Interview mit Hendrik Streeck - „Man muss sich die Frage stellen, ob jeder für eine Evaluation geeignet war"

Als Mitglied des Sachverständigenrats war Hendrik Streeck an der Evaluation der Corona-Maßnahmen beteiligt. Hier spricht er über Kritik und wissenschaftliche Ungenauigkeiten sowie über den kommenden Herbst und Winter.

Hendrik Streeck / Foto Peter Rigaud
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Autoreninfo

Ralf Hanselle ist stellvertretender Chefredakteur von Cicero. Im Verlag zu Klampen erschien von ihm zuletzt das Buch „Homo digitalis. Obdachlose im Cyberspace“.

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Hendrik Streeck zählt neben Christian Drosten zu den prominentesten Gesichtern der Covid-19-Pandemie. Der Bonner Virologe ist seit 2019 Drostens Nachfolger am Bonner Institut für Virologie. Streeck ist Mitglied des Corona-Expertenrats der Bundesregierung. Zudem war der 44-Jährige Mitglied im Sachverständigenrat zur Evaluierung der Corona-Maßnahmen.

Herr Streeck, am 1. Juli haben Sie den Abschlussbericht zur Evaluation der Corona-Maßnahmen vorgelegt. Nur ein paar Stunden später grübelten die Gesundheitsminister der Länder bereits unabhängig davon über den Corona-Fahrplan für den Herbst. Fragen Sie sich da als Wissenschaftler nicht manchmal, ob die Politik Ihre Fachexpertise wirklich haben und nutzen möchte?

Hendrik Streeck: Es war vorher bereits bekannt, dass der Zeitplan straff sein würde. Auch der Expertenrat, dem ich auch angehöre, hatte bereits ausführliche Vorschläge für den Herbst und Winter vorgelegt. Die Evaluation aber ist als ein kritischer Blick zurück gedacht. Dazu gehört auch darzustellen, welche Maßnahmen funktioniert haben und welche nicht.

Und doch geht es bei jedem Rückblick ja auch darum, für die Zukunft zu lernen. Wenn nun aber Bundesgesundheitsminister Karl Lauterbach (SPD) bereits im Vorfeld des Berichts gesagt hat, dass das Evaluationsergebnis kein Bremsklotz sein dürfe, dann ist doch klar, dass die wissenschaftliche Erkenntnis derzeit nicht die höchste Priorität hat, oder?

Ich denke, der Bundesgesundheitsminister hat das mit dem Bremsklotz anders gemeint. Es ging ihm darum, dass die einzelnen Bundesländer das Evaluationsergebnis nicht dafür nutzen sollen, um unterschiedliche Maßnahmen zu propagieren. Meines Erachtens nimmt Karl Lauterbach die Evaluation sehr ernst und legt den Bericht nicht einfach nur in die Schublade. Das wird für mich aus vielen Gesprächen deutlich, die ich dazu geführt habe.

Schon vor Erscheinen des Berichts hat es Kritik an der Zusammensetzung des Ausschusses gegeben – indirekt übrigens auch von namhaften Virologen sowie vonseiten der Politik. So hat man in den sozialen Medien unter anderem den für Christian Drosten nachgerückten Virologen Klaus Stöhr des Öfteren hart kritisiert. Wäre es bei all diesen Scharmützeln nicht besser gewesen, man hätte bei der Auswahl der 18 Sachverständigen auf mehr Konsens gesetzt?

Wir konnten uns nicht aussuchen, mit wem wir im Sachverständigenausschuss arbeiten. Wir hätten uns sicherlich alle eine Besetzung gewünscht, die zusätzliche Expertise möglich gemacht hätte. Auch wäre es gut gewesen, wenn der Prozess nicht durch ein Rein und Raus von Mitgliedern gestört worden wäre.

Woran hat es Ihrer Meinung nach gemangelt?

Was fehlte, waren Experten für Public Health, zudem Hygieniker, Statistiker und Epidemiologen. Man hätte vielleicht auch Wissenschaften mit einbeziehen müssen, an die man jetzt nicht sofort denkt: die Kinderpsychologie, die Pflegewissenschaften, die Erziehungswissenschaften. Stattdessen gab es zum Beispiel gleich sechs Juristen.

Im Infektionsschutzgesetz war sehr klar von einer unabhängigen Evaluation die Rede. Wie unabhängig war das denn am Ende?

Es ist nachvollziehbar, dass man die Frage stellt, ob jeder, der für den Ausschuss benannt wurde, für eine Evaluation auch wirklich geeignet war. Gerade wenn man zuvor auf Bundesebene an der Maßnahmenfindung beteiligt war, ist wirkliche Unabhängigkeit schwierig.

Wäre da nicht ausländischer Sachverstand zielführender gewesen?

Das weiß ich nicht. Auch im Ausland wurden Maßnahmen ergriffen und auch dort gibt es keine kontrafaktische Realität, die bessere Daten erzeugt hätte. Deutschland hat viele Experten, die sich trotz Fachexpertise bis dato weder öffentlich noch nichtöffentlich zur Pandemie geäußert haben. In dieser Hinsicht hätte man sicherlich weiter über den Tellerrand schauen können.

Jetzt jedenfalls liegt das Papier auf dem Tisch und hat für einigen Wirbel gesorgt. Hätten Sie das in dieser Form erwartet?

Es gab im Wesentlichen zwei Stoßrichtungen in der Diskussion: Auf der einen Seite haben viele die deutliche Kritik an der Datenverfügbarkeit in Deutschland in den Fokus genommen. Das ist richtig, und ich würde mir mehr Diskussion darüber wünschen, warum wir das bisher nicht hinbekommen haben – und vor allem wie wir es in Zukunft besser machen sollten. Auf der anderen Seite gab es aber auch viel nichtinhaltliche Kritik. Es ging dann eher darum, wie man zitiert hat oder wie die Kommission zusammengesetzt war. Zum Teil wurde in den Medien sogar mit Kontaktschuld und ähnlichen Angriffen ad hominem gearbeitet. Damit wollte man die Diskussion abwürgen. Das fand ich sehr interessant, da diese Angriffe eher von denen kamen, die härtere Maßnahmen verteidigt haben.

Das sagt vielleicht auch viel über den Zustand des Journalismus hierzulande aus; darüber, dass es in einigen Redaktionen nicht einmal Kapazitäten gibt, um einen 160 Seiten starken Bericht zu erfassen und zu analysieren.

Da gab es in der Tat große Unterschiede. Wenn man sich etwa am Tag der Veröffentlichung die Berichterstattung der Welt anschaut, dann findet man dort eine sehr ausführliche Analyse des Papiers. Die Süddeutsche Zeitung hingegen hat sinngemäß einfach nur gesagt: „Bringt nichts! Steht nichts drin! Ist schlecht!“ Ich denke, diese Qualitätsunterschiede haben auch viel mit Erwartungen zu tun – damit, was die Leute in dem Bericht lesen wollten. Dass wir aber keine Seite so richtig zufriedenstellen und keiner Seite recht geben würden, war uns bereits im Vorfeld klar. 

Jetzt sprachen Sie gerade schon über die mangelnde Datenverfügbarkeit, die an zahlreichen Stellen des Berichts moniert wurde. Wie genau ist die zu erklären – es hat ja von Anbeginn Kritiker gegeben, die auf genau diesen Datenmangel hingewiesen haben. Ist man da sehenden Auges in den Blindflug gegangen?

Ich weiß auch nicht, warum bestimmte Daten nicht hinreichend gesammelt worden sind. Das beruht auf Entscheidungen zwischen Bundesgesundheitsministerium und Robert-­Koch-Institut. Am Ende ist es in Deutschland das RKI, das diese Daten sammeln und zusammenführen muss. Warum das in dieser Form nicht geschehen ist, kann ich nicht beantworten.

Dabei ist die Kritik am RKI an einer Stelle des Evaluationsberichts massiv: Dort wird nämlich darauf hingewiesen, dass das RKI bereits weit vor der Pandemie die Wirksamkeit von sogenannten Non-pharmaceutical Interventions hätte untersuchen müssen.

Ja, so steht es auch in den damaligen Pandemieplänen.

Jetzt können wir lang und breit darüber klagen, dass diese Daten 2020 und 2021 nicht hinreichend erfasst wurden, aber vielleicht richten wir den Blick mal nach vorn: Wie ist aktuell die Situation? Werden wir, so gewünscht, das Jahr 2022 einmal besser evaluieren können?

Ich denke schon, zumal die letzte Stellungnahme des Expertenrats ja in eine ganz ähnliche Richtung ging. Mit diesem Papier im Rücken hat Karl Lauterbach bereits damit begonnen, viele Dinge umzusetzen: So wird etwa ein Echtzeitbild zu der Lage im Krankenhaus erstellt werden; dabei wird auch erfasst werden, ob jemand mit oder wegen Corona hospitalisiert worden ist. Zudem wird es ein Abwasser-Monitoring geben, mit dem man die Infektionszahlen besser erfassen kann.

Wie sieht es künftig mit Zufallsstichproben zum Infektionsgeschehen aus, mit denen man mehr Licht in die Frage der Dunkelziffer bringen könnte?

Daran arbeitet das RKI seit längerem. Solche Stichproben sollen ab 2023 möglich sein. Bis zu einem gewissen Grad lassen sich Datenlücken ja immer auch interpolieren. Dennoch heißt es im Evaluationsbericht, dass keine Simulation je eine gute Evaluation wird ersetzen können. Wie gut sind die Simulationen, die wir in den letzten zwei Jahren gesehen haben, also wirklich?
Das lässt sich pauschal nicht beantworten. Es gäbe da eine Königsdisziplin: die Vorhersage darüber, wann und unter welchen Bedingungen eine Welle bricht. Wenn man das modellieren und somit die Umkehr von Wellen und Kurven vorhersagen könnte, wäre man sicherlich einen großen Schritt weiter.

Kann man das nicht?

Beziehen Sie das nur einmal auf die Wirtschaft: Aktienhändler würden wohl längst Millionen verdienen, wenn sie genau vorhersagen könnten, wann eine Welle bricht und wann es einen Umschwung geben wird. Solche Prognosen sind auf den Tag genau einfach nicht möglich. Das ist auch nicht interpolierbar. Denken Sie an die Sommerwelle: Natürlich haben einige vor dieser Welle gewarnt: Dennoch haben derlei Vorhersagen eine 50/50-Chance. In den Sommern 2020 und 2021 ist auch eine schlimme Welle vorausgesagt worden. Die aber ist damals ausgeblieben.

Mit Prognosen ist es also in gewisser Weise wie mit Studien: Man begibt sich da auf ein sehr weites Feld mit vielen Ungewissheiten, zum Teil aber auch mit Überinformationen. 200 000 Studien soll es mittlerweile zu Corona geben. Führt das nicht am Ende dazu, dass jeder in seiner eigenen Corona-­Welt gefangen ist, weil er sich genau das heraussuchen kann, was zu seinem grundsätzlichen Interpretationsmodell passt?

Theoretisch stimmt das. Nehmen Sie nur einmal die Homeoffice-Pflicht: Zum Homeoffice gibt es weltweit gut 300 Studien. Alle beschäftigen sich mit den Nebeneffekten: mit häuslicher Gewalt, mit psychischer Belastung, mit Angststörungen et cetera. Es ist gut, dass man derlei Dinge erforscht hat. Keine mir bekannte Studie aber beschäftigt sich mit der eigentlichen Fragestellung: Nutzt Homeoffice etwas bei der Eindämmung des Infektionsgeschehens? Biologisch plausibel wäre es auf jeden Fall. Wir werden wohl erst in den nächsten Jahren dahin kommen, den sogenannten Publication Bias näher ins Visier zu nehmen.

Damit sprechen Sie ein interessantes Phänomen an, denn der Publication Bias belegt, dass Studien mit zu erwartendem oder gewünschtem Ergebnis eher und schneller publiziert werden als solche mit unerwünschtem Ergebnis. Ein Umstand, der im Extremfall dazu führen kann, dass Wissenschaft zu einem blinden und sich selbst bestätigenden System wird.

Ja. In der Zeit der großen Lockdowns etwa wurden von den bedeutenden Wissenschaftsjournalen viel häufiger Studien angenommen, die gezeigt haben, dass Lockdowns wirken. Und ich will hier nicht sagen, dass Lockdowns keinen Effekt haben, aber die Wissenschaft ist eben nicht vor verzerrenden Phänomenen gefeit. Dieser Bias zieht sich durch die gesamte Geschichte der Lebenswissenschaften. Ein bekanntes Beispiel ist die Entdeckung der B-Zellen: Ihr Entdecker konnte seine Forschungen damals nicht veröffentlichen. Am Ende publizierte er in einer Fachzeitschrift für Geflügel. Heute wissen wir, dass B-Zellen der zentrale Spieler des Immunsystems sind.

Reden wir also lieber über Dinge, die wir sicher wissen oder mit denen wir mit hoher Wahrscheinlichkeit rechnen müssen: die Herbst- und Winterwelle zum Beispiel. Welche Maßnahmen wird es für den kommenden Herbst noch brauchen?

Bei aller Gewissheit, die aktuelle Sommerwelle bringt auch hier eine Unsicherheit mit: Wir wissen im Moment nicht, wie die Immunität, die durch die aktuelle Welle aufgebaut wird, das Infektionsgeschehen im Winter beeinflussen wird. Vielleicht werden wir weniger Infektionen sehen. Dafür aber müssen wir mit einer zusätzlichen starken Grippewelle rechnen; das zeigen die Erfahrungen aus Australien und Neuseeland. Wenn wir also ein hohes Infektionsgeschehen in Innenräumen sehen werden, dann wäre es ratsam, hier mit Masken zu arbeiten. Solche Masken, auch das hat die Evaluation gezeigt, sind nicht perfekt. Wenn man aber darauf hinweist, wie man sie richtig trägt, können wir das Infektionsgeschehen reduzieren. Zusätzlich müssen wir auch mit Impfkampagnen bei vulnerablen Gruppen arbeiten. Sollte in den Krankenhäusern zudem noch einmal eine Überbelastung drohen, dann brauchen wir auch Testungen als Zugangsbeschränkungen.

Auf der anderen Seite – und damit möchte ich nicht fatalistisch klingen – müsste die Politik doch eigentlich eine unabwendbare Tatsache stärker in den Fokus rücken: Früher oder später wird jeder infiziert worden sein. 

Das habe ich ja von Anfang an gesagt: Wir müssen lernen, damit umzugehen, und müssen pragmatische Wege finden, um die zu schützen, die trotz Impfung eine Gefahr für einen schweren Verlauf haben. Es geht in dieser Phase der Pandemie also längst nicht mehr darum, Infektionen per se zu vermeiden. Es geht nicht um Containment, sondern darum, die vulnerablen Gruppen zu schützen.

Das Gespräch führte Ralf Hanselle.

Dieser Text stammt aus der August-Ausgabe des Cicero, die Sie ab nächster Woche am Kiosk oder direkt bei uns kaufen können.

 

 

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