Sohn von Winfried Kretschmann - JFK aus Sigmaringen

Johannes Kretschmann, Sohn des baden-württembergischen Ministerpräsidenten, will nach einem bislang stark mäandernden Lebenslauf für die Grünen in den Bundestag. Und seine Chancen dafür stehen gar nicht schlecht.

Nach einigen Stationen im Lebenslauf will Johannes Kretschmann nun in den Bundestag / Annette Cardinale
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Johanna Henkel-Waidhofer ist Korrespondentin für Landespolitik in Baden-Württemberg für mehrere deutsche Tageszeitungen. 

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Natürlich steckt viel Winfried in Johannes, wie sollte es auch anders sein. Politisch gehen beide Kretschmänner ebenfalls ähnliche grüne Wege durch ehemals schwarzes Land, allerdings auf getrennten Ebenen: Der Sohn des baden-württembergischen Ministerpräsidenten strebt in den Bundestag, wohin der Vater nie wollte. Und trotz des Umfrage-Abschwungs seiner Partei hat er noch immer Chancen auf das Direktmandat in dem von der CDU über Jahrzehnte beherrschten Wahlkreis Sigmaringen-Zollernalb, geprägt von Junger Donau und Schwäbischer Alb.

„Wenn ich Karriere hätte machen wollen, hätte ich sie schon gemacht“, sagt der 43-Jährige mit dem mäandernden Lebenslauf und dem Habitus eines Bohemiens. Die einen halten ihn für kauzig, schon wegen der fein ziselierten Ausdrucksweise. Andere schwärmen von seiner Vielseitigkeit. 

Lücken im Lebenslauf

Anfang Juli waren die örtlichen Grünen mit ihrem Bundestagskandidaten zu Gast beim Fürst von Hohenzollern, um über den Wald in der Klimakrise zu sprechen. Zum Ausklang des Tages intonierte Kretschmann Schuberts „Heidenröslein“ auf dem Waldhorn. Das Instrument stehe für Spielfreude und Leutseligkeit, sagt er, und die wolle er in die Berliner Politik tragen. Und nennt gleich noch ein paar andere Mitbringsel: Hochachtung vor der Magie des Wortes, Pragmatismus und Bodenständigkeit, Sitzfleisch und Reflexionsvermögen, Frustrationstoleranz und „als Binokel-, Skat- und Würfelspieler die Bereitschaft, den Gegenpart aus der Reserve zu locken, damit er Farbe bekennt“.

Die eigene Farbe ist grün, solange er denken kann. An den GAU in Tschernobyl erinnert er sich, weil die Kretschmann- und die anderen Kinder damals nicht mehr im Sand spielen durften. Mit 16 etabliert er eine Ortsgruppe der Grün-Alternativen Jugend in Sigmaringen, fünf Jahre später tritt er in die Partei ein. Es folgen das Studium der Religionswissenschaften, Rumänistik und Linguistik in Überlänge in Berlin und acht Jahre als Online-Journalist beim Schweizer Portal bluewin.ch

Nach seiner Rückkehr in die Heimat wird er 2014 in den Kreistag gewählt, seit 2019 führt er die Grünen-Fraktion. Die Spur in die Kommunalpolitik legte jedoch nicht der Vater, sondern Mutter Gerlinde, die 15 Jahre lang im Sigmaringer Gemeinderat und fünf Jahre im Kreistag saß. 

Nicht in Schublade zu stecken

Auch in der jüngeren Vergangenheit sei es gelungen, genügend vernünftige Leute zu finden, die vor Ort für die Grünen stehen „und die den Kopf hinhalten“, sagt er, etwa in den immer wiederkehrenden Verbotsdebatten. Kretschmann beschreibt seine Partei im Gegensatz dazu als eine freiheitliche. Es gehe nicht darum, sich ungebührlich einzumischen ins Leben anderer: „Was tatsächlich immer stärker in unser Leben eingreift, das ist die Klimakrise, ganz egal, welche Haltung wir dazu haben.“ 

Seine thematische Bandbreite ist beachtlich. Im Geiste der Humanität will er mithelfen, „nationalistische Druckwellen klein zu halten“. Europa müsse stärker von den Rändern her betrachtet werden, als Rumänist könne er einen Beitrag leisten. Neulich hat er in der Nähe des Sigmaringer Stadtteils Laiz einem rumänischen Autofahrer in dessen Muttersprache den Weg erklärt – zur Freude beider.

Langsam aber sicher

Kretschmann junior, der als Mittel­initial ein F für Friedrich führt und sich – die Assoziation nicht scheuend – JFK abkürzt, sagt nicht Laiz, auch nicht Loiz, sondern irgendetwas dazwischen, was obendrein je nach Gesprächspartner anders klingt. Mit seiner Mutter schwätzt er Schwäbisch, mit dem Vater eher jenes Hochdeutsch, das Berliner, Hamburger oder Kölner schon für breiten Dialekt halten. Er will sich für den Erhalt regionaler sprachlicher Färbungen einsetzen, weil die für Vielfalt stünden und bewahrenswert seien „wie ein seltener Schmetterling“. Außerdem weiß er, dass so in vielen Gesprächen Barrieren fallen, vor allem im Straßenwahlkampf, wenn und weil das Idiom verbindet.

Ein Thema wird dabei selten ausgespart: die Frage nach dem berühmten Vater als Vorbild. „Ich habe meine eigene Substanz“, sagt der Sohn nachdenklich und selbstbewusst zugleich. Er wolle zehren von reichhaltigen eigenen Erfahrungen, hofft als Abgeordneter einer großen grünen Fraktion in Berlin kein Getriebener zu werden. 

Dass er ins Parlament einzieht mit seinem Listenplatz 22, ist vergleichsweise sicher – auch dann, wenn er dem bisherigen Platzhirsch, dem CDU-Staatssekretär Thomas Bareiß, das Direktmandat doch nicht abnehmen kann. Vielleicht wird er Karriere machen ganz im Stil der Kretschmänner – langsam, aber sicher. Als Vater Winfried so alt war wie Johannes, flog er aus dem Stuttgarter Landtag. Bei der nächsten Wahl kam er wieder. Um zu bleiben. Für Jahrzehnte.

 

Dieser Text stammt aus der August-Ausgabe des Cicero, die Sie jetzt am Kiosk oder direkt bei uns kaufen können.

 

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