Karl Lauterbach über die Streeck-Studie - „Gangelt ist nicht repräsentativ für den Rest der Republik“

Die gerade veröffentlichte Studie des Virologen Hendrik Streeck hat die Bundesregierung in Erklärungszwang gebracht: War der Lockdown wirklich erforderlich? Der SPD-Gesundheitsexperte Karl Lauterbach sagt, die Studie sei nicht repräsentativ für Deutschland. Er räumt aber Fehler der Regierung ein.

Karl Lauterbach übt offen Kritik / picture alliance
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Autoreninfo

Antje Hildebrandt hat Publizistik und Politikwissenschaften studiert. Sie ist Reporterin und Online-Redakteurin bei Cicero.

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Karl Lauterbach ist Arzt, Epidemiologe und Professor für Gesundheitsökonomie sowie seit 2005 SPD-Abgeordneter im Bundestag. 

Herr Lauterbach, Sie sind Vater einer 13-jährigen Tochter. Am Montag hat die Schule wieder begonnen. Haben Sie diesem ersten Schultag mit Sorge oder Erleichterung entgegengesehen? 
Meine Tochter ist noch gar nicht wieder in der Schule. Sie besucht die achte Klasse eines Gymnasiums in Nordrhein-Westfalen, und die achten Klassen lernen immer noch zu Hause.  

Die hygienischen Bedingungen in den Schulen waren schon vor Ausbruch der Krise katastrophal. Jetzt herrscht die Angst, dass die Schulen zum Ort der „Durchseuchung“ werden könnten. Müssten Sie als Vater nicht über jeden Tag froh sein, den Ihre Tochter noch zu Hause bleiben kann?
Ich sehe das nicht als Vater, sondern als Epidemiologe.

Wie klappt es denn mit dem Homeschooling?
Ach, meine Tochter ist eine gute Schülerin und braucht wenig Unterstützung, das macht die Mutter ganz hervorragend. Ich mache mit ihr Mathematik. Über sie brauchen wir also nicht zu reden. Insgesamt ist das Homeschooling enttäuschend für alle Kinder. Da werden in der Regel nur Aufgaben geschickt, es ist kein richtiger Unterricht, der da stattfindet. Das kann man eine Zeitlang tolerieren. Aber für das nächste Schuljahr muss ein digitales Unterrichtskonzept her. 

Sie haben gerade einen Shitstorm mit dem Tweet ausgelöst: „Regulärer Unterricht fällt für mindestens ein Jahr aus“. Was meinten Sie damit?
Wir werden keine Klassen mit 30 Schülern bedienen können, weil die Hygiene-Konzepte nicht ausreichen, um die Übertragung des Virus zu verhindern. Es wird nicht den normalen Frontalunterricht geben. Die Wahrscheinlichkeit, dass es dann im Herbst eine zweite Pandemiewelle gäbe, wäre groß. Ich glaube, dass der normale Präsenzunterricht ergänzt werden muss durch ein Homeschooling hoher Qualität. 

Sie beziehen sich dabei auf eine Studie des Virologen Christian Drosten, der zufolge auch Kinder das Virus übertragen. Die gerade veröffentlichte Studie von Hendrik Streeck legt dagegen nahe, dass Kinder als Überträger gar keine große Rolle spielten. 
Das sagt die Streeck-Studie nicht. Danach war das Ansteckungsrisiko in Familien mit Jugendlichen erhöht. Die Studie ist aber auch keine Studie, die dieses Problem gezielt untersucht hat. 

Gibt es dazu schon belastbare Zahlen aus anderen Studien?
Ja, in Wuhan hat die University of Berkeley zusammen mit anderen untersucht: Wie groß war der Anteil der Schulschließungen an der Wirksamkeit des Lockdowns insgesamt? Der Anteil lag bei bis zu 40 Prozent. 

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Aber Hendrik Streeck will in Heinsberg jetzt Hinweise dafür gefunden haben, dass zumindest kleinere Kinder bei der Übertragung keine große Rolle spielen
Darf ich ganz ehrlich sein? Ich möchte nicht kommentieren, was Herr Streeck sagt. Die Gangelt-Studie ist eine wichtige und gute Studie, aber sie beschäftigt sich nicht zentral mit der Frage, wie ansteckend Kinder sind. Das war nur ein Nebenaspekt. Es ist eine Studie, in der es um 400 Haushalte ging. In aussagekräftigeren Studien geht es um Tausende Personen. 

Nach der Streeck-Studie haben sich 15 Prozent der Bewohner infiziert, die Sterblichkeitsrate liegt bei 0,37 Prozent. Die Zahlen legen nahe, dass das Ausmaß der Pandemie gar nicht so dramatisch ist, wie von der Bundesregierung suggeriert wurde.  
Die Zahlen beziehen sich nur auf die kleine Gemeinde Gangelt. Dort sind alte und jungen Menschen unterrepräsentiert. Und die Infizierten haben sich alle bei einem Event, dem Karneval, infiziert. Die Fälle konnten also früh entdeckt werden. Die schweren Fälle konnten alle in Top-Kliniken behandelt werden. Das ist nicht repräsentativ für den Rest der Republik. Wenn nur ein einziges Pflegeheim betroffen gewesen wäre, hätten wir gleich eine ganz andere Sterblichkeit gehabt. So waren es ja nur sieben Tote. 

Hendrik Streeck musste sich den Vorwurf gefallen lassen, er hätte dem nordrhein-westfälischen Ministerpräsidenten Armin Laschet mit seiner Studie die Vorlage für den Öffnungskurs geliefert. Sind Virologen käuflich? 
Nein, Virologen sind nicht käuflich, und ich würde diesen Vorwurf auch für Herrn Streeck nicht gelten lassen. Ob der Zeitpunkt der Vorveröffentlichung der Zwischenergebnisse glücklich gewählt war, sei mal dahingestellt.  

Die Kanzlerin setzt stark auf die Expertise des Robert-Koch-Instituts (RKI) und von Christian Drosten. Beide haben die Gefahr einer weltweiten Ausbreitung der Pandemie noch Anfang des Jahres geleugnet, und das RKI hat den Nutzen von Masken erst bestritten und sich dann für eine Maskenpflicht ausgesprochen. Wie sollen Bürger einer Regierung vertrauen, die heute „Hü!“ und morgen „Hott!“ sagt? 
90 Prozent der Aussagen der Virologen waren durch wissenschaftliche Studien sehr gut abgedeckt. Christian Drosten hat seine Meinung nur in den Punkten geändert, in denen sich die Studienlage geändert hat. Ich war immer wieder überrascht, wie schnell und gründlich er sich in neue Studien eingearbeitet hat. Was diesen Teil betrifft, haben wir in Deutschland großes Glück gehabt.  

Für sage und schreibe zehn Millionen Menschen wurde inzwischen Kurzarbeit angemeldet. War die Politik gut beraten, vor dem Lockdown nur die Virologen zu konsultieren?
Wir haben zumindest vieles richtig gemacht – die Schließung der Schulen zum Beispiel. Die Annahme, dass die wichtig sind bei der Verbreitung der Krankheit, hat sich im Nachhinein als richtig erwiesen. Wir sind einigermaßen gut durch die Krise gekommen mit einer Kombination aus Glück und Vorsicht. 

Hat die Regierung gar nichts falsch gemacht?
Doch, auf jeden Fall. Fehler werden immer gemacht. Ich würde mich freuen, wenn wir schon weiter wären mit der Tracking-App und mit der Produktion von qualitativ hochwertigen Masken. Da sind wir noch nicht, wo wir sein könnten.  

Immer mehr Bürger sind empört über die Einschränkung der Grundrechte. Mit „Widerstand 2020“ hat sich jetzt sogar eine eigene Partei aus Protest gegen die Grundrechtsbeschränkungen gebildet. Ihr Gründer, ein HNO-Arzt, findet, die Maskenpflicht sei überflüssig und alle geschlossenen Einrichtungen müssten sofort geöffnet werden. Was würden Sie dem antworten?
Dass es unverantwortlich ist, mit seiner Autorität als Arzt die Gesundheit der Menschen zu gefährden. 

Aber auch die Bundesländer reagieren jetzt auf die wirtschaftliche Rezession: Vorsicht war gestern, jetzt will jeder der Vorreiter bei Lockerungen sein – sogar Markus Söder. Fällt der Gesundheitsschutz dem Profilierungsstreben der Länderchefs zum Opfer?  
Im Moment wird viel riskiert, das stimmt. Die Länder gehen bei den Lockerungen an die Grenze heran. Ich hoffe, dass es gut geht. Auf der Haben-Seite ist aber die Obergrenze von 50 neuen Fällen pro Woche auf 100.000 Einwohner. Selbst wenn das streng kontrolliert und eingehalten wird und wenn Lockerungen wieder zurückgenommen werden, bleibt es immer noch gefährlich und wäre nicht meine erste Wahl gewesen. 

Aber welche Folgen hat es, wenn ganz Deutschland seinen Sommerurlaub entweder an der Ostsee oder in Bayern verbringt? Drohen da nicht weitere Ischgls
Ich hoffe nicht, die Hygiene-Standards müssen dann auch eingehalten werden. Falls nicht, würden wir das aber sofort sehen. Und dann würden sofort Konsequenzen gezogen.  

Was sagen Sie dazu, dass die Bundesliga-Saison  am 15. Mai weitergeht?
Dieser Beginn gibt das völlig falsche Signal. Es entsteht der Eindruck, dass man nach einem Kontakt mit einem Infizierten nicht in Quarantäne muss und dass das Virus jungen, gesunden Sportlern nichts anhaben kann. Beides ist falsch.

Bisher steigt die Zahl der Neuansteckungen nur moderat, und das, obwohl es die Menschen seit Ostern in Scharen ins Freie zieht und sich viele nicht um den Mindestabstand scheren. Waren die Warnungen des RKI nicht doch übertrieben? 
Nein, das sehen wir ja daran, dass Länder, die mit Warnungen gezögert haben, erheblich viele Todesopfer zu beklagen haben – zum Beispiel Schweden. Was wir in den vergangenen zwei Wochen gesehen haben, ist, dass die Masken schon etwas gebracht haben. Das war ein wichtiger Schritt nach vorn. 

Obwohl die SPD mit in der Bundesregierung sitzt, konnte sie sich in der Coronakrise nicht profilieren. Während die Union nach Umfragen auf 37,9 Prozent zulegen konnte, liegt die SPD unverändert bei 16,1 Prozent. Dabei sind Finanzminister Olaf Scholz und Arbeitsminister Hubertus Heil gerade die wichtigsten Männer der Stunde. Was läuft da schief? 
Keine Ahnung. Ich weiß nur, dass Scholz, Heil und auch Franziska Giffey einen sehr guten Job machen. Auf die können wir auch als Partei stolz sein. Die Qualität der Arbeit, die derzeit geliefert wird, ist in so einer Krise wichtiger als die Umfrageergebnisse.  

Obendrein hat mit Johannes Kahrs jetzt auch noch einer der profiliertesten Haushaltspolitiker sein Bundestagsmandat niedergelegt – aus Protest darüber, dass die Fraktion nicht ihn, sondern Eva Högl zur neuen Wehrbeauftragten ernannt hat. Kann es sich die SPD in der Krise leisten, sich auf Nebenkriegsschauplätzen aufzureiben?
Der Rücktritt einer Einzelperson aus der zweiten Reihe ist nicht wirklich maßgeblich. Ich bedaure den Rücktritt von Kahrs, er ist ein fähiger Haushaltspolitiker. Ich nehme an, er geht in die Wirtschaft. Dabei wünsch ich ihm viel Glück.  

Die Fragen stellte Antje Hildebrandt

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