschrift für sozialistische Politik und Wirtschaft (SPW). Das Impressum bietet ein Who’s who der einstigen SPD-Hoffnungsträger: Neben Westphal steht da mit Benjamin Mikfeld ein weiterer ehemaliger Juso-Vorsitzender, heute Leiter der Abteilung Leitung, Planung und Strategie im Finanzministerium. Am weitesten gebracht hat es aus diesem Kreis Niels Annen, heute Staatsminister im Auswärtigen Amt.

Anders als ihre Vorgänger als SPW-Herausgeber Gerhard Schröder, Oskar Lafontaine und Rudolf Scharping hat keiner aus dieser Riege jemals eine Landesregierung angeführt oder es gar zum Kanzler gebracht. Gelingt es Westphal, im September Oberbürgermeister einer der größten deutschen Städte zu werden, wäre er einer der wenigen Genossen aus diesem Kreis, die es geschafft haben. 

Als die SPD aufhörte, bestimmende Partei zu sein

„Wir waren nicht erfolglos, aber die Generation der Enkel Willy Brandts hat es uns nicht einfach gemacht“, sagt Thomas Westphal. Die Schröders, Scharpings und Lafontaines hätten lange entscheidende Posten blockiert. „Und als sie abtraten, war die SPD in der Krise, die Ergebnisse schlechter und die Mitgliederzahl geringer.“ 

In die Zeit der Enkel fiel auch der beginnende Niedergang der SPD in Dortmund und im Ruhrgebiet. Einstige rote Hochburgen wie Frankfurt und Berlin waren schon längst geschliffen, als die SPD im Revier noch Triumphe feierte. 

Dann kam der 12. September 1999. Hunderte Genossen verfolgten damals in der Bürgerhalle des Dortmunder Rathauses mit offenen Mündern die Zahlen, die über die Leinwand flimmerten. Zum ersten Mal konnten die Dortmunder ihren Oberbürgermeister direkt wählen – und dann das: Volker Geers, Chef einer Hörgerätekette und Spitzenkandidat der CDU, hatte im ersten Wahlgang mit 45 Prozent den Kandidaten der SPD, Gerhard Langemeyer, geschlagen. Und das in Dortmund, der Stadt, die Herbert Wehner die „Herzkammer der Sozialdemokratie“ nannte. Es war ein schwarzer Tag für die SPD, nicht nur in Dortmund, sondern im ganzen Ruhrgebiet. 

An diesem Tag hörten die Sozialdemokraten auf, die bestimmende Partei im Revier zu sein. Langemeyer konnte sich in Dortmund im zweiten Wahlgang retten, aber in Essen, Gelsenkirchen, Hamm oder Duisburg, wo bis dahin galt, dass die Menschen auch einen Besenstiel wählen würden, wenn er denn rot lackiert wäre, hatten Christdemokraten die Rathäuser erobert. Im Ruhrgebiet war die CDU sogar stärkste Partei geworden: Die SPD kam im Revier auf knapp 41 Prozent, die CDU auf fast 44. Auch die bis dahin als SPD-Hochburgen geltenden Rheinmetropolen Köln und Düsseldorf waren an die Christdemokraten gefallen. 

Wie die SPD den Kontakt zu den Schichten verlor

Seit über 20 Jahren ist das Ruhrgebiet nun keine sozialdemokratische Hochburg mehr, werden Städte mal von SPD, mal von CDU-Oberbürgermeistern regiert. Ortsvereine werden wie überall wegen Mitgliedermangel zusammengelegt. Die SPD hat im Ruhrgebiet den Kontakt zu den Schichten verloren, die ihr früher zu Größe und Macht verhalfen. 

Die Gründe sind vielschichtig. Für Verbitterung sorgte, dass viele, die jahrzehntelang arbeiteten, in der Arbeitslosigkeit nach ein paar Monaten durch das unter Rot-Grün eingeführte Hartz IV auf einen Schlag so wenig Geld bekamen wie ein 18-Jähriger, der von zu Hause ausgezogen war. Genauso die Tatsache, dass auf die Betriebsrente der volle Krankenkassenbeitrag gezahlt werden musste – eine Folge des 2003 unter Rot-Grün beschlossenen Gesetzes zur Modernisierung der gesetzlichen Krankenversicherung. Die SPD war nicht mehr die Schutzmacht der kleinen Leute. Von denen hatte sie sich entfernt.

Unter Wolfgang Clement, erst Wirtschaftsminister, dann Ministerpräsident von NRW, verabschiedete sich die SPD in den Neunzigern im Ruhrgebiet von der Industrie. 

Ein neues Denken zieht ein an der Ruhr

Clement, der im Ruf stand, etwas von Wirtschaft zu verstehen und dies mit Auftritten voller Energie und scheinbar visionärer Kraft zu unterstreichen wusste, sah die Zukunft des Reviers in den Bereichen Dienstleistung und Medien. Er siedelte Callcenter an, im Movie-Park in Bottrop, heute ein reiner Vergnügungspark, sollten auch Filme gedreht werden – 2014 drehte Tom Hanks immerhin einen Tag lang in Bottrop für den Film „Ein Hologramm für den König“. Und dann war da das Zentrum High Definition Oberhausen (HDO), das über hundert Millionen D-Mark an Subventionen verschlang und das von der Entwicklung eines analogen, hochauflösenden Fernsehens über digitale Bildbearbeitung bis zu Trickfilmen alles Mögliche leisten sollte, was irgendwie modern klang. Das einzig greifbare Ergebnis der Hightechträume war ein Untersuchungsausschuss des nordrhein-westfälischen Landtags. Nach jahrelangem Leerstand werden die HDO-Gebäude heute als Ausbildungszentrum der Bauindustrie genutzt.

Clement und die SPD an Rhein und Ruhr hielten zwar aus Tradition am Berg­bau fest – die Grünen nannten sie deswegen seinerzeit spöttisch „Grubenponys“ –, aber die Zukunft, da waren sie sich sicher, würde im Dienstleistungsbereich liegen. 

In den neunziger Jahren wurde im Ruhrgebiet aus Industrie Industriekultur. Von 1989 bis 1999 lief die Internationale Bauausstellung Emscher Park (IBA) unter der Leitung von Karl Ganser: 2,5 Milliarden Euro, der größte Teil des Geldes kam von der öffentlichen Hand und staatlichen oder staatsnahen Unternehmen, flossen in den Umbau leer stehender Industrieanlagen. Die IBA hatte das Ziel, das nördliche Ruhrgebiet zu erneuern. Es sollte ökologischer werden, Ganser wollte „gute Architektur“ schaffen. Eine wirtschaftliche Erneuerung stand nicht im Zentrum. Der für das Projekt verantwortliche NRW-Stadtentwicklungsminister Christoph Zöpel hatte das Wort „Wirtschaft“ in seiner Eröffnungsrede nicht einmal benutzt. 

Aus ehemaligen Zechen und Stahlwerken wurden Tanztheater, Museen und Freizeitstätten. Industrie, das war etwas Altes und Gestriges. Ein Denken machte sich in der Ruhr-SPD breit, das es so bei den Christdemokraten und bei Sozialdemokraten etwa in Süddeutschland nie gab. Dort wusste man um die Bedeutung der Industrie für den Wohlstand, schätzte Großunternehmen wie Bosch, Siemens und Daimler ebenso wie die zahllosen, auf dem Weltmarkt erfolgreichen Mittelständler. 

Ergrünte Sozialdemokraten geben den Ton an

Die damaligen SPD-Wähler wussten im Gegensatz zur Partei, dass Jobs in der Industrie nicht nur gut bezahlt waren, sondern dass dank starker Betriebsräte und Gewerkschaften auch die Arbeitsbedingungen besser waren als bei den meisten Dienstleistern. In der SPD war dieses Wissen schon in den neunziger Jahren nicht mehr selbstverständlich. Lebensweltlich standen da schon viele Funktionäre und Mitglieder den Grünen nahe.

Seit den siebziger Jahren hatte sich die SPD auch im Ruhrgebiet akademisiert. Lehrer, Verwaltungsleute und Mitarbeiter in städtischen und staatlichen Unternehmen gaben zunehmend den Ton an. Die Gewerkschaft Verdi oder die Lehrergewerkschaft GEW liefen der IG Metall oder der IG Bergbau, Chemie, Energie und ihren Vorgängerorganisationen innerhalb der SPD in den meisten Städten des Ruhrgebiets den Rang ab. 

Der Aufstieg der SPD zur bestimmenden Partei des Ruhrgebiets begann in den späten fünfziger Jahren mit der Bergbaukrise. Die SPD war nun die Partei des Wandels, die in Bonn und Düsseldorf die Interessen von Industrie und Bergarbeitern zusammenbrachte. Mit viel öffentlichem Geld half sie, den Absturz der Industriebeschäftigten zu verhindern – über Subventionen für die Zechen, aber auch über die Schaffung neuer Jobs im öffentlichen Dienst. 

Viele Kumpel fanden Arbeit in den schnell wachsenden Stadtverwaltungen oder Landesbehörden wie der Polizei. Die SPD im Ruhrgebiet baute die Städte zu Unternehmen um, der Konzern Stadt wurde zum Leitbild: Städte kauften und gründeten Unternehmen, auch wenn sie es sich nicht leisten konnten. Acht Ruhrgebietsstädte erwarben von 2010 an für mehr als 1,2 Milliarden Euro das Energie­unternehmen Steag – zum größten Teil auf Pump. 

Als die SPD noch strukturkonservativ und ökonomisch kompetent war

Genossen kamen in städtischen Wohnungen unter, ihre Kinder fanden Ausbildungsplätze bei den Stadtwerken, den Funktionären winkten attraktive Jobs bei großen Energiekonzernen wie RWE. Die SPD im Ruhrgebiet war damals nicht links, sie war nicht einmal besonders politisch. Sie war eine breit aufgestellte Organisation zur Versorgung ihrer Anhänger und zutiefst strukturkonservativ. 

SPD-Fraktionsvorsitzende wie der Gladbecker Manfred Braun gingen mit Unternehmern im städtischen Wald auf die Jagd, man ließ sich bei Gelöbnissen der Bundeswehr sehen. Grüne wurden noch Anfang der Neunziger im Gladbecker Kulturausschuss in die Nähe von Ratten gestellt: Als das SPD-Ratsmitglied Jürgen Walkowitz damals das Stück „Die Ratten“ im Kulturprogramm der Stadthalle sah, kommentierte er launig, da sei ja auch ein Stück über die Grünen geplant. In der Energie, der damaligen Zeitung der IG Bergbau und Energie, wurden Atomkraftgegner gerne als Hippies dargestellt, um deren ungewaschene Haare Fliegen kreisten. Es war diese SPD, die in den Städten noch in den achtziger Jahren Ergebnisse von über 60 Prozent holte. In Bochum, Dortmund oder Essen war die SPD nicht eine Partei, sie war die Partei. Großzügig teilte sie den Kuchen mit der CDU, die, obwohl klein und in der Opposition, ab und an auch einen Amtsleiter oder Dezernenten abbekam und so weitgehend ruhig gestellt wurde.

Die SPD galt auch als die Partei mit Wirtschaftskompetenz. In den sechziger und siebziger Jahren kam es zu einer Reihe großer Industrieansiedlungen: Siemens baute Telefone in Gladbeck, Witten und Neukirchen-Vluyn, Opel den Kadett und Graetz Fernseher in Bochum, die Kraftwerk Union Turbinen für Kernkraftwerke in Mülheim an der Ruhr.

Ihre größte Stärke ist die Schwäche der Konkurrenz

Doch die großen, dauerhaften Erfolge blieben aus. Bis heute ist das Ruhrgebiet von Arbeitslosigkeit und wirtschaftlicher Schwäche geprägt. In der vergangenen zehnjährigen Boomphase wurde der Abstand des Reviers zu den anderen Regionen Deutschlands noch größer: Zwar wuchs auch zwischen Hamm und Duisburg die Wirtschaft, doch sie wuchs deutlich weniger als anderswo. Bochum, Essen und Dortmund, die großen Hochschulstandorte, ragen aus der Tristesse hervor, belegen jedoch in den verschiedenen Rankings der deutschen Städte die hinteren Plätze. 

Die SPD der Neunziger war anders. Friedens- und Umweltbewegung, die innerparteiliche Opposition gegen Helmut Schmidt, das alles hatte sie verändert. Gerade die Genossen, die in den Siebzigern in der Nachfolge der 68er in die Partei eingetreten waren und in den ideologischen Schaukämpfen der Jusos gestählt wurden, sahen sich deutlich linker als die Wähler und empfanden die Partei nicht mehr auf der Höhe der Zeit. Modern, das waren nun die Grünen mit ihrer Nähe zu den neuen sozialen Bewegungen. 

Manchmal macht es heute den Eindruck, als wüssten die Genossen nichts mehr vom Alltag im Ruhrgebiet. Ihre Welt ist nicht mehr die Welt ihrer einstigen Wähler. Ihre größte Stärke ist die Schwäche der politischen Konkurrenz.

Im Juni verkündete der Herner Oberbürgermeister Frank Dudda, der auch Spitzenkandidat seiner Partei für das Ruhrparlament ist: „Wir wollen die grünste Industrieregion der Welt werden!“ 

Lichtjahre zwischen Ruhr und Brenz

Das klingt nach vorne gewandt, hat aber mit der Wirklichkeit wenig zu tun: In keinem Landesteil Nordrhein-Westfalens gibt es weniger Industriearbeitsplätze als zwischen Duisburg und Hamm. Der Anteil des verarbeitenden Gewerbes liegt im Ruhrgebiet, dem einst wichtigsten Industriezentrum Europas, bei 16,6 Prozent und damit etwa 7 Prozent unter dem deutschen und nordrhein-westfälischen Durchschnitt. 

1991 waren noch 37 Prozent aller Beschäftigten im Revier im produzierenden Gewerbe tätig. Lichtjahre trennen das Ruhrgebiet heute von den reichen Industrieregionen wie Südwestfalen, dem baden-württembergischen Villingen-Schwenningen und Heidenheim an der Brenz, wo fast jeder Zweite bei hochinnovativen und auf dem Weltmarkt erfolgreichen mittelständischen Industriebetrieben beschäftigt ist. 

Duddas eigene Stadt Herne liegt mit einem Industrieanteil von 11 Prozent sogar noch weit unter dem Schnitt des Ruhrgebiets. 
In den Neunzigern begann im Land wie in den Städten des Ruhrgebiets auch die Zusammenarbeit zwischen SPD und Grünen, in deren Verlauf sich die Sozialdemokraten den Grünen immer mehr annäherten. In Bochum einigten sich beide Parteien jetzt sogar auf einen gemeinsamen Oberbürgermeisterkandidaten, nachdem die Grünen keinen passenden Bewerber fanden. Seit 2015 ist Thomas Eiskirch dort Oberbürgermeister. 

„Die SPD ist meine politische Heimat“, sagt der 49-Jährige. „Trotzdem glaube ich, dass ich nicht dem Bild entspreche, das über Jahrzehnte von den Sozialdemokraten im Ruhrgebiet gezeichnet wurde.“ Zuvor war Eiskirch im nordrhein-westfälischen Landtag und wirtschaftspolitischer Sprecher seiner Fraktion. Keine leichte Aufgabe in einer Zeit, als die Ministerpräsidentin Hannelore Kraft (SPD) hieß. Die interessierte sich nicht für Wirtschaft, repräsentierte lieber, als zu regieren, und überließ die Politik gerne dem grünen Koalitionspartner.

Die Bundes-SPD ist „nicht hilfreich“

SPD und Grüne arbeiten seit über 20 Jahren erfolgreich in Bochum zusammen. „Auch die Grünen sehen, was wir gemeinsam bewegen können“, sagt Eiskirch. Es gebe viele Themen, bei denen man zusammen für einen Aufbruch in der Stadt arbeite. Unter Eiskirch wurde das ehemalige Opel-Gelände zu einem Hightechindustriepark. Unternehmen wie Bosch und VW Infotainment, aber auch Institute der Ruhr-Universität siedeln sich hier an; der größte Teil der Fläche ist schon vermarktet. Gleichzeitig baut die Stadt die Radwege aus, investiert in erneuerbare Energien. Grün­flächen werden geschützt und trotzdem neue Wohnungen gebaut. Eiskirchs Wahl gilt als sicher, die in Bochum traditionell schwache CDU mit ihrem Kandidaten Christian Haardt hat gegen ihn keine echte Chance. 

Den Einfluss der Bundespolitik für die Kommunalpolitik hält Eiskirch für überschaubar. Das gelte nicht nur für Bochum mit seinen 372 000 Einwohnern, ist sich Eiskirch sicher, sondern noch stärker für kleine Städte, in denen die Bürger die Politiker persönlich kennen. 
Das sehen nicht alle so. Aber in der SPD des Ruhrgebiets kritisiert man die eigene Spitze nicht gerne öffentlich. Und die gilt als Problem – sowohl im Land als auch im Bund. Die Ausfälle von Saskia Esken gegenüber der Polizei kommen bei der sozialdemokratischen Klientel im Revier nicht an. Und das SPD-Spitzenduo in NRW, Parteichef Sebastian Hartmann und der Vorsitzende der Fraktion im Landtag Thomas Kutschaty, gelten als „nicht hilfreich“ für die Partei. 

Hartmann versuchte zuletzt, sich als Law-and-Order-Mann zu präsentieren. Aber das nimmt ihm niemand ab – in NRW und im Ruhrgebiet wird er kaum wahrgenommen. Gerade beim Thema Sicherheit bleibt er ohnehin chancenlos gegen Herbert Reul, der sich als Innenminister viel Anerkennung verdient hat.

Selbst die augenblickliche Schwäche von CDU-Ministerpräsident Armin Laschet, der mit seinem Schlingerkurs als einziger Regierungschef in der Corona-­Krise an Vertrauen verliert und sogar die Bewohner Nordrhein-Westfalens vom Bayern Söder träumen lässt, konnten beide nicht nutzen.

Nicht schön, aber die Menschen verdienten gut

Trotzdem ist Kutschaty mit Blick auf die Kommunalwahlen zuversichtlich: „Wir haben gute Chancen, als Sozialdemokraten zu punkten, das haben die Nachwahlen in Stolberg, Schwerte und Duisburg in den vergangenen Jahren gezeigt. Wo wir gute Kandidaten hatten, haben wir gewonnen.“ Auch was die Wahlen zu den Räten betrifft, sieht er gute Chancen: „Die Menschen können zwischen dem Bund und den Städten unterscheiden. Da, wo wir verwurzelt sind, werden wir gute Ergebnisse erzielen.“

Karlheinz Endruschat sieht das anders. Im vergangenen Jahr ist das Mitglied im Rat der Stadt Essen aus der SPD ausgetreten. Nun kandidiert er wieder für den Rat und hat sich dem Sozialliberalen Bündnis angeschlossen, in dem er nicht das einzige ehemalige SPD-Mitglied ist: „Die SPD hat sich von ihren ehemaligen Wählern entfernt“, sagt Endruschat. Er lebt im Essener Norden, genannt Alten­essen. Früher war das mal eine Arbeitergegend. Nicht schön, geprägt von Fabriken und Zechen, aber die Menschen verdienten gut. 

Heute ist der Norden der ärmste Teil der Stadt. Die Arbeitslosigkeit ist hoch, Türken und Deutsche, viele von ihnen Rentner, fühlen sich von den arabischen Zuwanderern bedrängt. Clans und islamistische Fundamentalisten haben an Einfluss gewonnen. „Das sind Probleme, die die SPD nicht sehen will. Sie glaubt, dass es modern wäre, das zu ignorieren“, sagt Endruschat. 

Die Schulen in Altenessen brauchen mehr Geld, der Stadtteil muss sicherer und sauberer, der Wegzug junger Menschen, auch Endruschats Tochter ist entnervt weggezogen, muss gestoppt werden. „Die SPD war früher die Partei, die sich unideologisch um die Sorgen der Menschen gekümmert hat. Sie war für sie da. Das ist vorbei“, sagt Endruschat. 

Macht sich bald die AfD breit?

In die Lücke, die die SPD hinterlassen hat, drängt die AfD – mit Leuten wie Guido Reil. Reil, heute Europaabgeordneter der AfD, war wie Endruschat früher in der SPD. „Ich will nicht, dass sich die AfD hier breitmacht. Ich will eine Politik für die Menschen hier im Viertel machen. Aber es darf keine Denk- und Sprechverbote geben“, so Endruschat. 

Bei der SPD eckte er zuletzt immer öfter an. Für den Rat wurde er nicht mehr aufgestellt, im Vorstand der Partei wollten sie den ehemaligen Sozialarbeiter, der früher einmal bei den Grünen war, auch nicht. Endruschat ist kein Populist, kein Polterer, eher ein nachdenklicher Typ. Aber auch einer, der sagt, was er denkt. Für so einen hat die SPD in Essen keinen Platz mehr. Dass sie bei der Wahl deutlich Stimmen verlieren wird, ist für ihn klar: „Und daran sind sie selbst schuld. Ignoranz wird vom Wähler bestraft.“

Von der Politik wird kaum noch etwas erwartet

Die SPD ist auch im Ruhrgebiet dabei, sich überflüssig zu machen. Für die Wählerschichten, die sie einst stark machten, ist sie nicht mehr attraktiv. Die Akademiker gehen zu den Grünen, die „kleinen Leute“ wählen AfD oder Linkspartei oder bleiben am Wahltag gleich zu Hause. Viel von der Politik halten die Menschen im „Pott“ ohnehin nicht. Nach Jahrzehnten des Niedergangs herrscht bei vielen im Ruhrgebiet eine Mischung aus Genügsamkeit und Lethargie. 

Von ihren politischen Vertretern erwarten die meisten nicht mehr als von sich selbst, und von sich selbst erwarten viele Menschen im Ruhrgebiet schon lange nicht mehr viel. Ein T-Shirt der Wattenscheider Punkband „Die Kassierer“ kommentiert dieses Denken und Fühlen nur leicht ironisch. Auf ihm stehen weiß auf schwarz drei Worte: „Dummheit, Armut, Ruhrgebiet!“
 

Dieser Text stammt aus der August-Ausgabe des Cicero, die Sie am Kiosk oder direkt bei uns portofrei kaufen können.

 

 

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