RS-Viren - „Wir haben bei den Kindern Lebensjahre verloren“

Eine Sonderauswertung der Krankenkasse DAK-Gesundheit zeigt, dass im Winter 2022 fünfmal so viele Neugeborene wegen einer RSV-Infektion in Kliniken behandelt werden mussten wie vor Corona. Der Virologe Jonas Schmidt-Chanasit spricht im Interview über mögliche Schäden durch ineffiziente Corona-Maßnahmen.

Kleiner RSV-Patient auf der Intensivstation / dpa
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Autoreninfo

Ralf Hanselle ist stellvertretender Chefredakteur von Cicero. Im Verlag zu Klampen erschien von ihm zuletzt das Buch „Homo digitalis. Obdachlose im Cyberspace“.

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Professor Dr. Jonas Schmidt-Chanasit leitet den Lehrstuhl für Arbovirologie an der Universität Hamburg.

Herr Schmidt-Chanasit, am Donnerstag stellte die Krankenkasse DAK-Gesundheit eine Sonderanalyse vor, nach der die Zahl der Neugeborenen und Säuglinge, die im Winter 2022 wegen des RS-Virus in einer Klinik behandelt werden mussten, fünfmal höher gewesen sei als noch 2018. Wie ist das zu erklären?

Die Auswertung unterstreicht das, was zuvor bereits viele Pädiater bestätigt haben. Es gab im letzten Quartal 2022 eine ungewöhnlich hohe Krankheitslast durch RSV bei den unter Einjährigen.

Eine ungewöhnlich hohe Last ist noch harmlos formuliert. Die DAK spricht von einem Anstieg von 350 Prozent an Säuglingen, die auf Intensivstationen behandelt werden mussten.

In der Tat. Die Pädiater haben ja auch frühzeitig vor den  starken Belastungen, zum Teil auch Überlastungen der Kinderkliniken gewarnt. Darum war das absehbar, und die verantwortlichen Politiker hätten viel früher die Stärkung der Kinder- und Jugendmedizin in Deutschland zur Priorität machen müssen.

Inwiefern absehbar?

Weil das veränderte Verhalten der Menschen in der Corona-Pandemie und die nicht-pharmazeutischen Maßnahmen wahrscheinlich dazu geführt haben, dass das Infektionsgeschehen in der Gesamtbevölkerung bezüglich der durch RSV ausgelösten Atemwegserkrankung in den Jahren 2020 und 2021 geringer gewesen ist. Dadurch kam es dann nach der Lockerung von Maßnahmen Ende 2022 zu diesen Nachholeffekten, die dann in der Breite auf ein schlecht vorbereitetes Gesundheitssystem getroffen sind. Betroffen sind übrigens auch nicht nur die unter Einjährigen.

Die ja in der Tat noch nichts nachholen können, weil Sie im Winter 2021 oder 2020 noch gar nicht auf der Welt waren.

Richtig. Aber es ist ja so, dass wir die RSV-assoziierte Immunität in der Gesamtbevölkerung betrachten müssen. Und die ist mit großer Wahschelichkeit geringer geworden; und das wiederum erhöhte Ende 2022 den Infektionsdruck. Für gewöhnlich ist es so – das kennen wir von anderen Atemwegserkrankungen –, dass wir immer wieder unbemerkt Kontakt mit bestimmten Erregern haben und dass danach das Immunsystem eine Re-Infektion für einen gewissen Zeitraum verhindern kann. Dies aber ist diesmal durch die nicht-pharmazeutischen Maßnahmen beeinflusst worden, so dass aktuell in der Gesamtbevölkerung eben dieses starke Infektionsgeschehen zu beobachten ist.

Das heißt, es geht  nicht nur um die unter Einjährigen, die bei ja in der Tat RSV ein erhöhtes Risiko tragen, sondern es geht auch um all die infizierten Kindern und Jugendlichen, die jetzt noch zu der normalen Zahl oben drauf kommen?

Genau. In Normalzeiten, ohne die nicht-pharmazeutischen Maßnahmen, hätte der Infektionsdruck diese Gruppe wegen der höheren Grundimmunität weniger stark beeinflusst. Aber um das epidemiologisch ganz genau beschrieben zu können, müsste man sich die aktuellen Zahlen noch einmal tiefer und differenzierter anschauen. Man muss zum Beispiel auch auf die Bevölkerungsentwicklung schauen und einschätzen, wie viele Kinder in den letzten drei Jahren geboren wurden und wie viele für eine Infektion mit RSV noch empfänglich sind.

Was sind denn eigentlich RS-Viren, sogenannte Respiratorisch Synzytial Viren, genau?

Jonas Schmidt-Chanasit

RS-Viren sind RNA-Viren, die bei Säuglingen und Kleinkindern verbreitet sind und zu schweren Erkrankungen wie Bronchiolitis führen können. Das gilt natürlich besonders für Kinder mit Grunderkrankungen. Das RSV wird durch Tröpfcheninfektion übertragen und verursacht Symptome wie Fieber, Husten, laufende Nase, Keuchen und Atembeschwerden. Man kann sich mit RSV so wie mit anderen respiratorischen Viren auch, mehrmals infizieren. Es gibt also keine lebenslange Immunität, was dann eben dazu führt, dass die Viren auch jenseits der Gruppe der Kleinkinder zirkulieren und seltener auch bei älteren Kindern und Jugendlichen zu schweren Infektionen führen können. 

Gehen wir jetzt also einmal davon aus, dass Maßnahmen während der Corona-Krise dazu geführt haben, dass wir aktuelle diese hohe und in Teilen auch gefährliche Infektionswelle haben. Muss man dann nicht aber sagen, man hat die ganze Pandemie etwas unterkomplex betrachtet und gemangt?

Zum Teil war das in der Tat so. Das ist meiner Meinung nach auch ein Problem der Pandemie gewesen. Und das gilt ja nicht nur für den gesellschaftlichen Diskurs und nicht nur für das Feld der Politik. Das gilt vor allem und besonders für bestimmte Berater. Nur weil man etwa für eine bestimmte Maßnahme unter Laborbedingungen eine hohe Wirksamkeit nachweisen konnte, heißt das ja noch lange nicht, dass das auch auf Bevölkerungsebene so ist. Das betrifft zum Beispiel einen Teil der nicht-pharmazeutischen-Interventionen.

Interventionen also, die nicht unmittelbar auf der Gabe von Medikamenten beruhen – etwa Abstand, Masken, Schulschließungen ...

Oft wurde in diesen Bereichen die Modellierungen ohne die Unsicherheiten ausreichend zu berücksichtigen eins zu eins auf die Gesamtbevölkerung übertragen. Dabei gilt es viele andere Dinge zu berücksichtigen. Nehmen Sie nur die absolute Verengung in der politischen Kommunikation auf die Verhinderung von Corona-Toten. 

Karl Lauterbach sprach bei Markus Lanz jüngst von eine Million Menschen, die ohne Maßnahmen an Corona gestorben wären.

Diese Zahl ist aus wissenschaftlicher Sicht nicht nachvollziehbar. Wir müssen schließlich auch all die verlorenen Lebensjahre mit berücksichtigen, die etwa durch Schulschließungen entstanden sind oder entstehen werden. Man kann mit bestimmten nicht-pharmazeutischen Maßnahmen Todesfälle in der älteren Bevölkerungsgruppe verhindern und in derselben Zeit ganz viele Lebensjahre für Kinder und Jugendliche verlieren. Diese notwendige Diskussion um gewonnene und verlorene Lebensjahre habe ich so gut wie nie wahrgenommen.

Dabei sollten ja gerade Mediziner wissen, dass es keine Wirkung ohne Nebenwirkung gibt und das Nutzen und Schaden ins Verhältnis gesetzt werden müssen. Das bringt mich zurück zum RS-Virus: Wir haben vor wenigen Wochen eine intensive Debatte um die Cochrane-Metastudie zu den Masken gehabt. Was diese Studie, die über den Sinn von Masken  ein sehr verhaltenes Urteil spricht, noch gar nicht mit berücksichtigt, das sind die Kollateralschäden – wie aktuell eben die RSV-Welle. Oder sehe ich das falsch? 

In der Tat. Die Cochrane-Studie geht lediglich der Frage nach, ob es Studien gibt, die eine messbaren Wirksamkeit des Maske-Tragens auf Bevölkerungsebene zeigen können. Sie kommt zu dem Ergebnis, dass die eingeschlossenen Studien nicht zeigen können, das es eine Wirksamkeit auf Bevölkerungsebene gab. Was aber mögliche Nebenwirkungen der Maskenpflicht angeht, gibt es keine mir bisher bekannte Studie, die das untersucht hätte. Aber wenn ich auf der einen Seite ohnehin schon keine große Wirksamkeit auf Bevölkerungsbene erwarten kann dann werden auf der anderen Seite  höhere Kosten entstehen. Insofern ist es wichtig, die Maßnahmen mit der höchsten Effizienz einzusetzen. Das wurde in Deutschland leider zu wenig berücksichtigt.  

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