Stanford-Professor Ioannidis über die Corona-Pandemie - „Das hatte nichts mit sauberen wissenschaftlichen Spielregeln zu tun“ (Teil 1)

Der renommierte Medizin-Professor John Ioannidis warnte angesichts mangelnder Daten und qualitativ schlechter Studien bereits in der frühen Phase der Corona-Pandemie vor überstürzten politischen Entscheidungen. Im Interview kritisiert er, dass Influencer und Politiker den Takt der kollektiven Hysterie von Beginn an auf Kosten wissenschaftlicher Spielregeln vorgaben.

Zentrales Symbol der Corona-Pandemie: die FFP2-Maske / dpa
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Autoreninfo

Ernst Timur Diehn ist freier Journalist und Buchautor. Für seine politischen TV-Beiträge erhielt er internationale Auszeichnungen.

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John Ioannidis ist Professor für Medizin, Epidemiologie und biomedizinische Datenwissenschaft an der Stanford-University und gehört zu den zehn meistzitierten Wissenschaftlern der Welt. Als BIH-Gastprofessor an der Charité baut Ioannidis derzeit in Berlin das „Meta Research Innovation Center Berlin“ („METRIC B“) auf. Wir veröffentlichen das Gespräch in zwei Teilen. 

Herr Ioannidis, seit Ausbruch der COVID-19-Pandemie erleben wir eine Art Crash-Test für die Gesellschaft und das Wissenschaftssystem. Wissenschaftler wurden zu Medienstars, gleichzeitig wurde wissenschaftliches Handeln politisiert. 

Fast schon zeitgleich zum Ausbruch der Pandemie erlangten einige wenige, medienaffine Wissenschaftler eine enorme Sichtbarkeit. Plötzlich wurden Wissenschaftler öffentlich heroisiert oder dämonisiert, sie wurden von ihren eigenen Anhängern auf Social Media verteidigt, von anderen wiederum wütend angegriffen und diffamiert. Dies trug zur Überhitzung der eigentlichen wissenschaftlichen Debatte mit bei.

Die Überreizung der Öffentlichkeit war doch vor allem der Lage geschuldet: Zu Beginn der Pandemie im März 2020 gab die WHO bekannt, dass COVID eine schockierend hohe Todesrate von 3,4 % aller erfolgten Infektionen weltweit bewirken würde.

Wir müssen vor allem berücksichtigen, dass es zu Beginn der Pandemie keine Daten gab, oder noch schlimmer: Daten von offensichtlich schlechter Qualität. Wenn eine Krankheit auftaucht, die große Teile der Bevölkerung töten könnte, haben plötzlich alle ein gefühltes Mitspracherecht und sehr viele neigen schnell dazu, starke Positionen einzunehmen. 

Das ist menschlich nur allzu verständlich. 

Ja, aber gerade dann, wenn wir vor einer akuten neuen Herausforderung stehen, ist es entscheidend, einen offenen, fair abwägenden Diskurs aufrechtzuerhalten. Das klappt nur, wenn sich eine unterschiedliche Vielzahl von wissenschaftlichen Experten mit ihren Positionen zu Wort melden können. Diese müssen gleichwertig betrachtet und abgewogen werden. Leider ergriffen auch Leitmedien oft zu früh und zu einseitig Partei, ohne dabei zu reflektieren, wie Wissenschaft funktioniert. Das Ergebnis: Unsere Reaktion auf die Pandemie führte über Nacht zu einer beängstigenden neuen Form des wissenschaftlichen Universalismus. Blitzschnell wurde die Debatte von starken, personalisierten Glaubenssystemen vereinnahmt. Wie können seriöse Wissenschaftler in so einer Lage noch reagieren? Was können Sie zu Beginn sagen, außer „wir haben keine Daten?“ „Wir haben zu schlechte Daten?“


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Aber es war natürlich richtig, dass sich zum Beispiel Datenwissenschaftler, Virologen oder auch Experten für Intensivpflege mit unterschiedlichen Positionen früh geäußert haben, oder nicht?

Ja, natürlich, aber zu Aspekten, bei denen ihr jeweiliger Beitrag relevant ist. Aber ein Datenwissenschaftler weiß praktisch nie genug über Infektionskrankheiten und ein durchschnittlicher Virologe weiß nicht weit mehr über Epidemiologie als Sie und ich. Dafür sind sie nicht ausgebildet worden. Das ist etwa so, als würde man mich über Erdbeben befragen. Ich beschäftige mich mit Risiken, also könnte ich wahrscheinlich im Fernsehen schnell auch Interessantes zum Risiko von Erdbeben vorbringen. Aber wissenschaftlich gesehen habe ich keine Ahnung von Erdbeben!

Und Sie glauben, eine wichtige Ursache für die enorme Emotionalisierung war, dass einige wenige Stimmen aus der Wissenschaft zu schnell zu prominent gemacht wurden? 

Es wurde eine neue Elite von „Medienwissenschaftlern“ erschaffen, die sofort unter dem Druck stand, jeden Tag zu allen möglichen komplexen Aspekten der Krise etwas Überzeugendes sagen zu müssen. Der unvoreingenommene Skeptizismus ist zu kurz gekommen, dabei ist es ein Grundprinzip von Wissenschaftlichkeit Nuancen zu erkennen, das Nachdenken zu fördern, Mäßigung zu vermitteln und sich gegenseitig mit Respekt zu begegnen. Das ist genau das, was die Wissenschaft der Gesellschaft zu geben hat. Als Wissenschaftler hört man seinen Kritikern zu und gibt sich größte Mühe, die Probleme mit Daten, mit den Methoden, die man zur Analyse verwendet, gründlich zu durchdenken. Die Vorsicht gebietet, dass man sich von seinen eigenen Ergebnissen distanziert – zumindest sollte man das tun. 

Sehr viele Menschen fühlten sich in Todesangst versetzt oder sorgten sich um ihre Nächsten. Sie wollten in den Nachrichten wissenschaftliche Autorität personal vertreten sehen, die verkündet, wie man die Lage pragmatisch retten kann. 

Ich kann es nur wiederholen: Die skeptische Haltung gegenüber Gewissheiten ist der Kern wissenschaftlichen Denkens. Und genau das wurde plötzlich sogar als Bedrohung für die öffentliche Gesundheit missverstanden. Tatsächlich evidenzbasierte Ansätze – randomisierte Studien und die Erhebung von genauen, tragfähigen Daten – finden in einer ganz anderen Geschwindigkeit statt, als das Tempo, das von Medien, Öffentlichkeit und Politik gefordert wurde. Nicht nur in der Boulevardpresse und in den sozialen Medien forderten prominente Stimmen, zuverlässige Studiendesigns als unangemessen langsam und damit als „schädlich“ einzustufen. Die Folge war für die Wissenschaft fatal: Zwangsläufig wurde es immer schwieriger, genau nachzuvollziehen, was im Rahmen der Pandemie eigentlich vor sich ging.

Stattdessen wurde entschlossen gehandelt, es wurden Maßnahmen umgesetzt. 

Wir haben die Lockdowns verhängt und das Projekt Zero Covid als strategisches Ziel gesetzt, ohne, dass man hierzu vorher eine einzige randomisierte Studie durchgeführt hat. Alles was nötig war, um Maßnahmen von solch extremer Reichweite zu beschließen, waren einige Experten in den Leitmedien, dazu Politiker und Influencer mit großer Reichweite in den sozialen Medien Tag für Tag in einer Art Endlosschleife, die insgesamt einen Dominoeffekt geschaffen hat. Jetzt – zwei Jahre später – kratzen wir uns am Kopf und fragen uns: Wie konnte es soweit kommen? Von diesen Strategien, die als „alternativlos“ dargestellt wurden, davon steht nichts in unseren Lehrbüchern, das war nicht das, was frühere Studien überhaupt suggerierten. Das hatte alles praktisch nichts mit sauberem wissenschaftlichem Konsens zu tun.

John Ioannidis / Berlin Institute of Health

Es gab zum Beispiel viele frühe Indizien, dass COVID-19 vor allem für hochbetagte, dabei immungeschwächte Menschen ein ernsthaftes Gesundheitsproblem darstellt – in Verbindung mit anderen lebensbedrohlichen Krankheiten oder Konditionen. Anstatt sich darauf zu konzentrieren, diese Risikogruppen im täglichen Umgang mit der Pandemie intensiv zu unterstützen, verfestigte sich das vorherrschende Narrativ zu „Wir befinden uns alle im Krieg mit einem tödlichen Virus!“.

Und im Krieg muss nun mal jeder Befehle befolgen. Können Sie uns noch einmal genau erläutern, wie es zum entscheidenden „Tipping Point“ kam?

Ehrliches Hinterfragen und das Erforschen alternativer Wege wurden als Verrat an der öffentlichen Gesundheit interpretiert. Alles, was ein Wissenschaftler sagte oder schrieb, konnte fortan als Waffe für die eigenen politischen Ziele eingesetzt werden. Wer Maßnahmen im Bereich der öffentlichen Gesundheit, wie Masken und Impfstoffe, an eine politische oder andere Fraktion bindet, befriedigt dann zwar die Anhänger dieser Fraktion. Er verärgert aber gleichzeitig die gegnerische Fraktion.

Sie haben Morddrohungen erhalten. Und wegen Ihrer Studienergebnisse wurden Sie von Medienvertretern in einigen Ländern als „links“ und in anderen Ländern wiederum als „alt-right“ einsortiert. 

Wäre ich weniger bekannt gewesen, hätte es noch schlimmer kommen können. Für seriöse Wissenschaftler stellte sich doch die Frage: Können wir uns dieser außer Kontrolle geratenen Debatte überhaupt noch anschließen? War es eine gute Idee, mit exakten Wahrscheinlichkeiten und Messunsicherheiten noch publik zu gehen? Machte es noch Sinn, sich gegen Journalisten zur Wehr zu setzen, wo diese sich dafür entscheiden, Aussagen zu färben, sogar zu verfälschen, nur damit diese in ihr Schema passten? Hervorragende Forscher sahen sich gezwungen, mitten in diesem Chaos ihre Stimme verstummen zu lassen. Wir haben klare Evidenz, dass sehr viele Wissenschaftler für ihre Perspektiven, ihre Beiträge, auf inakzeptable Art persönlich angegriffen wurden. Mir persönlich tun dabei besonders die Kollegen leid, die eine andere Meinung als ich vertraten und ebenfalls diese Erfahrung machen mussten. 

Immerhin hat das internationale Wissenschaftssystem schnell und massiv auf die anhaltende Krise reagiert: So wurden bis August 2021 bereits 330.000 wissenschaftliche Arbeiten über COVID-19 veröffentlicht, an denen etwa eine Million verschiedene Autoren beteiligt waren. 

Ein großer Teil dieser Veröffentlichungen war von geringer Qualität und dabei nicht transparent. Selbst die besten Fachzeitschriften mit Peer-Review präsentierten Ergebnisse mit Bias und Verzerrungen. Das ist ungünstig, weil 98 der am häufigsten zitierten wissenschaftlichen Arbeiten in den Jahren 2020 und 2021 COVID-19 behandelten. In einigen Fällen kam es zu offenkundigem Betrug. Der Rückzug einer viel beachteten Hydroxychloroquin-Studie aus The Lancet ist nur ein Beispiel.

Mangelnde Transparenz und Offenheit sorgten etwa auch dafür, dass eine führende medizinische Fachzeitschrift einen Artikel veröffentlichte, zu dem angeblich 671 Krankenhäuser Daten beigesteuert hätten. Dass es diese Institute gar nicht gab und man es mit einer offenkundigen Fälschung zu tun hatte, bemerkte niemand vorab. Eine weitere führende medizinische Fachzeitschrift, das New England Journal of Medicine, druckte eine ähnliche Arbeit der gleichen betrügerischen Organisation ab. Doch immer noch zitieren Wissenschaftler fleißig diese Arbeiten, die schon lange zurückgezogen und widerlegt sind.

Morgen folgt an dieser Stelle Teil 2 des Interviews.

Das Gespräch führte Ernst Timur Diehn.

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