Drama um Kanzlerkandidatur bei der Union - Lasst die Fraktion entscheiden!

Jetzt rächt es sich, dass CDU und CSU kein verbindliches Verfahren zur Kür des gemeinsamen Kanzlerkandidaten haben. In dieser verfahrenen Situation kann es nur noch eine vernünftige Lösung geben: Die Bundestagsabgeordneten beider Parteien abstimmen zu lassen.

Es kann nur einen geben / dpa
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Autoreninfo

Michael Sommer lehrt an der Universität Oldenburg Alte Geschichte und moderiert gemeinsam mit Evolutionsbiologe Axel Meyer den Cicero-Wissenschafts-Podcast

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Das wichtigste Amt, das die Republik von jetzt an bis zur Bundestagswahl am 26. September zu vergeben hat, gibt es eigentlich gar nicht. Deutschland ist eine parlamentarische Republik nach dem Modell von Westminster: Per Volkswahl gewählt wird das Parlament, das nach Artikel 63 Grundgesetz auf Vorschlag des Bundespräsidenten ohne Aussprache den Bundeskanzler bestimmt.

Dennoch ist es guter Brauch, dass die Parteien dem Souverän, den Wählern also, bereits geraume Zeit vor dem Urnengang die „K-Frage“ beantworten, wie es neudeutsch-infantil heißt, mit anderen Worten: einen Kanzlerkandidaten nominieren, mit dem sie in die Wahlschlacht ziehen. Das ist so, seit sich in den 1950er Jahren die Parteienlandschaft in Deutschland per Konzentration auf zwei Volksparteien so sortiert hat, dass der Kanzler entweder aus den Reihen der Union oder der Sozialdemokraten kommt. Die SPD ist diesmal bereits vor geraumer Zeit vorgeprescht und hat sich für Olaf Scholz entschieden, die Grünen wollen ihre Kür – erstmals überhaupt – am 19. April vornehmen und dann sagen, ob ihre Galionsfigur Annalena Baerbock oder Robert Habeck heißt.

Im Rampenlicht der Medien

Die SPD liegt zur Zeit in den Umfragen bei gut 15, die Grünen bei über 20 Prozent. Nach jetzigem Stand ist der SPD-Kandidat in sämtlichen denkbaren Koalitionskonstellationen chancenlos, die Nominierung von Scholz allenfalls von akademischem Interesse. Spannender ist die K-Frage schon bei den Grünen, die, sollte am Ende die Ampel für Rot-Rot-Grün auf Grün stehen, wohl den Zugriff auf den Posten des Regierungschefs hätten.

Unbestritten die besten Aussichten auf das Amt des Regierungschefs hat trotz dramatischer Verluste in den Umfragen der letzten Wochen aber noch immer der Unionskandidat, ob er nun Laschet oder Söder heißt. Deshalb ist Unions-Kanzlerkandidat in den kommenden fünf Monaten der Job, auf den es ankommt: Niemand wird medial vergleichbar im Rampenlicht stehen wie der Mann, den CDU und CSU ins Kanzleramt hieven wollen.

Keine einheitlichen Kriterien für die Kandidatenkür 

Das Gezerre um die Kandidatenkür rückt einen nur vordergründig überraschenden Befund ins Blickfeld: dass es in den Unionsparteien kein von allen akzeptiertes Verfahren gibt, einen Kanzlerkandidaten zu bestimmen. Vordergründig deshalb, weil es das Amt ja weder nach den Parteistatuten noch nach dem Bundeswahl- oder gar Grundgesetz überhaupt gibt. Mit Blick auf die Bedeutung der Kandidatenfrage in der öffentlichen Wahrnehmung kann man allerdings angesichts der Aporien, in denen die Schwesterparteien jetzt stecken, nur den Kopf schütteln.

Auf einen Modus haben sich auch andere Parteien nicht verbindlich festgelegt. Bei der SPD hat 2020 der Vorstand in Klausur Scholz auf den Schild gehoben. In der Vergangenheit hatte die Partei immer wieder auch mit Mitgliederentscheiden geliebäugelt, dann aber stets die Finger davon gelassen. Auch bei den Grünen entscheidet der Bundesvorstand. Bei CDU und CSU dagegen ist es kompliziert. Die Schwestern sind zwei Parteien, jede mit eigenem Vorstand und Präsidium. Die Spitzengremien der CDU haben sich auf Laschet festgelegt, die der CSU dagegen auf Söder. Was also tun?

Das Wolfrathshauser Frühstück 

In der Vergangenheit war die Nominierung eines Spitzenkandidaten nie ein Problem, wenn die Union – und das war dann stets die CDU – den Kanzler stellte und der sich wieder zur Wahl stellte. Das war 1953, 1957 und 1961 so, als Konrad Adenauer zur Wiederwahl antrat, ebenso 1965, als Ludwig Erhard, und 1969, als Kurt Georg Kiesinger sich zur Wahl stellte. Dito 1983 bis 1998, als Helmut Kohl, und 2009 bis 2017, als Angela Merkel jeweils die Wiederwahl anstrebten.

Potentiell konfliktträchtig wurde es, wenn die Unionsparteien aus der Opposition in Bundestagswahlen gingen. 1972 einigten sich die Schwesterparteien ohne Probleme auf den CDU-Vorsitzenden Rainer Barzel, 1976 auf seinen Nachfolger Helmut Kohl als Kanzlerkandidaten. Ebenso unumstritten war 2005 die Nominierung Angela Merkels. Offen war das Rennen dagegen 2002, als – nachdem zwei Jahre zuvor Wolfgang Schäuble infolge der CDU-Spendenaffäre vom Parteivorsitz zurückgetreten war – mit Angela Merkel, Edmund Stoiber und Friedrich Merz gleich drei Unionspolitiker ihr Interesse angemeldet hatten. Damals wurde die Kandidatenfrage im kleinsten Kreis zwischen Merkel und Stoiber beim „Wolfratshauser Frühstück“ entschieden: zugunsten von Stoiber, nachdem die Umfragen ihm die wesentlich besseren Chancen eingeräumt und sich auch viele CDU-Ministerpräsidenten für ihn ausgesprochen hatten.

Das Duell zwischen Albrecht und Strauß 

Zum Eklat kam es im Vorfeld der Bundestagswahl 1980, nachdem der CSU-Vorsitzende Franz Josef Strauß bereits im Jahr zuvor sein Interesse an der Kandidatur bekundet, der CDU-Bundesvorstand sich aber für den niedersächsischen Ministerpräsidenten Ernst Albrecht ausgesprochen hatte. Ein Hauch von Kreuth lag in der Luft, denn wochenlang wurde, zum Schaden für die Union und für beide Kandidaten, öffentlich und sehr kontrovers diskutiert, bis schließlich die gemeinsame Bundestagsfraktion sich in geheimer Abstimmung mehrheitlich – mit 135 von 237 abgegebenen Stimmen – für Strauß aussprach, der prompt die Wahl gegen Helmut Schmidt verlor.

Schon jetzt ist klar, dass es 2021 auf eine Art Neuauflage von 1980 hinausläuft. Die für alle Seiten vorzuziehende Option wäre ein Frühstück in Nürnberg oder Aachen gewesen, aber diese Chance war spätestens in dem Moment vertan, als Söder seine Ankündigung zurücknahm, eine Entscheidung der CDU-Spitzen für Laschet „ohne Groll“ zu akzeptieren und sich seinerseits Rückendeckung durch das CSU-Präsidium besorgte.

Armdrücken oder Urwahl durch die Mitglieder? 

Jetzt fällt der Union vor die Füße, dass sie sich nicht auf verbindliche Regularien für die Kandidatenbestellung geeinigt hat. Einen Rücktritt vom Anspruch auf die Kandidatur würde keiner der beiden Streithähne ohne Gesichtsverlust überstehen. Will man also die K-Frage nicht durch ein zünftiges Armdrücken zwischen den Parteichefs ausknobeln, bleiben als legitimitätsstiftende Verfahren nur die Urwahl durch die Mitglieder beider Parteien oder die Kür durch die gemeinsame Bundestagsfraktion.

Ein Mitgliederentscheid wäre viel zu zeitaufwendig und hätte, wie die SPD mehrfach leidvoll erfahren musste, sowieso seine Tücken. Will die Union den Schaden nicht ins Unermessliche wachsen und am Ende die Frage vielleicht irrelevant werden lassen, wen sie nominiert, dann muss die Fraktion die Entscheidung herbeiführen, und zwar zügig.

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