Wahlrechtsreform - „Die Veränderung würde einige deutlich vor Kopf stoßen“

Der Staatsrechtler Ulrich Battis kritisiert den Vorschlag der Ampel zur Wahlrechtsreform. Das Vorpreschen sei ein unfreundlicher Akt. Wenn Erststimmen-Sieger im Wahlkreis kein Mandat erlangen, sei das dem Bürger nur sehr schwer zu vermitteln. Zugleich müsse die Überkorrektheit des Bundesverfassungsgerichts eingedämmt werden. „Absolute Gerechtigkeit wird es im Wahlrecht nie geben“, sagt Battis.

Demnächst nur noch 598 statt 736 Abgeordnete? / dpa
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Autoreninfo

Volker Resing leitet das Ressort Berliner Republik bei Cicero. Er ist Spezialist für Kirchenfragen und für die Unionsparteien. Von ihm erschien im Herder-Verlag „Die Kanzlermaschine – Wie die CDU funktioniert“.

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Ulrich Battis ist Staatsrechtler und Rechtsanwalt. Bis zu seiner Emeritierung 2011 hat er an der Humboldt-Universität zu Berlin gelehrt. Im politischen Bereich ist er verschiedentlich gutachtlich tätig. 

Herr Battis, vor fast drei Jahren haben Sie einen Aufruf zur Verkleinerung des Bundestages mit unterzeichnet. Nun legen die Ampel-Fraktionen ihren Vorschlag vor. Erfüllt dieser den angedachten Zweck? 

Der Vorschlag erfüllt insofern den Zweck, als dass er den Auftakt zu ernsthaften Verhandlungen bietet. Nach meiner Auffassung ist das noch kein abgeschlossener Vorschlag, sondern nur ein erster Startpunkt, mehr nicht.

Kern des Vorschlages ist, dass ein Bundestagskandidat, der in seinem Wahlkreis die meisten Stimmen erhält, dennoch nicht als Abgeordneter ins Parlament einzieht. Das wäre doch ein massiver Einschnitt. Wie soll man das den Leuten erklären?

Zunächst ist der eigentliche Kern des Vorschlags, dass die Zahl der Abgeordneten der Zahl entspricht, die auch im Bundeswahlgesetz steht, also 598. Das bedeutet, so sieht es der Vorschlag: Nie wieder Überhangmandate und Ausgleichsmandate, damit der Bundestag nicht 736 Abgeordnete hat, wie derzeit, und die Arbeitsfähigkeit grundsätzlich gefährdet wird. Außerdem ist so ein aufgebähtes Parlament zu teuer. Und bei allem Respekt, es ist ja schön, dass jetzt mehr junge Abgeordnete im Parlament sitzen. Was man so in Interviews liest, kommt mir gelegentlich sehr naiv und unerfahren vor. So kann man kaum Politik machen. 

Aber wenn die Verkleinerung des Parlaments erkauft wird mit einer Entwertung der Erststimme, wie soll man das erklären?

Die nun vorgeschlagene Regelung setzt juristisch betrachtet zunächst nur einfach die Grundidee des Wahlrechts konsequent um. Wir haben grundsätzlich ein Verhältniswahlrecht und kein Mehrheitswahlrecht. Das bedeutet, für die Stärke der Parteien im Bundestag ist allein die Zweitstimme verantwortlich. Das verzerrende Element der Überhangmandate und Ausgleichmandate wird einfach weggenommen. Aber so eine Veränderung würde natürlich mit einer gewissen deutlichen Härte einigen ordentlich vor den Kopf stoßen. Es wäre denen schwer zu vermitteln, die in ihrem Wahlkreis die meisten Stimmen bekommen haben, die gewählt wurden, aber dann nicht in den Bundestag einziehen. Es wäre auch der Bevölkerung schwer zu erklären, dass ein Kandidat trotz Mehrheit raus fällt.

Wenn die Erststimme nur noch in einigen Fällen ausschlaggebend wäre, könnte man nicht gleich ganz auf sie verzichten und den Wahlkreisabgeordneten mit der Zweitstimme wählen? 

In der Tat wäre das auch eine interessante Möglichkeit. Wenn sie allerdings nur eine Stimme entscheiden lassen, landen sie fast unweigerlich bei einem Mehrheitswahlrecht, das in Deutschland keiner will. Denn dann würden mit der einen verbliebenen Stimme die Wahlkreisabgeordneten bestimmt, kleinere Parteien hätten dann keine Chance mehr. Das führt zu einer polarisierten politischen Situation, wie wir sie etwa aus Großbritannien kennen. Ich persönlich halte das auch nicht für richtig, weil es ganz großen Ungerechtigkeiten führt. 

Das sieht der Vorschlag aus den Ampel-Parteien auch noch eine dritte Stimme vor, was hat es damit auf sich? 

Das ist eine komplizierte Sache, ich glaube es ist eher ein Ablenkungsmanöver. Ich habe nicht den Eindruck, dass dafür bis zum Letzen gekämpft würde. 

Aber was ist die Idee dieser Drittstimme?

Ulrich Battis

Nehmen Sie etwa einen bayerischen Wahlkreis, wo der CSU-Kandidat mit 28 Prozent der Erststimmen den Wahlkreis gewonnen hat. Doch er erlangt das Mandat nicht, weil der CSU schon nach dem Verhältnis aus der Zweitstimme so viele Mandate mit besserem Erststimmenergebnis zugefallen sind, dass unser 28-Prozent-Mann rausfällt. Dann käme dem Modell zufolge die Drittstimme zum Tragen, bei der der Wähler einen anderen Wahlkreiskandidaten bestimmen kann, der dann quasi für den Erstplatzierten aus der Erststimme nachrücken würde. Da steckt viel Sprengstoff drin. Es ist kaum vorstellbar, dass so ein Vorschlag es ins Gesetz schafft. 

Tatsächlich kann aber die Ampel-Koalition auch gegen die Stimmen der Opposition das Wahlrecht mit einfacher Mehrheit ändern. Ist das sinnvoll?

Es wäre möglich, aber in der Tat nicht sinnvoll. Es gehört zur politischen Kultur in einer Demokratie, dass die zentrale Machtfrage, also das Wahlrecht, in breitem Konsens beschließt, also zusammen mit möglichst vielen und den wesentlichen Akteuren der Opposition. Aber man kann nicht ganz ausschließen, dass es dazu käme, denn Union und SPD konnten sich ja auch schon in der letzten Legislaturperiode nicht einigen. Das Vorgehen der Ampel ist jetzt zumindest dilettantisch. Wenn man sich freundlich einigen will, darf man nicht unfreundlich beginnen. Und das Vorpreschen mit dem nun vorliegenden Vorschlag ist ein unfreundlicher Akt gegenüber der Opposition. 

Welche verfassungsrechtlichen Bedenken könnte es bei der nun diskutierten Idee geben?

Die Lage ist äußerst kompliziert, weil das Bundesverfassungsgericht in den zurückliegenden Jahren zu viele Vorgaben aus der Verfassung abgeleitet hat. Das hat zu fast willkürlichen Rechtsprechungen in Karlsruhe geführt. Etwa was die Ausgleichsmandate angeht, dort hat das Gericht dann eine Zahl 15 aus der Luft gegriffen, um das Ausufern des Parlaments zu begrenzen. Doch ist keine konsistente Regelung entstanden. Hinter Wahlgesetzen stehen immer Machtfragen, die darf nicht das Gericht klären, sondern die muss das Parlament entscheiden. Man kann sagen, dass die Karlsruher Richter sich wie deutsche Ingenieure verhalten haben. Diese Übergenauigkeit ist für Ingenieure gut und richtig, für Verfassungsrichter ist sie eher schädlich. Absolute Gerechtigkeit wird es im Wahlrecht nie geben. Deswegen sollte man die strenge Karlsruher Kontrolle etwas zurücknehmen und dann eine einvernehmliche politische Lösung finden.

Wenn das Kernziel die Verkleinerung des Bundestages ist, wie ließe sich das am besten erreichen?

Eine Vergrößerung der Wahlkreise scheint mir auf jeden Fall der bessere Weg. Das ist dann für den Moment schmerzhaft, weil vielleicht einzelne Personen leer ausgehen. Aber auf die Dauer ist das kein Problem. Wahlkreise werden sowieso andauernd verändert, für den Bürger ist das viel besser nachzuvollziehen. Da könnte man jetzt einmal einen Schnitt machen und der würde auf absehbare Zeit wirken. Es gibt dann immer Gewinner und Verlierer, aber die gibt es bei jeder Reform. 

Noch einmal zum Ausgangspunkt. Stimmt es denn überhaupt die These, dass das Parlament zu groß ist? Warum sind viele Volksvertreter nicht besser als wenige, um die Demokratie sichtbar zu machen?

Nein, die These stimmt. Über 700 Abgeordnete sind zu viele, das sagen alle, da die Arbeitsfähigkeit an ihre Grenzen kommt. Wir haben in Deutschland ein Arbeitsparlament. Im Plenum werden die Gesetze nicht einfach nur abgeknickt, sondern in den Ausschüssen wird die eigentliche intensive Arbeit an den Gesetzen geleistet. Wenn sie aber dort mit zu vielen Leuten zusammen sitzen, die alle Rederecht haben und mitbestimmen wollen, dann kommen sie nur schwer zu einem guten Ergebnis. Deswegen ist eine Verkleinerung des Bundestages sinnvoll und dient auch der Demokratie. 

Das Gespräch führte Volker Resing.

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